Die Ratingagenturen gehören zu den einflussreichsten Akteuren an den Finanzmärkten.300 Niemand kann recht sagen, ab welchem Schuldenstand ein Staat wirklich finanziell in der Klemme steckt. Das Urteil der Ratingagenturen ist oft heikel – und einflussreich. Ihr Einfluss ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Zum einen hatten die Bonitätswächter die Finanzkrise nicht vorausgesehen und erst mit Verspätung reagiert. Einmal mehr waren sie ihrer Frühwarnfunktion nicht gerecht geworden. Wie andere Marktteilnehmer auch, haben sie viele Krisensymptome nicht gesehen und hissten erst im Herbst 2007 die rote Flagge, als die Panik groß und das Ansehen eines Teils der als solide beurteilten Papiere kollabiert war. Beispielsweise wurde die Mittelstandsbank IKB noch wenige Monate vor dem Kollaps im Jahr 2007 für ihre »umsichtigen Kreditvergabepraktiken, das effiziente Risikomanagement und die damit einhergehende relative Immunität gegen Marktrisiken« gelobt und die Schuldtitel des Instituts mit dem vierthöchsten Rating in einem System von 19 Bonitätsnoten versehen.301 Erst einen Tag nach der vernichtenden Gewinnwarnung der IKB im Sommer 2007 kam auch das Rating ins Rutschen. Dass es noch schlechter geht, bewies wenig später der Fall Lehman Brothers. Die US-Investmentbank ging am 15. September 2008 in die Insolvenz. Fünf Tage vorher hatten S & P und Moody’s das Finanzhaus noch mit guten A-Noten eingestuft. Ähnlich unglücklich agierten die Konzerne auch in der anschließenden Staatsschuldenkrise. Noch im Dezember 2009 beispielsweise hielt die Agentur Moody’s die Sorgen der Investoren vor einem Liquiditätsengpass für völlig übertrieben.302 Zu diesem Zeitpunkt war bereits der Haushaltsschwindel aufgeflogen. Kein halbes Jahr später musste Griechenland dann gerettet werden.
Ratingagenturen nehmen veränderte Kreditrisiken oft erst mit Verspätung wahr. Ein Beispiel war auch die Asienkrise. Erst als an den Märkten bereits Panik eingetreten war, setzten die Kreditanalysten Hals über Kopf die Ratings der betroffenen Tiger-Staaten herab. Quasi über Nacht wurde aus dem Musterschuldner Südkorea mit der guten Note AA- ein Land, dessen Staatsanleihen nur noch Schrott-Status aufwiesen. S & P senkte das Rating um nicht weniger als zehn Stufen.303 Und auch im Fall von Russland warnten die Analysten nicht gerade frühzeitig vor Ausfällen bei den Staatstiteln. Der renommierte Ökonom Barry Eichengreen beurteilt die Ratings daher auch als »einen hinterherlaufenden Indikator«.304
Die folgende Tabelle führt für die Staatspleiten der neueren Geschichte die Ratings auf, die S & P dem jeweiligen Staat ein Jahr vor dem Kollaps vergeben hat. Viele der Staaten weisen selbst ein Jahr vor dem finanziellen Zusammenbruch noch passable Ratings auf, so etwa Argentinien und Russland mit der Note BB beziehungsweise BB-, immerhin noch der zwölft- und dreizehntbesten von insgesamt 20 Noten. Eine systematische Untersuchung kam dann auch zu dem Ergebnis, dass die Agenturen das Risiko souveräner Schuldner gewöhnlich unterschätzen und in ihrem Urteil zu optimistisch sind.305
Ein Grund für eine systematisch zu positive Beurteilung der Agenturen könnte darin liegen, dass ihre Ratings just von jenen bezahlt werden, die sie kritisch bewerten sollen. Nicht die Nutzer der Ratings, die Anleiheinvestoren, bezahlen für die Analyseleistung, sondern die Unternehmen, Staaten oder Banken, welche die Anleihen an den Markt bringen. Bis zu 2,5 Millionen Dollar müssen Emittenten abhängig von ihrer Größe für das Rating zahlen.307 Damit ergibt sich ein möglicher Interessenkonflikt. Die zahlenden Auftraggeber haben zudem häufig auch einen Einfluss darauf, ob ihre Note veröffentlicht wird.308
Quelle: S & P Sovereign Rating306
Die Branche entgegnet diesem Verdacht mit dem Verweis auf Reputationsschäden, die ihr drohen, sollte sie ihren Kunden Gefälligkeitsnoten ausstellen. Schließlich lebt sie davon, dass ihre Noten als informativ angesehen werden. Wer allen Auftraggebern Traumnoten gibt, läuft Gefahr, nicht mehr ernst genommen zu werden.
