Die deutschen Staatsschulden sind nicht die Schulden einer Regierung, deren Laufzeit mit dem Regierungswechsel endet. Es sind die Schulden »der Bundesrepublik Deutschland«, oder der jeweiligen Bundesländer. Die Bundesrepublik Deutschland und die Bundesländer sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie leben im Prinzip unendlich lange. Ein Staat wie Deutschland hat immerwährenden Bestand, sieht man einmal von gelegentlichen Revolutionen, dem Hunnensturm oder Meteoriteneinschlägen ab. Und selbst wenn es zu grundlegenden Veränderungen kommt, wie Deutschland sie mit dem Wandel vom Kaiserreich zur Weimarer Republik erlebt hat, oder mit dem Ende des Nationalsozialismus oder dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik, dann gibt es einen Rechtsnachfolger der alten Regierung. Dieser Rechtsnachfolger erbt in aller Regel den Schuldenbestand der Vorgänger.
Die »Unsterblichkeit« des Staats macht wirklich einen substanziellen Unterschied aus zwischen einem Staat und Privatpersonen. Die Bundesrepublik Deutschland kann im Grunde einen Kredit aufnehmen und die Schuld Jahre und Jahrzehnte später durch einen neuen Kredit begleichen. Sie kann diese neuen Schulden durch einen erneuten Kredit Jahre später bedienen, und so fort.
Kann ein Staat so seine Schulden immer wieder umschulden und die Schulden letztendlich wirklich niemals zurückzahlen? Tatsächlich funktioniert die Staatsverschuldung zum Teil nach diesem Prinzip. Der Staat leiht sich das Geld in der jeweiligen Periode in der Regel, indem er Anlegern festverzinsliche Wertpapiere mit einer Laufzeit von einigen Monaten oder Jahren verkauft. Ganz konkret befasst sich mit dieser Anschlussfinanzierung die »Bundesrepublik Deutschland – Finanzagentur«. Das klingt modern und unschuldig. Früher hatte die Finanzagentur den ehrlicheren Namen »Bundesschuldenverwaltung«. Die Finanzagentur hat in ihrem Angebot sogenannte unverzinsliche Schatzanweisungen mit einer Laufzeit von sechs Monaten, unverzinsliche Schatzanweisungen mit einer Laufzeit von zwölf Monaten, Bundesschatzanweisungen mit einer Laufzeit von zwei Jahren, Bundesobligationen mit einer Laufzeit von fünf Jahren, Bundesanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren und mit einer Laufzeit von dreißig Jahren, sowie sogenannte inflationsindexierte Bundeswertpapiere, Anleihen in Fremdwährungen, Finanzierungsschätze, Bundesschatzbriefe, Tagesanleihen und Schuldscheindarlehen.
Im September 2009 beispielsweise betrug der Anteil der Bundesanleihen 57 Prozent und der Anteil der Bundesobligationen 16,9 Prozent.332 Das zeigt, dass die Bundesschulden überwiegend durch Wertpapiere mit verhältnismäßig langer Laufzeit finanziert sind. Die Zinsen fallen während der Laufzeit an, und nach deren Ende zahlt der Staat dem Kreditgeber den geliehenen Betrag zurück. Gleichzeitig verkauft der Staat ungefähr in gleichem Umfang neue Staatsschuldpapiere an neue Gläubiger. Er benutzt das Geld aus dem Verkauf der neuen Papiere zur Begleichung seiner alten Schulden. Der Umfang dieser Transaktionen ist beträchtlich. Die Finanzagentur plante im Dezember 2009 für das Jahr 2010, Staatsschuldtitel im Umfang von 343 Milliarden Euro an Kreditgeber zu verkaufen.333 Das ist ein Betrag, der viel größer ist als die geplante Nettokreditaufnahme des Bundes.
