Peer Steinbrück übernimmt das Amt des Bundesfinanzministers im Spätherbst 2005. In dieser Zeit setzt bereits eine wirtschaftliche Erholung ein, die die meisten Konjunkturexperten aber noch nicht erkennen. Die Bundesrepublik ist zu diesem Zeitpunkt »Dauersünder«, was die Verletzung des Defizitkriteriums aus dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt angeht. Auch für das Jahr 2006 wird eine Verletzung des Drei-Prozent-Kriteriums erwartet. In seiner ersten Rede als Bundesfinanzminister im Deutschen Bundestag am 1. Dezember 2005 formuliert er ein für den damaligen Zeitpunkt durchaus ehrgeiziges Ziel:
»Die Bundesregierung hat ein ausgewogenes und aufeinander abgestimmtes Maßnahmenpaket in der, wie ich glaube, richtigen Schrittfolge vorgelegt. Wir wollen 2006 Rückenwind organisieren. Wir wollen 2007 das Maastrichtkriterium hinsichtlich der Verschuldung und auch die Regelgrenze des Artikels 115 Grundgesetz einhalten. Das wird uns erhebliche Anstrengungen abverlangen.
Ich kündige hiermit noch einmal an, dass die Einhaltung des Maastrichtkriteriums von 3 Prozent im Jahre 2007 auch mit Blick auf die europapolitische Aufstellung der Bundesrepublik Deutschland von einer erheblichen Bedeutung sein wird.«188
Wir erinnern uns: 2006 sollte nach den Worten von Steinbrücks Vorgänger das historische Jahr sein, in dem Deutschland erstmals seit Jahrzehnten ohne Nettoneuverschuldung auskommt. In seiner Rede am 5. September 2006 anlässlich der Einbringung des Entwurfs des Bundeshaushalts 2007 im Deutschen Bundestag kann Finanzminister Steinbrück zwar nicht auf ein solches historisches Ereignis verweisen. Er hat dennoch Anlass zur Freude. Die Konjunktur hat deutlich Fahrt aufgenommen. Seit vielen Jahren ist sein Haushalt für 2007 der erste Haushalt, der verspricht, nicht die Defizitgrenze des Maastricht-Vertrags zu verletzen. Mit Verve kämpft der Minister für einen Kurs der Konsolidierung, und mit Worten, die durchaus vertraut klingen:
»Wir schulden unseren Kindern und Enkeln jede Anstrengung für tragfähige, solide und verlässliche öffentliche Finanzen. Wir wissen, was auf unsere Kinder und Enkelkinder zukommt. Auch in dieser Hinsicht wäre es im Augenblick falsch, die Tatsache zu ignorieren, dass wir 1500 Milliarden Euro Schulden mit uns herumschleppen. Wie sollten wir unseren Kindern in zehn oder 20 Jahren erklären, dass wir dies alles im Jahre 2006 zwar wussten, dass es uns aber egal war und dass wir noch nicht einmal unter den günstigeren Bedingungen eines Aufschwungs die Kraft hatten, die Wünsche der gegenwärtig in der Verantwortung stehenden Generation gegen die berechtigten Zukunftsinteressen unserer Kinder und Enkelkinder gegebenenfalls zurückzuweisen?«189
Am 11. September 2007 ist der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland noch intakt und ungebrochen. Und wie man im Nachhinein weiß, ist er sogar gerade auf seinem Zenit. In seiner Rede vom 11. September 2007 zur Einbringung des Bundeshaushaltsplans 2008 sowie des Finanzplans des Bundes 2007 bis 2011 in den Deutschen Bundestag formuliert Steinbrück voller Zuversicht ein sehr ehrgeiziges Ziel, das zugleich sehr vertraut klingt:
»Meine Damen und Herren, die Bundesregierung legt einen Finanzplan vor, mit dem wir auf der Ebene des Bundes spätestens im Jahre 2011 erstmals seit 40 Jahren realistisch einen ausgeglichenen Haushalt erreichen werden.«190
Am Rande sei notiert: Seit vierzig Jahren gibt der Bund Jahr für Jahr mehr Geld aus, als er durch Steuern und Abgaben einnimmt. Dass es 2011 also einmal solide zugehen soll, wäre insofern wirklich Grund zum Feiern.
