Das Bundesministerium der Finanzen unterhält eine Internetseite, die als Unterrichtsmaterial für die 10. Klasse gedacht ist.249 Darin heißt es:
»Dem Staat Geld leihen – warum? Deutschland ist hoch verschuldet. Besteht da nicht die Gefahr, dass das Geld der Privatanleger verloren geht? Diese Frage kann mit »Nein« beantwortet werden, denn die Bundesrepublik Deutschland ist einer der sichersten Schuldner der Welt. Ihr wird von internationalen Rating-Agenturen (Unternehmen, welche die Kreditwürdigkeit von Firmen und Staaten bewerten) regelmäßig die höchstmögliche Kreditwürdigkeit zuerkannt. Auch in Zeiten der Wirtschaftskrise können die Anleger darauf vertrauen, dass ihr eingesetztes Kapital erhalten bleibt. Bei Wertpapieren, die von Unternehmen ausgegeben werden, trägt der Anleger hingegen ein höheres Risiko. Muss ein solches Unternehmen z. B. wegen einer schlechten Entwicklung des Marktes Insolvenz anmelden, erhält der Gläubiger sein Geld aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr zurück. Aus diesem Grund sind die Zinsen, die auf solche riskanteren Wertpapiere gezahlt werden, auch höher als diejenigen auf Bundesanleihen. Anleger sollten deshalb immer die Verzinsung ebenso wie das Risiko im Auge haben.«
Unseren heranwachsenden Staatsbürgern werden hier zum Thema Staatsschulden also von Expertenseite wichtige Erkenntnisse vermittelt, und etwas Anlageberatung bekommen sie gleich gratis dazu: Es stimme schon, dass der deutsche Staat eine Menge Schulden hat. Aber eine Gefahr, dass das Geld verloren gehen könnte, nein, die gebe es nicht. Denn Deutschland ist ja einer der sichersten Schuldner, nicht wahr? Und das gilt auch und gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise. Unternehmen könnten pleitegehen. Natürlich. Und wenn das passiert, dann ist das Geld weg. Das solle man wohl bedenken, wenn man sein Geld verleiht. Wer es wegen ein paar Prozentpunkten höherer Zinsen trotzdem den Unternehmen gibt, der ist eben selbst schuld.
Aber können wir dem Bundesministerium in dieser Angelegenheit vertrauen? Sind Staatsschuldpapiere wirklich sicher? Können Sparer und Investoren darauf vertrauen, dass Deutschland seine Schulden bedient? Wie gut ist die Bonität Deutschlands und wovon hängt sie ab? Ist das nur eine Frage der Zahlungsfähigkeit oder auch eine Frage des Willens, die Schulden zu tilgen?
Die Antworten auf diese Fragen sind viel weniger klar und eindeutig als man glauben mag, und Staaten schneiden dabei als Schuldner nicht besonders gut ab.
Unternehmen und Privatpersonen können pleitegehen. Wenn das passiert, ziehen die Kreditgeber vor Gericht und versuchen, ihre Ansprüche gegenüber dem Schuldner möglichst weit durchzusetzen. Soweit das bankrotte Unternehmen Vermögen hat, wird dieses wohl in die Hände der Kreditgeber übergehen. Noch klarer ist der Fall, wenn der Schuldner für den Kredit Sicherheiten bereitgestellt hat. Typische Beispiele solcher Kredite sind Hypothekenkredite. Dabei überträgt der Schuldner dem Kreditgeber Rechte an einem Haus oder ein Grundstück als Sicherheit. Wenn der Schuldner nicht zahlt, kann der Kreditgeber die Sicherheiten verwerten. Die Immobilie kommt dann unter den Hammer. Aus dem Erlös wird zunächst der Kreditgeber ausgezahlt. Was übrig bleibt, erhält der Schuldner. In Kreditbeziehungen zwischen Privatpersonen kann ein Schuldner, der im Grunde noch über substantielles Vermögen verfügt, in der Regel nicht einfach ungestraft die Rückzahlung seiner Schulden verweigern. Die Gerichte sorgen dafür, dass die Kreditgeber zu ihrem Recht kommen – es sei denn, der Schuldner ist wirklich mittellos.
Staaten sind in einer anderen Situation. Staaten sind souverän. Ein Staat kann beschließen, dass er den Schuldendienst einstellt. Es ist schwierig für die Kreditgeber, vor Gericht zu ziehen und den Staat zur Zahlung zu zwingen, selbst wenn der Staat eigentlich zahlen kann. Welches Gericht wäre wohl zuständig? Und welchen Gerichtsvollzieher könnte man mit der Pfändung beauftragen, wenn man ein Eigentumsrecht gegenüber einem Staat durchsetzen will?