Wenn der Staat seine alten Schulden einfach durch die Aufnahme neuer Schulden bedienen kann, könnte er auf die Idee kommen, nicht nur den Betrag der Schuld selbst durch einen neuen Kredit zu finanzieren. Er könnte daran denken, auch die Zinsen auf den alten Kredit durch einen entsprechend größeren Kredit zu finanzieren, und bei der nächsten Zahlung von Zins und Tilgung einfach noch mehr Kredit aufzunehmen. Sollte das auf ewige Zeiten möglich sein, dann wäre das so eine Art Perpetuum mobile: Der Staat könnte sich einfach neue Finanzmittel besorgen, ohne dafür jemals belastet zu werden. Mit den zusätzlichen Finanzmitteln könnte der Staat seinen Bürgern Gutes tun. Genuss ohne Reue, sozusagen, oder Schulden ohne Sühne. Die Schulden nebst Zinsen und Zinseszinsen würden einfach unendlich weit in die Zukunft verlagert. Aber kann das funktionieren? Der Vorgang klingt faszinierend, aber auch ein wenig wie eine Geschichte aus »Alice im Wunderland« oder eine der Phantasiegeschichten des Barons von Münchhausen.
Aus der Privatwirtschaft kennen wir Schneeballsysteme wie das des Trickbetrügers Charles Ponzi (1882 – 1949).334 Das englische Wort für Schneeballsystem ist nach ihm benannt: »Ponzi scheme«. Ponzi hat Anleger überredet, ihm angeblich unglaublich profitable Anteile an seinem Geschäft mit internationalen Postantwortcoupons abzukaufen. In Wahrheit war das Postantwortcoupongeschäft recht unbedeutend. Ponzi hat den Sparern aber hohe Gewinne als Dividenden zugewiesen, die er einfach aus neu angelegten Geldern finanziert hat. Das ging so lange gut, bis die Investoren begriffen haben, dass das Geschäftsmodell von Ponzi nicht nachhaltig ist. Der Zusammenbruch ist unausweichlich, sobald hinreichend viele Anleger ihr Geld ausbezahlt haben möchten.
Schneeballsysteme werden immer wieder erfolgreich ins Leben gerufen. Ein Beispiel ist das dem Vernehmen nach auf ähnlichen Prinzipien aufgebaute Kapitalanlagegeschäft des Investmentbankers und Bankrotteurs Bernard (Bernie) L. Madoff.335 Das Wesen solcher Schneeballsysteme in der privaten Wirtschaft ist, dass sie irgendwann zusammenbrechen. Über kurz oder lang reichen die Zuflüsse an neuem Geld nicht aus, den alten Investoren ihre phantastischen Renditen zu zahlen, oder für die Geldabflüsse von Investoren aufzukommen, denen das Geschäftsmodell suspekt wird. Dann geht nichts mehr, das Spiel ist zu Ende und die Investoren, die ihr Geld nicht rechtzeitig abgezogen haben, teilen sich die leere Kasse.
Ob dagegen auf staatlicher Ebene ein Schneeballsystem des Schuldendiensts durch das Aufnehmen immer neuer Schulden funktionieren kann, ist keine ganz einfache Frage. Betrachten wir uns den Vorgang noch einmal etwas konkreter, um zu sehen, wo die Geschichte ihren Haken hat. Der deutsche Staat hatte zum Ende des Jahres 2009 einen Betrag von fast 1 700 Milliarden Schulden.336 Die Schätzungen für die Staatsschuldenquote im Dezember 2009 betrugen 73,1 Prozent, 76,7 Prozent und 79,7 Prozent für die Jahre 2009 bis 2011.337 Wenn der deutsche Staat ausgehend von diesem Schuldenstand des Jahres 2009 in den kommenden Jahren einen Zins von fünf Prozent pro Jahr zahlen muss und alle Zinsen und Zinseszinsen einfach durch die Aufnahme weiterer Kredite aufbringt, ansonsten aber auf die Aufnahme weiterer Kredite verzichtet, dann wächst diese Staatsschuld mit Zins und Zinseszins innerhalb der kommenden 100 Jahre von knapp 1 700 Milliarden auf rund 253 000 Milliarden Euro an. Das ist eine aus heutiger Sicht unglaublich große Summe. Allein die jährlichen Zinsen im Jahr 2110 aus dieser Summe würden 12 970 Milliarden Euro betragen und wären damit rund 7,6 Mal so groß wie der gesamte Schuldenbestand zu Beginn des Jahres 2010 und rund fünf Mal so groß wie das deutsche Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2010.