Bereits unter dem Eindruck der Finanzkrise, aber nur Tage vor der Beinahe-Kernschmelze des Weltfinanzsystems sagt Steinbrück in seiner Rede »Keine Schulden. Alle Chancen« anlässlich der ersten Lesung des Bundeshaushalts 2009 am 16. September 2008:
»Ich freue mich deshalb, dass der vorliegende Entwurf des Haushalts 2009 und der Finanzplan bis 2012 unsere gemeinsame und erfolgreiche Finanzpolitik der letzten Jahre seit Gründung der Großen Koalition fortsetzen und widerspiegeln. Das wichtige finanzpolitische Ziel der Großen Koalition, ab 2011 keine neuen Schulden mehr zu machen, rückt damit in greifbare Nähe.
2009 sinkt die Nettokreditaufnahme mit 10,5 Milliarden Euro auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. 2010 wird sie mit 6 Milliarden Euro auf dem niedrigsten Stand seit 1974 liegen. 2011 soll der Haushalt ohne neue Schulden auskommen, und 2010 soll das strukturelle Defizit – das heißt, unter Herausrechnung von Einmaleffekten – auf Null sinken.«191
Die Rede kulminiert in den Schlussbemerkungen:
»Es erfüllt mich deshalb mit einer gewissen Genugtuung, dass die Bundesregierung den Kurs, ab 2011 keine neuen Schulden mehr aufzunehmen, bestätigt und fortsetzt. Das ist die einzige Null, auf die wir in dieser Großen Koalition gemeinsam stolz sein sollten.«192
Gut zwei Monate später klingt der Bundesminister verändert:
»Bei einer Haushaltsrede in dieser Zeit muss aufgrund der geänderten Situation natürlich an den Anfang gestellt werden: Ja, die Weltwirtschaft ist auf einer Talfahrt. Ja, die Bundesrepublik Deutschland ist in einer Rezession [fett im Originaltext]. Es wäre nicht mehr eine zutreffende Feststellung, zu sagen, dass wir in einer Stagnation sind. Dass die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich mitgeschüttelt wird, ist kein Wunder.193 […]
Ich sage freimütig: Dies bedeutet nicht die Aufgabe des Konsolidierungsziels; keineswegs. Wir werden dies auf der Zeitachse aber neu justieren müssen. Das bedeutet, dass wir bis zum Jahr 2011 keinen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung erreichen können, es sei denn, dass es in den nächsten zwei Jahren eine wundervolle Entwicklung gibt. Ich will aber sehr deutlich machen: Wir bleiben bei diesem wichtigen und richtigen Ziel, und sei es aus Gründen der Generationengerechtigkeit.«194
In diesen Fallbeispielen zeichnet sich ein politisches Verhaltensmuster ab, das augenscheinlich nicht abhängig ist von der parteipolitischen Konstellation der Regierung. Der Finanzminister tritt für Konsolidierung ein. Die jeweiligen mittelfristigen finanzpolitischen Ziele der gesamten Regierung hängen dabei von der gerade herrschenden Konjunkturlage ab. Ist die Konjunkturlage gut, rückt eine Verringerung der Nettokreditaufnahme in greifbare Nähe. Sogar ein ausgeglichener Haushalt erscheint in der mittelfristigen Finanzplanung möglich. Die Verschlechterung der Konjunkturlage rückt das Ziel dann in die weitere Ferne. Bei dieser rollierenden Planung steigt die Staatsverschuldung beständig an.
Wird die Politik immer aufs Neue und völlig unerwartet von schrecklichen Nachrichten über eine konjunkturelle Abkühlung überrascht? Zugegeben, die Kosten der deutschen Wiedervereinigung, das Konjunkturtal der frühen neunziger Jahre, das Aufwachen aus dem Traum der Internet-Ökonomie, der Terroranschlag vom 11. September 2001 und zuletzt das Beinahe-Zusammenbrechen des Finanzmarktsystems unmittelbar nach der Insolvenz von Lehman Brothers, das sind für sich genommen historisch singuläre Ereignisse. Solche Ereignisse zu prognostizieren, ist wohl kaum möglich. Aber dass es immer wieder schlechte Nachrichten gibt, so viel lässt sich vielleicht doch daraus lernen.
Man kann auch daran zweifeln, dass es diese singulären Ereignisse waren, die das konjunkturelle Stimmungsbarometer haben fallen lassen. Die Konjunktur zeigte bereits vor dem Terroranschlag des 11. September 2001 klare Anzeichen einer Abkühlung. Ähnliches gilt für das Zusammenfallen von Finanzkrise und Konjunkturabschwung. Man kann wohl vermuten, dass die Regierung auch ohne die Finanzmarktturbulenzen durch eine ganz normale Abkühlung der Konjunktur am Ziel eines ausgeglichenen Haushalts 2011 mit großer Wahrscheinlichkeit vorbeigeschrammt wäre.
