Tatsächlich bekam die Verschuldung nach dem Regierungswechsel von einer Großen Koalition zu einer SPD-geführten Regierung 1969 eine völlig neue Dimension. Es begann der Aufbruch ins Uferlose. Die Kanzler Willy Brandt und vor allem Helmut Schmidt schienen den öffentlichen Kredit nicht mehr allein als Instrument zur Glättung von Konjunkturzyklen, sondern als legitimes Finanzierungsmittel zu betrachten. Die Schulden wuchsen deutlich schneller als die Wirtschaft. In nur 13 Jahren schnellten die Verbindlichkeiten des Bundes von umgerechnet 31 auf 160 Milliarden Euro nach oben. In der achtjährigen Amtszeit von Helmut Schmidt vervierfachten sich die Schulden. Länder und Kommunen standen dem kaum nach. So wuchs die Schuldenquote Deutschlands von knapp 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 1969 auf 41 Prozent im Jahr 1982. Mit den Krediten stiegen auch die Zinslasten gewaltig. In den Sechzigern noch eine Minigröße im Bundeshaushalt, erreichte die Quote in den Achtzigern bereits einen zweistelligen Anteil.
Neben dem Wandel in den Grundanschauungen zur staatlichen Gestaltung des Wirtschaftswachstums und der Verfassungsreform spielten jedoch noch andere Faktoren eine Rolle. Im Gefolge des israelisch-arabischen Kriegs kam es Anfang der siebziger Jahre zum Ölboykott. Zwischen März 1973 und Januar 1974 schoss daraufhin der Preis des wichtigsten Energieträgers in die Höhe. Die sogenannte erste Ölkrise führte zur zweiten Rezession der Nachkriegsgeschichte. Im Jahr 1975 erreichte die Neuverschuldung daraufhin mit 54 Milliarden D-Mark einen neuen Rekord.234 Der Einsatz der neuen Instrumente der »Globalsteuerung« führte die Wirtschaft jedoch nicht erkennbar zurück auf den Wachstumspfad der fünfziger Jahre. Vielmehr schuf die Zeit das Wort »Stagflation« zur Beschreibung der damaligen Situation mit geringer wirtschaftlicher Dynamik (Stagnation) und vergleichsweise hohen Preissteigerungsraten (Inflation).
Der iranischen Revolution folgte 1979 eine zweite Ölkrise, die mit einer Preisverdoppelung beim Schwarzen Gold die wirtschaftliche Dynamik in den frühen achtziger Jahren bremste. Wie bereits sechs Jahre zuvor versuchte die Politik, mit einem kreditfinanzierten Konjunkturpaket dem Einbruch zu begegnen. Auch Verteilungsfragen spielten dabei eine Rolle, etwa bei der Steuerreform von 1974 / 75, die insbesondere die unteren Einkommensbezieher um 13 Milliarden D-Mark entlastete. Zwar wurde der Spitzensteuersatz erhöht, aber die SPD konnte beim Koalitionspartner FDP keine Gegenfinanzierung der gesamten Reform durch die Bessersituierten durchsetzen, so dass ein Großteil auf Pump finanziert werden musste. Die knappen Mehrheitsverhältnisse der rot-gelben Koalition haben deren fiskalische Solidität nicht gerade gestärkt.235
Seit den Siebzigern war die Wirtschaftswunderzeit also vorbei. Auch zahlreiche staatliche Konjunkturprogramme, großenteils finanziert durch neue Schulden, konnten das Wachstumswunder nicht wiederbeleben. Mit jedem weiteren Konjunkturpaket sank die Hoffnung, mit Hilfe der Staatsfinanzen wieder auf einen dynamischen Wachstumspfad zu gelangen. Noch nicht einmal das konjunkturelle Auf und Ab ließ sich durch einen steuernden Staat verlässlich bändigen.
Langsam wich der Politikoptimismus einem allgemeinen Staatsskeptizismus. Der Staat wurde zunehmend als Problem statt als Problemlöser gesehen. Wahlen gewannen oft jene, die weniger Staat forderten, wie Margaret Thatcher 1979 in Großbritannien oder Ronald Reagan 1981 in den USA. Reagan fasste die neue Ideologie so zusammen: »Die neun entsetzlichsten Wörter der englischen Sprache sind: ›I’m from the government and I’m here to help.‹« (Ich komme von der Regierung, um zu helfen).236
Auch in Deutschland verschoben sich die Gewichte in der Wirtschaftspolitik: Anstatt der Globalsteuerung der Nachfrageseite war zunehmend die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Angebotsseite, also die Unternehmen, angesagt. Das sogenannte Lambsdorff-Papier, das ganz dem Zeitgeist folgend die Rücknahme staatlicher Sozialleistungen auf der einen und niedrigere Unternehmenssteuern auf der anderen Seite forderte, war wohl mitverantwortlich für das Zerbrechen der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982.
