Ob eine Zahlungsverweigerung Griechenlands und anschließende Umschuldungsverhandlungen zu einem unerträglichen Erdbeben an den Finanzmärkten oder gar zu einer »Kernschmelze« des Systems führt, oder so geräuschlos wie der Bankrott der Gemeinden von Leukerbad verläuft, das hängt von der Funktionsweise der Finanzmärkte und dem Verhalten der Investoren ab.
Banken und Finanzinstitute haben im bestehenden System einen Anreiz, ihr Kreditpotential voll auszureizen und damit sehr hohe einseitige Investitionsrisiken einzugehen. Die Problematik, wonach private Investoren die Gewinne ihrer Transaktionen einstreichen, die Verluste aber im Rahmen staatlicher Hilfsaktionen auf den Steuerzahler abwälzen können, haben viele Beobachter beklagt. Hans-Werner Sinn hat diese Situation als Kasino-Kapitalismus bezeichnet145 – fairerweise muss man Kasinobesuchern zu Gute halten, dass sie im Gegensatz zu systemrelevanten Banken ihre Verluste selbst tragen müssen. Der Regulierungsexperte der englischen Zentralbank, Andrew Haldane, spricht vom »doom loop« – einer Art Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.146
Im Finanzmarktkasino setzen die großen Finanzinstitute ihr Geld (und eben auch das Geld Anderer) auf eine Karte. Mögliche Gewinne aus den eingegangenen Risiken streichen sie ein. Bei Verlusten können sie darauf vertrauen, dass ihnen vom Staat geholfen wird. Zentralbanken und Staaten greifen ihnen unter die Arme, wenn die Wette nicht aufgegangen ist. Diese Institute rechnen auch damit, dass alle anderen Institute sich so ähnlich verhalten. Riesige, teilweise kreditfinanzierte Engagements in Hypothekenpapieren schlechter Bonität (»subprime«) in den Portfolios vieler Großbanken waren so ein Beispiel. Großengagements in Griechenlandanleihen, welche wiederum mitunter mit geliehenem Geld finanziert, wären ein anderes. In einem Umfeld, in dem sich alle Finanzinstitute so verhalten, kann man darauf vertrauen, dass die Zentralbanken und die Staaten einspringen, wenn die Dinge schiefgehen. Würden sie nicht helfen, käme es angesichts der riesigen Verluste zum Systemzusammenbruch. Denn Banken bieten für die Volkswirtschaft existenzielle Dienstleistungen wie Kredite und Zahlungsverkehr an und sind dadurch mit anderen Sektoren eng verflochten. Auf diese Weise kann sich ein Bankencrash leicht zu einer gesamtwirtschaftlichen Krise auswachsen. Und die möchte die Politik vermeiden.
In diesem Umfeld wäre ein einzelnes Institut schlecht beraten, wenn es sich an diesen riskanten Aktivitäten nicht beteiligen würde. Das ist eines der zentralen Charakteristika der Finanzmarktwelt, wie wir sie heute beobachten. In dieser Welt gehen Finanzinstitute in ihren Portfolios milliardenschwere riskante Engagements ein und beteiligen sich mitunter mit ihrem gesamten Eigenkapital oder mit noch mehr an jeder neuen Spekulationsblase. Das einzige Risiko für ein Institut besteht dann nur noch darin, möglicherweise nicht bedeutend genug zu sein, um als systemrelevant eingestuft und bei einer Schieflage entsprechend gerettet zu werden. Es gilt das Prinzip »Too big to fail« – wer zu groß geworden ist, um unterzugehen, der hat eine Lizenz zur Teilnahme im Finanzmarktkasino.
Die (unausgesprochenen) Staatsgarantien begünstigen das Finanzmarktkasino sogar noch: denn dadurch können sich die Banken zu billigen Konditionen Geld leihen. Weil der Käufer von Bankanleihen davon ausgehen kann, dass im Zweifel der Staat einspringt, stellt er den Instituten bereitwillig Kapital zur Verfügung, mit dem dann gewettet werden kann.