Müsste dieses System nicht spätestens zu diesem Zeitpunkt kollabieren? Oder könnte man den unglaublichen Betrag von 253 000 Milliarden Euro nebst der anfallenden Zinsen im Jahr 2110 einfach durch neue Kredite finanzieren? Und so für immer weitermachen? Unter Wirtschaftstheoretikern und Wirtschaftspolitikern ist heute die Auffassung weit verbreitet, dass Staatsschulden doch eine ganz erhebliche reale Last darstellen, dass die Zinslast eine reale Last ist, dass es deshalb nicht gleichgültig ist, wie hoch die Staatsschuld aktuell ist.
Wie wir bereits diskutiert haben, ist für die Tragfähigkeit von Staatsverschuldung weniger ihre absolute Höhe entscheidend als ihr Verhältnis zur Wirtschaftskraft des Landes. Letztere wird meist in Form des Bruttoinlandsprodukts gemessen und das Verhältnis von Schulden zu Wirtschaftskraft als Schuldenquote bezeichnet.
In unserem Zahlenbeispiel hatten wir die Folgen für den Schuldenberg zu Beginn des Jahres 2010 betrachtet, wenn der deutsche Staat diese 1 700 Milliarden Euro einfach durch immer neue Schulden finanziert. Wir hatten einen Zins von fünf Prozent pro Jahr unterstellt und festgestellt, dass so die Staatsschuld mit Zins und Zinseszins innerhalb der kommenden 100 Jahre von 1 700 Milliarden auf rund 253 000 Milliarden anwachsen würde. Unterstellt man beispielsweise, dass das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands in den kommenden 100 Jahren jährlich ebenfalls um fünf Prozent wachsen wird, dann beträgt das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2110 etwa 356 000 Milliarden Euro. Ausgedrückt als Anteil an der Wirtschaftskraft Deutschlands ergibt sich damit im Jahr 2110 eine Schuldenquote, die mit der Schuldenquote des Jahres 2010 haargenau identisch ist. In diesem Fall ist die gigantische Schuldensumme von 253 000 Milliarden Euro also gar nicht mehr so furchterregend. Im Verhältnis zur Wirtschaftskraft bleiben die Schulden gleich hoch.
Noch günstiger stellt sich die Lage dar, wenn das Wirtschaftswachstum noch höher ausfällt. Unterstellt man, dass die deutsche Wirtschaft in den kommenden 100 Jahren ausgehend von einem geschätzten Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2010 von rund 2 400 Milliarden Euro durchschnittlich z. B. um sieben Prozent pro Jahr wächst, dann beträgt das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2110 ungefähr 2 630 000 Milliarden Euro. Die Schuldenquote wird dann von 2010 auf 2110 von gut 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf unter zehn Prozent sinken. Wächst die Wirtschaft des Landes also hinreichend schnell, d. h. mit einer Rate, die den Zinssatz auf die Staatsschulden übersteigt, dann kann ein Staat ganz einfach aus seinen Schulden herauswachsen. Die Schulden wachsen zwar immer weiter, und zwar um Zinsen und Zinseszinsen. Aber gemessen an der Wirtschaftskraft und der Größe des staatlichen Haushalts werden diese Schulden zu einem vernachlässigbar kleinen Prozentsatz.
Leider gibt es neben den zwei beschriebenen Fällen noch den dritten Fall. Dieser Fall ist in der realen Welt, in der wir leben, vielleicht besonders plausibel. In diesem Fall sind die Wachstumsraten der Wirtschaftskraft im Durchschnitt dauerhaft niedriger als der Zins, der für Staatsschulden gezahlt werden muss. Unterstellt man in dem Rechenbeispiel einmal, dass das Wachstum der Wirtschaftskraft Deutschlands ausgehend von dem Schätzwert für 2010 in den darauffolgenden 100 Jahren durchschnittlich nur drei Prozent pro Jahr beträgt, dann wächst das Bruttoinlandsprodukt bis zum Jahr 2110 auf »nur« rund 48 200 Milliarden Euro. Bei unveränderter Entwicklung der Staatsschulden ergibt sich in diesem Beispiel für das Jahr 2110 dann eine Schuldenquote von deutlich über 500 Prozent. Das ist eine höhere Schuldenquote, als sie die USA oder Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg hatten, mehr als doppelt so hoch wie die gemeinhin als sensationell hoch betrachtete Staatsschuldenquote in Japan und ein Vielfaches der Schuldenquote von Griechenland, die das Land an den Rand des Staatsbankrotts gebracht hat.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die unendliche Lebensdauer des Staats macht eine Münchhausen-Lösung der dauerhaften Finanzierung von Staatsverschuldung durch Staatsverschuldung zu einer denkbaren Möglichkeit. Der Staat finanziert dabei seine Schulden und die laufenden Zinsen einfach durch die Ausgabe immer neuer Schuldverschreibungen. Dabei wächst ihm die Schuldenquote nur dann über den Kopf, wenn der Zins, den er auf seine Schulden zahlen muss, dauerhaft höher ist als die durchschnittliche Rate, mit der das Bruttosozialprodukt wächst.
