Der weitreichende Einfluss der Ratingagenturen wurde gelegentlich sogar als »nukleare Option« bezeichnet – ein Begriff, den die Agentur Moody’s selbst geprägt hat und die damit in ihrer Selbsteinschätzung in den Rang einer Atommacht aufgestiegen ist.317 Wenn die Ratingexperten in ihren Bewertungen nur das festhalten, was die Investoren im Markt ohnehin schon wissen, also keinen wirklichen Mehrwert mit ihrer Arbeit erbringen, und sich obendrein möglicherweise noch in einem Interessenkonflikt befinden, weil sie von ihren Kunden für die Bewertung bezahlt werden, warum sind sie dann so einflussreich? Finanzwirtschaftler wie Frank Partnoy von der Universität San Diego haben versucht, diesem »Rating-Paradox« auf den Grund zu gehen.318 Sein Ergebnis: Die Ratings der privat organisierten Agenturen haben quasi offiziellen Charakter, weil sie oftmals vom Gesetzgeber zu regulatorischen Zwecken genutzt werden. Zahlreiche Regeln und Finanzmarktregulierungen beziehen sich explizit auf die Bonitätsnoten von S & P, Moody’s & Co. Wenn staatlich regulierte Pensionskassen, Lebensversicherer oder Investmentfonds in einigen Ländern von Gesetzes wegen ausschließlich in Anleihen mit einer bestimmten Mindestbonitätsnote investieren dürfen, müssen diese Anleger verkaufen, sobald eine Anleihe von den Agenturen heruntergestuft wird.
Auch die Eigenkapitalanforderungen für die Banken, wie sie im Abkommen Basel II festgelegt sind, stellen teilweise bei der Beurteilung von Bilanzrisiken auf Kreditratings ab.319 Nicht zuletzt verleihen die Notenbanken bei ihren Geldgeschäften den Agenturen freiwillig Einfluss. Wer bei der Europäischen Zentralbank (EZB) Geld leihen will, muss nach Artikel 18 der EZB-Satzung Sicherheiten hinterlegen, die den eigenen »hohen Bonitätsanforderungen« gerecht werden.320 Bei der Beurteilung stützte sich die Notenbank in der Vergangenheit maßgeblich auf die Expertise externer Ratingagenturen. Fiel eine Anleihe unter ein Mindestrating, war sie als Kreditsicherheit für die Notenbank nicht mehr akzeptabel.
Dass diese Abhängigkeit von der EZB »hausgemacht« war, hat sie bewiesen, als sie im Zuge der Griechenlandkrise von dieser Regel einfach abgewichen ist. Bis zur Finanzkrise konnten Banken lediglich Papiere mit einer Mindestnote A als Pfand bei der EZB hinterlegen. Diese Standards wurden dann Stück für Stück gelockert. In einem ersten Schritt ließen sich auch Anleihen mit einer Bonitätsnote bis BBB- (Moody’s: Baa3) bei der EZB gegen Kredite verpfänden. Als Griechenland nach etlichen Rückstufungen mit seinen Anleihen Gefahr lief, selbst unter dieses gelockerte Mindestrating zu fallen, wurde das Ratingkriterium für Schuldtitel der Eurozone einfach aufgehoben und für andere Papiere weiter aufgeweicht. Seit Mai 2010 können griechische Anleihen unabhängig von jeglichem Rating bei der EZB für Kredite verpfändet werden.
Drei große Agenturen teilen sich den Markt weitgehend untereinander auf. Die beiden großen Anbieter S & P und Moody’s halten 43 beziehungsweise 36 Prozent, Fitch als Nummer drei immerhin noch 16 Prozent Marktanteil.321 Als sogenannte Nationally Recognized Statistical Rating Organizations (NRSRO’s) bekommen ihre Analysen in den USA quasi offiziellen Charakter, weil die US-Börsenaufsicht SEC für regulatorische Zwecke allein NRSRO-Ratings heranzieht.322 Finanzwirtschaftler Partnoy stuft die Zutrittsbarrieren zum Markt – also die Hürden für eine weitere Agentur, ebenfalls von der SEC NRSRO-Status zu erhalten – als »prohibitiv« ein. Auch ökonomische Größenvorteile und hohe Wechselkosten beeinträchtigen den Wettbewerb. »Unter dem Strich bekommen die Ratings dieser Agenturen für die Finanzmarktakteure einen Wert, selbst wenn ihr Informationsgehalt nicht größer ist als öffentlich zugängliche Informationen, die sich bereits in den Kursen reflektieren.«323 Partnoy zufolge ist es weniger der Informationswert der Ratings, der die Agenturen so mächtig macht, als vielmehr der politisch begründete Lizenzwert der Bonitätsnoten.
Die Politik diskutiert darüber, den Einfluss der Ratings zu begrenzen. So will das Forum für Finanzstabilität die Bedeutung der Bonitätsnoten für die Berechnung der Eigenkapitalanforderungen der Banken reduzieren. Diskutiert wird auch die Schaffung einer europäischen Ratingagentur, die nach dem Vorbild der Stiftung Warentest aus Steuermitteln finanziert wird und etwa unter dem Dach der EZB angesiedelt sein könnte. Auch ein solches Geschäftsmodell birgt natürlich potenzielle Interessenkonflikte. Staaten als Finanziers einer öffentlich finanzierten Ratingagentur wären schließlich Emittenten, Investoren und Regulierer zugleich.324
Der Erfolg einer europäischen Ratingagentur ist daher fraglich. Ein solcher Neueinsteiger hätte zunächst ein Glaubwürdigkeitsproblem und müsste sich seine Reputation in einem langwierigen Prozess erst erarbeiten. Zudem stünde eine solche Agentur stets im Verdacht, europäische Emittenten zu bevorzugen und liefe damit Gefahr, international kaum Gehör zu finden. Auch eine europäische Agentur, die die Zahlungsfähigkeit eines Staates bewerten wollte, müsste dessen Politik akribisch analysieren. Das gilt umso mehr, als in der Eurozone die Staaten untereinander milliardenschwere Bürgschaften eingehen, die bei einer Bonitätsbeurteilung berücksichtigt werden müssen. Die Kritik, dass S & P, Moody’s und Fitch sich zu sehr in die Politik einmischen, greift daher zu kurz. Eine europäische Agentur müsste es genauso machen, wenn sie glaubwürdig sein wollte.