Der ehemalige Vorstand der Citigroup, Chuck Prince, hat das Prinzip des Finanzmarktkasinos, das alle Spieler einem Gruppendruck unterwirft, einmal treffend beschrieben. Kurz vor dem Ausbruch der Finanzkrise im Juli 2007 gab er der Financial Times zu Protokoll: »Wenn die Musik aufhört, wird es in Bezug auf die Liquidität schwierig werden. Aber solange die Musik spielt, muss man aufstehen und mittanzen. Wir tanzen noch.«147 Zu diesem Zeitpunkt muss sich Prince bei seinem Tänzchen bereits unwohl gefühlt haben. Schon einen Monat zuvor soll er sich beim damaligen amerikanischen Finanzminister Henry M. Paulson für eine härtere Regulierung der Finanzbranche ausgesprochen haben. »Kannst Du nicht irgendetwas tun, damit wir nicht mehr gezwungen sind, die ganzen Risiken einzugehen?«, zitiert Paulson den Ex-Citigroup-Chef in seinen Memoiren zur Finanzkrise. Prince soll am 26. Juni 2007, während eines Dinners in den heiligen Hallen der New York Federal Reserve, der New Yorker Niederlassung der amerikanischen Zentralbank, darüber geklagt haben, dass wegen des harten Konkurrenzkampfes um Köpfe, Kurse und Renditen die Institute immer höhere Risiken eingehen müssen. Paulson solle doch endlich einschreiten und den Systemfehler abschalten.148
Wie das Finanzmarktkasino geschlossen wird, ist eine spannende Frage. Sie steht nicht nur wegen der Staatsschuldenkrise auf der Tagesordnung. Für viele Nationen ist der Finanzsektor zu einer existenziellen Bedrohung geworden, weil die einheimischen Institute eine gigantische Größe erreicht haben, die die eigene Volkswirtschaft um ein Vielfaches übersteigt – Island und Irland sind Beispiele dafür. Beide Länder wären ohne internationale Hilfe durch den IWF beziehungsweise die Eurozone von ihren strauchelnden Kreditinstituten mit in den Abgrund gerissen worden.149
Außerdem haben faktische Staatsgarantien seit Ausbruch der Finanzkrise die Notwendigkeit von Reformen noch dringlicher gemacht. Und so suchen insbesondere Länder mit einem überproportional großen Finanzsektor nach Wegen, wie das Bankwesen intelligenter reguliert werden kann, so dass Steuerzahler bei Schieflagen der Institute künftig nicht mit teuren Rettungspaketen einspringen müssen, gleichzeitig aber die Realwirtschaft möglichst wenig tangiert wird. Schließlich nehmen die Finanzinstitute durch die Verteilung von Kapital eine wichtige Schlüsselstellung in jeder Ökonomie ein. Wird die Wirtschaft nicht ausreichend mit Geld versorgt, kann eine solche Kreditklemme das Wachstum abwürgen. In Großbritannien hat die nach ihrem Vorsitzenden benannte Vickers-Kommission auf 363 Seiten konkrete Vorschläge unterbreitet, das »Finanzsystem robuster zu gestalten und Risiken von der öffentlichen Hand zu nehmen«.150
Die Schweiz hat mit dem »Too-big-to-fail-Gesetz« bereits die Schraube bei systemrelevanten Instituten angezogen. Großbanken, die zu groß sind, um sie in Konkurs gehen zu lassen (»too big to fail«), müssen eine Eigenkapitalquote von bis zu 19 Prozent ausweisen. Neun Prozent davon können die Institute in Form von Pflichtwandelanleihen, sogenannten CoCo-Bonds, halten, die im Krisenfall bei der Unterschreitung kritischer Kernkapitalquoten in Eigenkapital umgewandelt werden. Der Risiko-Puffer ist nicht fix. Die Schweizer Finanzmarktaufsicht (Finma) muss die Anforderungen an die Eigenkapitaldecke von systemrelevanten Banken senken, wenn diese ihre Risiken senken.151 Auf diese Weise entstehen natürliche Anreize zu schrumpfen. Außerdem werden die Halter der CoCo-Bonds Druck auf das Management ausüben, sich vom Finanzmarktkasino fernzuhalten, weil sie sonst in Aktien ausgezahlt werden. Auch die Aktionäre haben kein Interesse an überhöhten Risiken. Werden nämlich die CoCo-Bonds in Aktienkapital umgewandelt, kommt dies quasi einer Enteignung der Aktionäre gleich, schließlich werden die Halter der Pflichtwandelanleihe zu Miteigentümern.
