Seit der Finanzkrise des Jahres 2008 und der anschließenden schweren Wirtschaftskrise haben Staatseingriffe an Popularität gewonnen. Frei nach dem Motto »Es ist besser, Schulden zu vererben als einen Scherbenhaufen« setzen sich selbst Wirtschaftswissenschaftler, die in der Vergangenheit nicht als Freunde der staatsschuldenfinanzierten Nachfrageförderung aufgefallen sind, für konjunkturpolitische Eingriffe ein.170 Der Sachverständigenrat hat die Richtung des konjunkturpolitischen Handelns der Bundesregierung in der schweren Wirtschaftskrise als adäquat eingeschätzt.171 Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat sich zu Beginn der Krise dafür ausgesprochen, mit fiskalischen Impulsen über die eben beschriebenen automatischen passiven Stabilisatoren hinauszugehen.172 Allein der Staat schien sozusagen als »spender of last resort« in der Lage, eine wirtschaftliche Depression oder einen Zusammenbruch des Bankensystems abzuwenden. Die Bankenrettungsfonds im Jahr 2008 beiderseits des Atlantiks, SoFFin in Deutschland oder TARP in den USA, werden als Beleg für diese Art der Staatsverschuldung angeführt.173
Nun ging es im Abschwung nicht allein darum, die Steuersätze stabil zu halten. Vielmehr sollen Abgaben sogar eher noch gesenkt werden, um Vitalkräfte einer Ökonomie wieder zu wecken. Hochschnellende Staatsdefizite werden dabei billigend in Kauf genommen.
Diese Form der Politik geht auf die Ideen von John Maynard Keynes zurück.174 In seinem 1936 erschienenen Hauptwerk, der »Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes«, hatte er die Ursachen der Großen Depression der dreißiger Jahre untersucht und Aufsehen erregende Lösungskonzepte jenseits des damals herrschenden ökonomischen Paradigmas entwickelt. Entgegen der klassischen Lehre, so Keynes, würden die Märkte in wirtschaftlichen Extremsituationen wie der Weltwirtschaftskrise keineswegs von sich aus und allein durch eine rasche Anpassung von fallenden Löhnen und Preisen wieder zu Vollbeschäftigung zurückfinden. Seine Theorie sah den Staat in der Pflicht, einen Nachfragemangel der privaten Haushalte und Unternehmen durch kreditfinanzierte Staatsausgaben auszugleichen. Die staatliche Nachfrage sollte dafür sorgen, dass sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage dem Produktionspotential annähert, also der Menge von Gütern und Dienstleistungen, die bei Vollbeschäftigung produziert werden können.
Von kreditfinanzierten Staatsausgaben wird im Rahmen dieser Überlegungen erhofft, dass durch sie das Volkseinkommen um mehr als die kreditfinanzierten Staatsausgaben wächst. So könnte jeder staatlich eingesetzte Euro die Gesamtwirtschaft um mehr als einen Euro ankurbeln. Unterschiedliche Wirkungsketten sollen dafür verantwortlich sein. Durch eine kreditfinanzierte Ausweitung der öffentlichen Hand wird in einer Unterbeschäftigungssituation zusätzliche Nachfrage mobilisiert, die Einkommen schafft, weitere Nachfrage generiert und so weiter.175
Bis heute streiten sich Ökonomen über die Wirkungen der staatlichen Konjunkturpakete in der Finanzkrise. Dutzende von Studien gibt es, und sie kommen teilweise zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen. Befürworter von Staatseingriffen wie der Nobelpreisträger Paul Krugman oder die Professorin und Wirtschaftsberaterin des US-Präsidenten Obama, Christina Romer, gehen davon aus, dass ein Euro schuldenfinanzierter Staatsausgaben das Volkseinkommen um deutlich mehr als einen Euro, nämlich um zwischen 1,5 und 1,6 Euro erhöht.176 Kritiker wie der Harvard-Ökonom Robert Barro oder die Frankfurter Ökonomen Tobias Cwik und Volker Wieland haben dagegen Zweifel an der Wirksamkeit staatlicher Ausgabenprogramme auf Pump.177 Barros Berechnungen zufolge liegt der Faktor zwischen 0,6 und 0,7. Die Wirtschaftsakteure könnten voraussehen, so Barros Überlegungen, dass die schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme nur von kurzer Dauer sind und später sogar höhere Steuern drohen. Das kann sich negativ auf ihr Konsumverhalten auswirken und die gewünschte Wirkung kreditfinanzierter Staatsausgaben dämpfen. Diese Kontroverse der Makroökonomen wirkt gelegentlich wie ein Glaubenskrieg, und ein Sieg der einen oder anderen Seite ist nicht abzusehen.
Einen entscheidenden Haken haben all die möglichen Gründe für eine sinnvolle Nutzung von Staatsverschuldung, wenn man damit die Staatsschuldenentwicklung der vergangenen fünfzig Jahre erklären möchte. Das Pay-as-you-use-Prinzip zur Finanzierung von Investitionen lässt sich nicht als Begründung für den laufenden Schuldenanstieg in Deutschland anführen. Deutschland befand sich in den vergangenen dreißig Jahren nicht in einem Stadium wie nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die staatlichen Nettoinvestitionen hoch waren. Deutschland ist eher in einem Reifestadium, in dem die laufenden Abschreibungen auf frühere öffentliche Investitionen riesig und die Nettoinvestitionen nicht unbedingt positiv sind. Eine Verschuldung, die den Nettoinvestitionen gefolgt wäre, hätte deshalb ein anderes Muster. Die Verschuldung hätte in den Gründerjahren der Bundesrepublik besonders hoch sein müssen. Die Schuldenzunahme hätte in den vergangenen zwanzig Jahren aber mindestens abflachen müssen, vielleicht hätte der Schuldenbestand sogar zurückgeführt werden müssen. Das Gegenteil ist der Fall.
Das Konjunkturglättungsargument taugt noch weniger. Es könnte eine seit fünfzig Jahren ansteigende Schuldenquote nur erklären, wenn Deutschland seit fünfzig Jahren ein einziges andauerndes Konjunkturtal durchschreiten würde. Glaubt man schließlich an die Keynes’sche Theorie der »Globalsteuerung«, erklärt diese auch eher Schwankungen im Staatsvermögen als einen fünfzig Jahre währenden Trend. Das Bedürfnis, die Kosten von großen Schadenereignissen einer ganzen Generation auf viele Generationen zu verlagern, taugt ebenfalls nicht. Seit 1945 erlebt Deutschland eine der längsten Friedensperioden überhaupt. Die deutsche Wiedervereinigung mag ein erheblicher Schock gewesen sein, und die zusätzlichen Schulden in den Jahren nach der Wiedervereinigung mögen im Einklang mit solchen Versicherungsüberlegungen und Generationengerechtigkeit stehen. Die Entwicklungen in den übrigen Jahrzehnten nach 1950 finden so aber keine Erklärung. Das lässt den Schluss zu: Diese wirtschaftstheoretischen Gründe sind nicht die tatsächlichen Gründe für den langfristigen Anstieg der Staatsverschuldung. Die wahren Gründe für das Anwachsen der Staatsschuld sind im politischen Prozess zu suchen.