Tatsächlich brachte dieser Machtwechsel zunächst eine Stabilisierung des Schuldenstands bei etwas über 40 Prozent, aber die grundsätzliche Schuldenpolitik fand mit dieser Periode keinen Abschluss, sondern eine Fortsetzung aus anderen Anlässen. Einer davon war der enorme Finanzierungsbedarf in Folge der deutschen Wiedervereinigung. Zentral war die Entscheidung, die Wiedervereinigung durch Kredite statt durch Steuern zu finanzieren. So schnellte die Schuldenquote von rund 40,4 Prozent im Jahr 1991 auf 58,4 Prozent im Jahr 1996.237
Nun mag die deutsche Wiedervereinigung nach dem Niedergang der DDR als Ausnahmeereignis einen Anstieg der Staatsverschuldung am ehesten rechtfertigen. Doch war auch das nicht der letzte Gipfel des deutschen Schuldenpfades. Die Rezession nach dem Platzen der Internetblase im Jahr 2001 leitete eine weitere größere Kreditrunde mit einem Anstieg der Schuldenquote bis zu 67,8 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 2005 ein.
Zuletzt waren die Finanzmarktturbulenzen im Herbst 2008 in Verbindung mit einem massiven Einbruch der Weltwirtschaft für die Politik ein Anlass, den Schuldenberg auf über 70 Prozent des BIP zu erhöhen. Im Januar 2010 wurde ein Bundeshaushalt verabschiedet, der zu mehr als einem Viertel durch neue Schulden finanziert war.238 Und darauf folgten die schon beschriebenen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Europäischen Schuldenkrise.
Seit der Neufassung des Artikels 115 im Grundgesetz im Jahr 1969 verstießen die insgesamt zwölf Finanzminister von SPD, CDU oder CSU immer wieder gegen den Grundsatz, dass die Neuverschuldung im Normalfall die Summe der öffentlichen Investitionen nicht übersteigen darf. Besonders leger wurde seit der Jahrtausendwende mit dem Grundsatz umgegangen. In sieben von elf Jahren lag die Nettokreditaufnahme seitdem über den Investitionsausgaben. Weitet man den Zeitraum bis 1990 zurück aus, kommen noch weitere vier fragwürdige Jahre hinzu.
Zugegeben, das neue Millennium bescherte der Ökonomie gleich zwei schwere Rezessionen – eine davon fiel mit einem Minus von fünf Prozent im Jahr 2009 besonders markant aus. Dennoch wurde beim Haushalten allzu oft die vage definierte Ausnahmeklausel zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bemüht, die allein einen Verstoß gegen den »Verschuldungs«-Artikel 115 des Grundgesetzes rechtfertigt. Im Jahr 2006 etwa konnte bei einem Wirtschaftswachstum von 2,9 Prozent von Wachstumsschwäche und konjunktureller Krise nicht die Rede sein.239 Dennoch war die Neuverschuldung höher als die öffentlichen Investitionen. Die »Fünf Weisen«, also der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage der Bundesrepublik, sahen daher im Haushalt 2006 einen »klaren Verstoß gegen die Verfassung«.240
Der Bundeshaushalt hat ein strukturelles Grundproblem. Über die Jahre haben sich Budgetausgaben für Soziales verfestigt. So sind Strukturen entstanden, aus denen kaum ein Finanzminister ausbrechen kann. Viele Budgetposten – wie etwa die Zahlungen von Hartz IV – knüpfen an gesetzliche Ansprüche an und sind damit weitgehend unveränderlich. Der Etat für Arbeit und Soziales sowie Gesundheit und Familie macht inzwischen knapp die Hälfte des Bundeshaushalts aus. Zusammen mit der Zinslast aus den Billionenschulden, die im Haushalt trotz historisch niedriger Zinsen über zwölf Prozent des Etats verschlingen, sind knapp zwei Drittel der Gesamtausgaben weitgehend gebunden.241
Hinzu kommen die unverrückbaren Betriebskosten des Bundes. Einschnitte im Sozialetat oder eine Kürzung der Rentenzuschüsse scheinen sich in Zeiten, in denen viele Bundesbürger ohnehin den Glauben an eine gerechte Gesellschaft verloren haben, zu verbieten.242 Der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück hat angesichts des mangelnden Handlungsspielraums oft über die »Verkarstung« des Haushalts geklagt.
Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation? Staatsschulden sind schließlich keine Erfindung der jüngeren Vergangenheit. Ein weiter Blick zurück auf die ältere deutsche Verschuldungsgeschichte legt nahe, dass die deutsche Finanzpolitik in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen einen Neustart benötigte – mit entsprechenden Kosten für die Bürger.
Wie Abbildung 15 zeigt, ist der öffentliche Kredit offenbar ein Instrument der Finanzpolitik und ganz sicher keine Ausnahmeerscheinung für schlechte Zeiten. Fraglos ist in Kriegszeiten die Verschuldung überall auf der Welt gewaltig gewachsen. Aber die Zeit nach 1950 hat auch gezeigt, dass es keiner Weltkriege bedarf, um die öffentlichen Haushalte an den Rand des Abgrunds zu bringen.
Regierungen sollten vielleicht häufiger einmal den Rat bei der »schwäbischen Hausfrau« suchen, die Angela Merkel auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Winter 2008 als Rollenmodell in die politische Debatte einbrachte. »Man hätte einfach nur die schwäbische Hausfrau fragen sollen«, riet Merkel damals in einer Rede auf dem CDU-Parteitag in Stuttgart. »Sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.«243