Die wirksamsten Politikvorschläge zielen somit direkt darauf ab, Anreize der Eigentümer von Banken zu verändern. Zu den Maßnahmen gehören die Größenbegrenzung für einzelne Bankinstitute, höhere Eigenkapitalanforderungen – wie in der Schweiz beschlossen –, die Abschirmung des Privatkundeneinlagegeschäfts von möglichen Bankenpleiten und Möglichkeiten der Regulierungsbehörden, sich bei entstehenden Schieflagen frühzeitig ins operative Geschäft einzumischen, bis hin zur Möglichkeit der Verstaatlichung, wenn bestimmte Sicherheitsgrenzen unterschritten werden. Die wichtigste dieser Maßnahmen ist eine drastische Erhöhung der Eigenkapitalanforderungen. Durch hinreichend hohe Eigenkapitalanforderungen kann man sicherstellen, dass Banken nicht das Geld der Steuerzahler in Gefahr bringen, sondern die Aktionäre Verluste praktisch vollständig mit Eigenkapital abdecken müssen. Die neue Bankenregulierung mit dem Namen Basel III schreibt den Banken bis zum Ende des Jahrzehnts eine Verfünffachung der Eigenkapitalquote, also des Risikopuffers, auf rund zehn Prozent vor. Vielen Beobachtern geht diese Maßnahme nicht weit genug. Nach Berechnungen des Regulierungsexperten der englischen Zentralbank, Andrew Haldane, ist Banken bei einer solchen Eigenkapitalquote von zehn Prozent immer noch ein Kredithebel von 25 möglich. Bereits ein vergleichsweise geringer Wertverlust bei den Bankenassets um vier Prozent würde also den gesamten Risikopuffer aufzehren.152
Großbritanniens Bankenregulierer setzen daher neben der höheren Eigenkapitalquote auf eine Trennung von riskanten Investmentbanking-Aktivitäten vom normalen Bank- und Kredit-Geschäft. Sollte dann die Kasino-Bank straucheln, müsste kein Steuerzahlergeld eingesetzt werden, weil ja das Geld der privaten Sparer nicht mehr aufs Spiel gesetzt werden darf.153
Die Bankenbranche reagiert auf entsprechende Forderungen in der Regel mit dem Argument, es blieben dann nicht genügend Mittel für die Kreditvergabe an den Unternehmenssektor. Das Argument dürfte eher ein vorgeschobenes sein, mit dem die Banken das Finanzkasino geöffnet halten wollen, um weiterhin ein Geschäft zu Lasten des Steuerzahlers zu betreiben. Die Kapitalmarkttheorie liefert jedenfalls gute Gründe darauf zu vertrauen, dass die allgemeinen Eigenkapitalanforderungen wenig Einfluss auf das Kreditvergabegeschäft der Banken haben sollten. Ebenso ist es eher unwahrscheinlich, dass die Abtrennung des Investmentgeschäfts dazu führt, dass es nicht mehr genügend Geld für Unternehmenskredite gibt.
