Die Schieflage in den öffentlichen Haushalten ist in den vergangenen zehn Jahren stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Anzeichen für die Reformbedürftigkeit der deutschen Finanzverfassung gab es viele. Das Land Berlin wollte finanzielle Hilfen seitens des Bundes wegen seiner vermeintlich extremen Haushaltsnotlage beim Bundesverfassungsgericht erklagen – und hat verloren. Die Bundesländer Bremen und das Saarland hatten bereits viel früher beim Bundesverfassungsgericht mit ähnlicher Begründung geklagt und nach dem Urteil vom 27. Mai 1992 Bundeshilfen in Milliardenhöhe erhalten. Das sich daraus entwickelnde Saarland-Bremen-Syndrom wurde in Kapitel 7 beschrieben. Auch der blaue Brief aus Brüssel und das später gegen Deutschland eröffnete Defizitverfahren wegen der jahrelangen Überschreitung des Referenzwerts von drei Prozent war ein klares Symptom dafür, dass mit der deutschen Finanzverfassung etwas im Argen lag.
Dieses öffentliche Bewusstsein mag eine der entscheidenden Ursachen gewesen sein, warum nach der ersten Föderalismusreform eine weitere Kommission des Bundestags und des Bundesrats ins Leben gerufen wurde, die als Föderalismuskommission II am 8. März 2007 ihre Arbeit aufnahm. Sie sollte Wege finden, um Haushaltskrisen in Zukunft vorzubeugen. Dafür mussten die fiskalischen Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern klarer definiert werden. Dazu gehört auch eine größere steuerpolitische Autonomie der Länder. Herausgekommen ist eine Verfassungsreform, deren wahrscheinlich wichtigster Bestandteil die Veränderung der Verschuldungsregeln von Bund und Ländern ist. In der Präambel des Gesetzentwurfs heißt es:
»Ziel der Grundgesetzänderungen im Bereich der Finanzverfassung ist es, im Einklang mit den Vorgaben des reformierten europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes die institutionellen Voraussetzungen für die Sicherung einer langfristigen Tragfähigkeit der Haushalte von Bund und Ländern zu verbessern.«
Umgesetzt wurde dieses Ziel durch Veränderungen der Artikel 109 und 115 des Grundgesetzes sowie die Hinzufügung von Artikel 109a. Artikel 109 hatte seit der Änderung 1969 das Haushaltsrecht im Kern den gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen untergeordnet. In der neuen Fassung bleiben die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts weiterhin relevant. Hinzu tritt eine gemeinschaftliche Verpflichtung von Bund und Ländern, die Defizitvorschriften des EU-Vertrags einzuhalten.
Wichtiger noch ist die ausdrückliche Verpflichtung von Bund und Ländern, die Haushalte »grundsätzlich« ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Die Budgets dürfen dabei im Konjunkturzyklus atmen: Ein Ausgleichskonto soll über die Zeit Defizite und Überschüsse protokollieren. Dieses Konto soll dafür sorgen, dass sich das konjunkturelle Atmen nicht wie in den vergangenen Jahrzehnten nur auf das »Einatmen« von zusätzlichen Krediten in Abschwungphasen beschränkt. In den Aufschwungphasen sollen Bund und Länder nicht einfach die Luft anhalten, sondern Schulden abbauen.
Ausnahmeregelungen sind vorgesehen für »Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen«. Um diese Vorschriften justiziabel zu machen, sieht der neue Artikel 109a einen Stabilitätsrat als gemeinsames Gremium vor. Der Stabilitätsrat soll drohende Haushaltsnotlagen frühzeitig aufdecken und gegebenenfalls Sanierungsprogramme vorschlagen. In Artikel 115 werden die haushaltswirtschaftlichen Grundsätze für den Bund weiter konkretisiert. Der Grundsatz des Haushaltsausgleichs ohne Kredite wird hier gleich ein wenig relativiert: Dieser Zustand gilt als erreicht, »wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 von Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten.«
Diese neuen Verschuldungsregeln gelten für den Bund ab dem Haushaltsjahr 2016. Sie bedeuten bei einer angenommenen Wachstumsrate von nominal drei Prozent pro Jahr, dass die Neuverschuldung des Bundes im Jahr 2016 noch rund zehn Milliarden Euro betragen darf, wenn keine konjunkturelle Schieflage vorliegt. Für die Jahre bis 2016 spezifiziert Artikel 143d Übergangsregeln und macht Vorgaben für den ambitionierten Konsolidierungspfad, auf dem der Bund zu einem annähernd ausgeglichenen Haushalt 2016 gelangen soll. In den Jahren ab 2011 sollen die Defizite ausgehend von der im Jahr 2010 bestehenden Situation in praktisch gleichen Schritten bis hin zu einem annähernd ausgeglichenen Haushalt abgebaut werden. Je nach wirtschaftlicher Entwicklung und den Fährnissen der europäischen Schuldenkrise ist das eine Herkulesaufgabe.245 Ähnliches gilt für die Haushalte der Länder. Für sie gilt das veränderte Haushaltsrecht ab dem Jahr 2020.