Es ist nicht leicht zu erkennen, wann ein Aufschwung beginnt und wann er endet. Die Konjunktur- und Wachstumsprognosen gehören nicht zu den Stärken der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin. Wissenschaft und Politik erkennen den Aufschwung oft erst, wenn er fast zu Ende ist. Am 23. Februar 1999 beispielsweise, als der Konjunkturzyklus in Deutschland wohl gerade einen Gipfel kurz überschritten hatte, sagte der damalige Finanzminister Oskar Lafontaine zum Thema Haushaltskonsolidierung:
»Der Haushalt 1999 ist ein erster Schritt, aber – vielleicht ist es ungewöhnlich, wenn ich als derjenige, der ihn, zumindest was die Aufstellung angeht, zu verantworten hat, das sage – er ist ein bei weitem noch unzureichender Schritt zur Sanierung der Staatsfinanzen. […]
Wir haben bei weitem noch nicht genug Anstrengungen unternommen, um den Staatshaushalt zu sanieren. Zu rechtfertigen ist das nur, weil ich der Auffassung bin, die von vielen geteilt wird, dass der Staat in einer Phase zurückgehender Konjunktur diesen Prozess nicht noch durch verstärkte Sparmaßnahmen oder Steuererhöhungen verschärfen soll.
Man kann sich zu dieser Auffassung bekennen oder nicht. Ich halte diese Auffassung für richtig. Wenn Gefahren bestehen, dass das Wachstum zu stark zurückgeht, dann kann der Staat nicht verstärkt Ausgaben kürzen oder Steuern erhöhen. Zu dieser Auffassung kann man ja oder nein sagen, aber man sollte an dieser Stelle eine gewisse Konsequenz entwickeln.«195
Im Allgemeinen, das kann man sagen, sind die Verantwortlichen für die wachsenden Staatsschulden sicher nicht die Finanzminister oder ihre Finanzbeamten. Finanzministern kann man die Bemühungen um gesunde Staatsfinanzen getrost abnehmen. Als Hans Eichel als Bundesfinanzminister antrat, war sein Programm die Rückführung des Haushaltsdefizits, der ausgeglichene Haushalt und der Verzicht auf neue Schulden, und mittelfristig sogar die teilweise Tilgung der Altschulden. Für dieses Ziel ist er mit seiner ganzen Kraft eingetreten.
Ähnliches kann man über die meisten Finanzminister sagen. Und die Aufgabe mag den einen oder anderen frustriert haben. Hans Apel, Finanzminister in der Regierung von Helmut Schmidt zwischen 1974 und 1978, soll das Finanzressort für einen »Scheißjob« gehalten haben. Sein Vorvorvorgänger, Alex Möller, soll nach zwei Jahren »Martyrium« in der Regierung Brandt resigniert haben vor Leuten, die sich »wie eine Kompanie benahmen, die mit der Kriegskasse durchgebrannt ist und sie nun vertrinkt«.196 Und Möllers Nachfolger Karl Schiller sah sich analog der griechischen Mythologie als »Atlas«, der die Ausgabenbürde der sozialliberalen Koalition zu tragen habe. »Gratulieren Sie mir nicht, kondolieren sie mir lieber«, ließ er knapp zu seiner Amtseinführung wissen, nur um ein Jahr später aufzugeben.197 Warum ist die Arbeit der Finanzminister so selten von Erfolg gekrönt? Warum regiert die Politik so gern auf Pump? Und warum können sie das tun? Wenn Politiker mit harschen Worten mit Bankern ins Gericht gehen, müssen sie sich gelegentlich an die eigene Nase fassen. Denn wie die gescholtenen Manager sind sie oft selbst einfach die Gefangenen des Systems und der Anreize, die von diesem System ausgehen.
Ist die Staatsverschuldung ein Webfehler der repräsentativen Demokratie? Das ist eine große Frage für die Wirtschaftswissenschaft. Eine Vielzahl möglicher Gründe wurde bereits erforscht. Dazu gehören politische Schuldenzyklen, die mit wichtigen Wahlen zusammenhängen, Fragen der politischen Couleur der Regierung, die Bedeutung von Regierungskoalitionen, ihrer Größe und der Zahl der dazu gehörenden Parteien. Auch der Typ der demokratischen Verfassung oder die föderale Struktur machen möglicherweise einen Unterschied. Eine Schlüsselrolle spielen natürlich die Wähler, die tendenziell jener Partei ihre Stimme geben, von deren Wahl sie sich die größten persönlichen Vorteile erhoffen. Aus dieser Vielzahl von Einzelfragen greifen wir im Folgenden vier wichtige Aspekte heraus.