Ökonomen haben argumentiert, dass dieser Fall schon aus theoretischen Gründen leider weniger relevant ist. Ein solches Schneeballsystem kann zum Beispiel zu Fall gebracht werden, wenn die Wachstumsrate und der Zins teilweise unabhängigen Zufallseinflüssen unterliegen. Außerdem sind einem Schneeballsystem auf staatlicher Ebene aus theoretischer Sicht Grenzen gesetzt, wenn die Wirtschaft zum Teil mit Produktionskapital arbeitet, das sich nicht beliebig vermehren lässt – wie etwa Grund und Boden.338
In den vergangenen Jahren profitierten die öffentlichen Haushälter noch von stetig sinkenden Zinsen. Das verdeckte die Zusatzbelastungen der öffentlichen Haushalte durch den eigentlichen Schuldenanstieg.339 Aus Angst vor einer Großen Depression flüchteten sich während der Finanzkrise viele Anleger in Regierungstitel und akzeptierten niedrigste Verzinsungen. Die Nullzinspolitik der Notenbanken tat das Übrige, um die Sätze niedrig zu halten.340 Allerdings hat sich bereits seit Anfang 2010 die Stimmung gedreht. Ein Gefühl von besonderer Sicherheit geben Staatsanleihen nicht mehr, seit sich an den Märkten langsam die Meinung durchsetzt, dass die Regierungen das Schuldenrad überdrehen. Den Gesetzen von Angebot und Nachfrage können sich die Zinsen für Staatsschuldpapiere langfristig nicht entziehen. Je mehr Anleihen auf einmal auf den Markt kommen, desto höhere Zinsen müssen Staaten den Kreditgebern dafür bieten. Und tatsächlich kommt die Münchhausen-Lösung in der Praxis über längere Zeiträume selten vor, zumindest nicht im Deutschland der vergangenen Jahrzehnte. So zeigt der Sachverständigenrat in seiner Expertise »Staatsverschuldung wirksam begrenzen«, dass die Umlaufrendite festverzinslicher Anleihen der öffentlichen Hand mit einer Laufzeit von neun bis zehn Jahren seit 1980 über der nominalen Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts gelegen hat.341 Weiter zurückgeblickt: Die damalige Bundesrepublik hatte im Jahr 1960 eine Schuldenquote von rund 20 Prozent (vgl. auch Abbildung 14). Hätte Deutschland diese Schuld und die Zinsen durch die Ausgabe immer neuer Staatsschuldtitel zu den dann herrschenden Marktbedingungen finanziert, dann wäre aus einem Euro Schulden im Jahr 1960 drei Jahrzehnte später ein Schuldenbetrag von 35,9 Euro geworden.342 Gleichzeitig ist das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner von 2 792 auf geschätzt 30 145 im Jahr 2010 gestiegen (jeweils in laufenden Preisen).343 Es ist also nominal um den Faktor 10,8 gewachsen. Damit hätte sich die Schuldenquote als Anteil des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts von 20 Prozent auf 66,5 Prozent erhöht. Das Beispiel illustriert, dass in den vergangenen 50 Jahren der Zins insgesamt deutlich höher war als die nominale Wachstumsrate der Wirtschaftskraft. Auf die Münchhausen-Lösung sollten wir also nicht hoffen.