Man mag dem ehemaligen Finanzsenator von Berlin, Thilo Sarrazin, folgen und der Tatsache, dass das Prinzip des defizitfreien Staatshaushalts nun Verfassungsrang hat, Einfluss zumessen. Vom Text der Verfassung geht mitunter eine normbildende Kraft aus. Ist die Ächtung von immer stärker schuldenbasierten Staatsfinanzen in den Köpfen der Politik und der Wähler erst einmal verankert, besteht die Chance, dass sich die Haushaltspolitik in Deutschland wirklich verändert. Und auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat die Verfassungsrang genießende Schuldenbremse einmal als seine beste Verbündete bei der Konsolidierung des Bundeshaushaltes bezeichnet. Schäuble hält sie beim Schuldenabbau für ähnlich wirkmächtig wie es die Arbeit der politisch unabhängigen Notenbank für die Gewährleistung der Preisstabilität ist. Sowohl Schuldenbremse als auch die politisch unabhängige Notenbank fußen auf einer ähnlichen Prämisse: Demokratisch legitimierte Mehrheiten könnten nicht nachhaltig wirtschaften. Um ein Übermaß an Schulden und Inflation zu vermeiden, müssen Geld- und Fiskalpolitik in gewisser Weise dem demokratischen Prozess entzogen werden. Angeblich, so sagt man Schäuble nach, hätte er ohne die Verfassungsänderung das Amt des Finanzministers im Oktober 2009 gar nicht angetreten.246
Andere Experten sind da weit weniger optimistisch. Sie versprechen sich von den konkreten Verfahrensregeln der neuen Verfassungsartikel verhältnismäßig wenig. Stefan Korioth, Professor für öffentliches Recht in München, kritisiert die im Verfassungsrecht unübliche Regelungstiefe in den neuen Artikeln ebenso wie die zeitliche Distanz zwischen Verfassungsänderung und dem Zeitpunkt, zu dem die neuen Regelungen gelten sollen:
»Noch unverständlicher wird das Ganze, wenn berücksichtigt wird, dass gerade diejenigen Politiker, die nicht die Kraft aufbringen, die bislang geltenden Kreditlimitierungen einzuhalten, neue Regeln für zukünftige (Politiker) Generationen erlassen. Die zeitliche Suspendierung ist so weitgehend, dass sogar eine Änderung der Normen vor ihrem Inkrafttreten nicht ausgeschlossen erscheint.«247
Der neue Artikel 115 mag im Vergleich zur alten Version restriktiver gefasst sein. Richtig justiziabel erscheint er nicht. Wer wird bei einer Regelverletzung klagen? Und wer kann am Ende wirksame Sanktionen aussprechen und durchsetzen? Regierung und Parlament dürften sie nicht wirklich einengen. In der Vergangenheit wurden schon häufiger Haushalte als verfassungswidrig eingestuft; ohne größere Konsequenzen. Der Stabilitätsrat wiederum scheint die Fehler des ursprünglichen europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu wiederholen. Das Gremium besteht überwiegend aus den Finanzministern der Länder und des Bundes, und seine Beschlüsse sind für die betroffenen Länder oder den Bund nicht verbindlich. Wenn aber weder Stabilitätsrat noch Verfassungsgericht im Zweifelsfall eine übermäßige Verschuldung bremsen können, verwundert es nicht weiter, wenn politische Beobachter die deutsche Schuldenbremse mal als »Bremse ohne Bremser« charakterisiert haben.248
Angesichts der Staatsschuldenkrise Griechenlands, die sich zu einer Schuldenkrise des gesamten Euroraums ausgeweitet hat, und der problemträchtigen demographischen Entwicklung Deutschlands sind Abweichungen vom in der Verfassung formulierten Konsolidierungsziel programmiert. Es wird spannend zu sehen, wie Politik und Justiz mit Zielabweichungen umgehen werden und das nicht nur hierzulande. Auf Drängen Deutschlands sollen auch andere Mitgliedsstaaten vergleichbare »Schuldenbremsen« umsetzen.