Staatsinsolvenzen erfolgten oft in Wellen entlang historischer Ereignisse wie Kriegen, Revolutionen, ziviler Aufstände oder globaler Wirtschaftskrisen (siehe auch Abbildung 17). Jahren ohne größere Ausfälle folgten in der Regel Jahre mit hohen staatlichen Zahlungsausfällen. Gleich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ruinierten die Napoleonischen Kriege die Staatsfinanzen von Preußen, Frankreich und England und trieben einige Staaten in die Zahlungsunfähigkeit. Preußen ging dabei kurz hintereinander gleich zwei Mal in den finanziellen Ruin (in den Jahren 1807 und 1813) und die Staaten Westfalen, Hessen und Schleswig Holstein je ein Mal (1812, 1814 und 1850). Etwas mehr als ein Jahrhundert später verschuldeten sich im Ersten Weltkrieg viele der beteiligten Nationen hoch in der Hoffnung, als Gewinner die finanziellen Lasten von den Feinden begleichen zu lassen.
Wie häufig Staatsbankrotte sind, offenbaren daher auch die jüngeren Statistiken seit 1800. Über 250 Mal bedienten Länder ihre Auslandsschulden nicht mehr, in mindestens 68 Fällen kam es auch bei inländischen Verbindlichkeiten zu Ausfällen, in der Regel durch hohe Inflationsraten oder einen Währungsschnitt. Zur Kategorie Bankrott bei Inlandsschulden zählt beispielsweise auch die deutsche Währungsreform vom 20. Juni 1948.264
Fast immer gingen Bankenkrisen mit Krisen der öffentlichen Finanzen einher.265 Zwischen Finanzinstituten und Staat gibt es dabei ein interessantes Verhältnis. Bis zum 20. Jahrhundert wurden kreditgebende Banken, zum Beispiel viele italienische Institute aus Florenz, von ihren Pleitestaaten in den Ruin getrieben.266 In der Großen Depression dagegen – wie auch in der jüngsten Finanzkrise – traten zunächst die Staaten als letzte Retter notleidender Kreditinstitute auf, um anschließend teilweise selbst zum Problemfall zu werden.
Zu Beginn der dreißiger Jahre erlebte die Pleitewelle enen Höhepunkt. Der weltweite Wirtschaftseinbruch zog einen Kollaps der Rohstoffpreise Ende der zwanziger Jahre nach sich, der vielen rohstoffreichen Ländern bald wirtschaftlich das Genick brach.267 Aber auch die Aufhebung des Goldstandards befeuerte Länderinsolvenzen. Viele Staatsanleihen beinhalteten damals sogenannte Goldklauseln, mit denen die rückzahlbaren Beträge neben den Währungsbeträgen auch in Goldeinheiten festgeschrieben wurden. Diese Klauseln wurden hinfällig, als die Länder ihre Währungen von einem festen Umtauschkurs zum Edelmetall lösten. In den USA beispielsweise verfügte der frisch ins Amt gekommene
Abb. 17: Anzahl der Staatspleiten pro Jahr seit 1800
Quellen: Panizza/Sturzenegger/Zettelmeyer, Reinhart/Rogoff, Standard & Poor‘s
Präsident Franklin D. Roosevelt im Rahmen des Gold Reserve Act die Aussetzung von Goldklauseln in privaten und öffentlichen Schuldverträgen. Die Schuldensumme der Vereinigten Staaten betrug im Jahr 1934 rund 27 Milliarden Dollar, ein Betrag, der rund 436 Milliarden Dollar in heutiger Kaufkraft entspricht. Wie hoch der Anteil jener Papiere war, deren Rückzahlungsmodalitäten ursprünglich an das Edelmetall gekoppelt waren, ist nicht genau dokumentiert. Ugo Panizza hält das Volumen aber für derart substantiell, dass der durch die Aussetzung der Goldbindung implizit herbeigeführte US-Ausfall eigentlich als eine der größten Staatspleiten in der Geschichte gelten kann.