Bemerkenswert ist auch, dass sich das unsolide Wettverhalten der Finanzinstitute genauso gegenseitig verstärkt, wie sich das vorsichtige, und sorgfältig diversifizierende Anlageverhalten der einzelnen Akteure in »gesunden« Finanzmärkten gegenseitig stabilisiert. Ist der Übergang zu einem System ohne Finanzmarktkasino also erst einmal geglückt, gibt es Kräfte, die diese Situation untermauern. In einer vernünftigen Finanzwelt würden Banken, ihre Eigentümer und ihre Manager glauben, dass ihnen im Verlustfall keine Regierung und keine Zentralbank helfen. Dann wäre die Bank in ihren Investitionsentscheidungen wohl vorsichtiger. Sie würde nicht mit riesigem Kredithebel auf bestimmte Entwicklungen setzen. Sie würde getreu dem Motto, nicht alle Eier in nur einen Korb zu legen, ihre Investitionen breit streuen. Einseitige große Risikopositionen würde Sie meiden. Und Spekulationsblasen wahrscheinlich auch.
Aber warum sollen die Banken glauben, dass der Staat und die Zentralbanken im Zweifel nicht helfen? Wie kann sich so eine Ansicht durchsetzen? Weshalb sollte sie glaubhaft sein? Nehmen wir dazu einmal an, dass die überwiegende Anzahl von Banken tatsächlich der Anlagestrategie eines konservativen Bankiers folgt und ihre Investitionen auf möglichst viele unterschiedliche Anlagen verteilt. Wenn eine große Bank davon ausgeht, dass alle anderen Banken ihre Investitionen in dieser Weise gut absichern und keine einseitigen Großrisiken eingehen, dann verändern sich die Anreize für diese Bank. Sie kann sich ausrechnen, dass auch ihr nicht geholfen wird, wenn sie in die Schieflage gerät. Denn da die anderen Banken gut und sicher aufgestellt sind, führt der Konkurs einer einzelnen Bank nicht zu einem Systemkollaps. Wenn dieser Bank aber nicht geholfen wird, dann lohnt sich auch für diese Bank das Eingehen großer Wetten nicht mehr. Sie ist stattdessen gut beraten, ebenfalls eine konservative Anlagestrategie zu wählen und ihre Portfoliorisiken zu minimieren. In einer Welt, in der alle anderen nicht wetten, hat auch jede einzelne Bank keinen Anreiz mehr, riskante Wetten einzugehen.
Wenn wir eine solche »gesunde« Welt der Finanzmärkte erreichen, dann verändert sich auch die Systemrelevanz von Staaten der Größe Griechenlands: In einer gesunden Finanzwelt haben alle Investoren ihre Risiken breit gestreut. Griechenlands Staatsschulden haben am Weltkapitalmarkt einen Anteil in der Größenordnung von unter 0,3 Prozent.154 In Bezug auf die Staatsschuld der USA von gut 11 000 Milliarden Euro hat Griechenland mit gut 350 Milliarden Euro einen Größenanteil von unter drei Prozent. Wenn Investoren also ihre Risiken breit über unterschiedliche Länder und verschiedene Formen von Kapitalvermögen streuen würden, hätte wohl kaum jemand in seinem Portfolio mehr als ein Prozent Griechenlandanleihen. Sollte in dieser Situation Griechenland seine Zahlungen verweigern und in Umschuldungsverhandlungen eintreten, würde dadurch kaum ein Investor ruiniert werden.
In einer »gesunden« Finanzwelt wird es weiter Krisen geben. Wie der Historiker Werner Plumpe einmal treffend formuliert hat, gehören »Wirtschaftskrisen zum Kapitalismus wie Gewitter zu einem heißen Sommertag«.155 Und es wird weiter einzelne Institute geben, die durch falsche Wetten ins Straucheln geraten und sei es durch kriminelle Milliardenverluste einzelner Händler.156 In einer »gesunden« Finanzwelt würden Banken und deren Anteilseigner eingegangene Risiken aber selbst tragen müssen, und wären Staaten von der Größe Griechenlands also nicht systemrelevant. Jedenfalls nicht, was die Finanzmärkte betrifft. In einer Welt, in der solche Staaten nicht systemrelevant sind, fällt der wichtigste Grund weg, weshalb man den Zahlungsausfall solcher Staaten durch zwischenstaatliche Hilfen und Rettungsschirme vermeiden möchte. Die »No-bailout-Klausel«, so wie sie der Artikel 125 AEUV vorsieht, wird dann schon erheblich glaubwürdiger.