Die Ratings eines solchen Anbieters wären dann wertlos – für die Anleger ebenso wie für die Kreditnehmer. Die amerikanische Börsenaufsicht SEC folgte im Jahr 2003 nach einer Untersuchung der Branche der Lesart der Agenturen. In ihrem Bericht schreibt sie zum Thema Interessenkonflikt sinngemäß: »Grundsätzlich waren die Teilnehmer der Anhörung überzeugt, dass die Abhängigkeit der Agenturen von den Gebühren der Emittenten weder zu einem signifikanten Interessenkonflikt führt noch die Objektivität der Kreditratings insgesamt in Frage stellt.«309
Allerdings wird dieser Befund von wissenschaftlichen Beobachtern nicht gerade durchgehend geteilt und stammt wohl noch aus einer anderen Zeitrechnung.310 Die Finanzkrise hat einige scheinbar unverrückbare Gewissheiten verschoben und auch die SEC hat inzwischen eine härtere Gangart gegenüber den Ratingagenturen eingeschlagen.311 Die Ratingagenturen gehörten zu den großen Profiteuren des amerikanischen Hypothekenbooms zu Beginn des neuen Jahrtausends. Sie ließen sich ihre Benotung von zu Paketen geschnürten Hypotheken-Krediten zweifelhafter Qualität von den Banken gut honorieren. Die Finanzinstitute wiederum konnten die später teilweise als »toxisch« eingestuften Pakete mit dem Siegel der Ratingagenturen glänzend weiterkaufen. Viele Hypothekenpapiere, die sich bald als minderwertig erwiesen, wurden mit der Bestnote AAA ausgezeichnet. Moody’s beispielsweise versah zwischen 2000 und 2007 ganze 42 625 solcher Hypothekenpapiere mit der Spitzennote AAA.312
Erst als die Immobilienmärkte kollabierten und damit die den Hypothekenkrediten zugrunde liegenden Sicherheiten zerbröselten, wollte den Ratingagenturen plötzlich das gesamte Risiko aufgefallen sein. Es drängte sich der Verdacht auf, dass die Agenturen die hypothekenbesicherten Papiere für die zahlenden Kunden zu optimistisch bewertet hatten.313 Wie stark sich die Richtlinien, nach denen eine Ratingagentur Kredite beurteilt, auf ihren Erlös auswirken, zeigte sich noch vor dem Ausbruch der US-Immobilienkrise im April 2007. Damals verschärfte die Agentur Moody’s ihre Kriterien für Hypothekenanleihen mit der Begründung, für diese Klasse von Wertpapieren seien keine ausreichenden Sicherheiten vorhanden. Über Nacht wurde Moody’s vom Rating für 70 Prozent aller neuen Anleihen ausgeschlossen. Die zahlenden Emittenten entschieden sich lieber für die Anbieter mit der weniger strengen, besseren Benotung.314
Die Ratingagenturen werden also wegen ihrer vermeintlich zu unkritischen Urteile für das Entstehen der Hypothekenkrise mit verantwortlich gemacht.315 Schließlich waren es die faulen Hypothekenpapiere, die viele Banken in den Ruin zu treiben drohten. Erst großzügige staatliche Rettungsaktionen wie der teilweise öffentliche Ankauf toxischer Papiere konnten eine Pleitewelle der Finanzindustrie verhindern. Ob Ratingagenturen im Allgemeinen krisenverschärfend wirkten, ist wissenschaftlich zumindest umstritten.316