Im Jahr 1932 bedienten zwölf Länder ihre Auslandsschulden nicht mehr gemäß der vereinbarten Anleihebedingungen – darunter auch Deutschland.268 In die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fällt auch der vorerst letzte Staatsbankrott eines westlichen Industrielandes. Die beiden Verlierernationen des Zweiten Weltkrieges, Deutschland und Japan, entledigten sich ihrer Inlandsschulden durch Währungsreformen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts füllen ausschließlich Schwellenländer die Statistik der öffentlichen Kreditausfälle. Allein seit 1980 gab es insgesamt 90 Bankrotte von 73 Staaten. Einige Länder, wie Venezuela oder Ecuador, prellten ihre Gläubiger in dieser Zeit also gleich mehrfach. Wenigstens gingen die Kreditgeber nicht ganz leer aus, sondern erlitten im Durchschnitt Verluste von ca. 40 Prozent. Dieser im Jargon »haircut« genannte Ausfall war das Ergebnis schwieriger Verhandlungen zwischen Schuldner und den Kreditgebern, die im Schnitt acht Jahre dauerten. Je mehr Zeit die Umschuldungsverhandlungen in Anspruch nahmen, desto schlechter kamen die Kreditgeber in der Regel davon. Zogen sich die Einigungsgespräche länger als 20 Jahre hin, mussten die Investoren auf mindestens zwei Drittel ihrer Ansprüche verzichten.269
Beispiel Honduras: 23 Jahre nach dem Bankrott nahm das Land die Zahlungen wieder auf, der effektive »haircut« betrug letztendlich 72 Prozent. Im Fall von Nicaragua waren nach 24 Jahren 75 Prozent abzuschreiben, bei Tansania blieben nach 21 Jahren nur mehr 27 Prozent für die Gläubiger übrig. Im Fall von Argentinien, das seinen Gläubigern im Jahr 2005 einen Forderungsverzicht von 66 Prozent zumutete, haben sich nicht alle Anleger mit dem Umschuldungsangebot abgefunden. Auch deutsche Sparer haben bereits während der Umschuldungsverhandlungen gegen Argentinien vor hiesigen Gerichten geklagt. Rund 17 Prozent der unbezahlten Anleihen waren nämlich nach deutschem Recht begeben, deutsche Investoren hielten gut fünf Prozent der gesamten argentinischen Schuldtitel im nominalen Wert von rund 4,4 Milliarden Dollar.270 Geprellte deutsche Anleger drohten Argentiniens Präsident Nestor Kirchner kurz vor seinem Deutschlandbesuch im Herbst 2003 damit, seine Präsidentenmaschine »Tango 01« pfänden zu lassen. Kirchners Maschine blieb im Hangar stehen. Stattdessen schickte er seinen Vize per Linienflug in die Bundesrepublik.271
Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte es freilich auch etliche Fälle gegeben, in denen Kreditgeber nicht nur die Gerichte angerufen, sondern Gläubigerstaaten gar zu Gewalt gegriffen haben, um säumige Nationen zum Zahlen zu bringen.272 Als Venezuela Schuldendienstzahlungen für bürgerkriegsbedingte Schäden und ältere Anleihen einstellte, blockierten die Gläubigerländer Deutschland, Großbritannien und Italien im Dezember 1902 die Häfen La Guiara und Puerto Cabello. Die Deutschen bombardierten zusätzlich Fort San Carlos, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen – mit Erfolg. Schon im Jahr 1903 lenkte der venezolanische Präsident Castro ein. Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wurden die Gläubiger aus den an der Seeblockade beteiligten Staaten sodann bevorzugt behandelt, wohingegen sich Gläubiger aus anderen Ländern mit ihren Forderungen hinten anstellen mussten.273
Zu diesen benachteiligten Ländern gehörten auch die USA. Präsident Theodore Roosevelt ergänzte daraufhin im Jahr 1904 die bestehende Monroe-Doktrin, die ebenso eine Intervention der Europäer auf dem amerikanischen Kontinent ablehnte, wie sie das Prinzip der Nicht-Einmischung in europäische Konflikte betonte, durch eine eigene Schiedsrichterfunktion der USA für säumige Staatsschuldner in Lateinamerika und in der Karibik. Fortan sollte es den USA möglich sein, ausstehende Zahlungen von Staaten in der Region, wenn nötig, auch mithilfe »internationaler Polizeigewalt« einzutreiben.274 Dieses »Corollary to the Monroe Doctrine« zeigte Wirkung. An den Finanzmärkten stiegen die Preise der Staatsanleihen aus der neuen amerikanischen Interventionssphäre im Jahr nach der diplomatischen Interventionsankündigung um 74 Prozent, ein Jahr später hatten sie sogar 91 Prozent an Wert gewonnen.275 Es wurde anscheinend positiv bewertet, dass durch die Interventionsandrohung der neuen Großmacht USA effektivere Umschuldungsverhandlungen für die Kreditgeber möglich wurden.
Der Einfluss von Sanktionsandrohungen auf die Zahlungsdisziplin der Schuldner lässt sich anhand von weiteren Fällen illustrieren. So fanden die Ökonomen Kris James Mitchener und Marc D. Weidenmier für die Zeit zwischen 1870 und 1913 heraus, dass angesichts des politischen und militärischen Drucks auf einzelne Staaten die Ausfallwahrscheinlichkeit der betreffenden Anleihen im Schnitt um 60 Prozent niedriger war.276 In diesen Beispielen wird deutlich, dass die Finanzmärkte und besonders die Erwartungen der Kreditgeber eine zentrale Rolle dabei spielen können, ob ein Staat in eine extreme finanzielle Schieflage gerät, und vor allem, wann es zu einer Schieflage kommt.