Dabei ist es nicht ganz gleichgültig, ob der Kreditgeber ein Bürger des betreffenden Staats ist oder ein Ausländer. Ein Bürger des zahlungsunwilligen Staats wird sich mit der Zahlungsverweigerung wohl abfinden müssen. Eigentlich ist die Zahlungsverweigerung dann nichts anderes als eine Sondersteuer oder eine Enteignung. Dafür kann ein Staat sogar eine gesetzliche Grundlage schaffen.
Ein Ausländer kann immerhin seine eigene Regierung um Hilfe bitten. Verweigert also ein Staat seinen ausländischen Kreditgebern die Rückzahlung von Krediten, könnten diese Gläubiger ihre Regierung ins Boot holen. Vielleicht schickt die Regierung sogar einige Kanonenboote los oder versucht, auf andere Weise auf den Schuldnerstaat Druck auszuüben. Möglicherweise werden ausländische Besitztümer des zahlungsunwilligen Schuldners beschlagnahmt, etwa ein Flugzeug der entsprechenden staatlichen Fluglinie, das sich auf einem Auslandsflug befindet. Vielleicht ist der Schuldnerstaat dann hinreichend eingeschüchtert und zahlt. Vielleicht aber auch nicht. Im Vergleich mit einer Bank, deren Kunde seinen Hypothekenkredit nicht mehr zahlen kann, stehen die Chancen der ausländischen Kreditgeber jedenfalls weniger gut. So gesehen sind Unternehmen und Privatpersonen eigentlich die besseren Schuldner als Staaten.
Jonathan Eaton und Mark Gersovitz haben im Anschluss an die Weltschuldenkrise der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Frage gestellt, weshalb souveräne Staaten überhaupt Kredite erhalten bzw. warum man denn überhaupt darauf hoffen kann, dass ein Staat seine Schulden jemals wieder zurückzahlt. Mit dieser Frage haben sich seitdem viele Wirtschaftswissenschaftler sehr ernsthaft beschäftigt.250 Und zwar deshalb, weil es zu dieser Frage nur wenige überzeugende Antworten gibt.
Dass ein Staat auf Dauer vom internationalen Kreditmarkt abgeschnitten wird, weil er einmal seine Schulden nicht bezahlt, ist weder eine glaubhafte Bedrohung noch hilft diese Drohung als mögliche Erklärung. Könnte Herr K. sich zehn Millionen leihen und frei entscheiden, ob er den Kredit zurückzahlt, und wäre die einzige negative Konsequenz seiner Zahlungsverweigerung für Herrn K., dass man ihm danach nie wieder zehn Millionen (und ebenso wenig einen niedrigeren Betrag) leihen wird, was würde Herr K. tun? Ist es nicht besser, einmal zehn Millionen einfach so zu bekommen, als im Zeitverlauf immer mal wieder Kredite aufzunehmen und mit Zins und Tilgung zurückzuzahlen? Man mag einwenden, dass Herr K. irgendwann einmal im Regen stehen könnte und dass ihm der Erhalt seiner Kreditwürdigkeit einfach für diesen Fall sehr viel wert sein sollte. Aber erstens lässt sich mit zehn Millionen eine ganz vernünftige Liquiditätsplanung machen, so dass dieser Ernstfall noch unwahrscheinlicher wird. Und zweitens: Würde der Kreditberater von Herrn K. seinem Kunden im Ernstfall wirklich einen Kredit geben, wenn Herr K. ganz tief in finanziellen Schwierigkeiten steckt, nur weil er in der Vergangenheit immer seine Schulden bezahlt hat?
Schulden zahlt man zurück (und das gilt auch für Staaten), wenn man die Konsequenzen fürchtet, die es hat, wenn man nicht bezahlt. Die Ökonomen Ugo Panizza, Federico Sturzenegger und Jeromin Zettelmeyer fassen die wichtigsten Gründe für Staaten zusammen: Staaten haben Anreize ihre Schulden zu bezahlen, wenn sie Reputationsverluste gegenüber dem Ausland fürchten oder bei Zahlungsverweigerung Handelssanktionen drohen. Auch mögliche drohende Gerichtsverfahren gegen den Schuldnerstaat in anderen Ländern können die Zahlungsbereitschaft erhöhen. Ein vielleicht unerwartetes Argument, das sie nennen, hat mit der Bildung von Erwartungen zu tun. Wenn die private Wirtschaft eines Staats die Zahlungsverweigerung als Anzeichen dafür wertet, dass es schlecht um die heimische Wirtschaft steht, gehen von der Zahlungsverweigerung möglicherweise negative Konjunktur- und Wachstumsimpulse im Inland aus.251
Je höher die fällige Staatsschuld ist, desto überzeugendere Gründe sind dafür erforderlich, dass ein Staat seine Schulden zurückzahlt.