Als die USA als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen, waren sie nicht nur die mächtigste Nation auf der Erde. Die USA hatten 1946 auch eine historisch beinahe einmalig hohe Staatsschuld mit einer Schuldenquote von über 100 Prozent. Ohne faktisch den Schuldenbestand in seiner absoluten Höhe je nennenswert zu reduzieren, haben die USA ihre Schulden im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft in den folgenden zehn Jahren deutlich reduziert. Teilweise half dabei ein reales Wachstum der Wirtschaft. Die Erhöhung des Preisniveaus, die Inflation, hat bei der Senkung der Schuldenquote aber entscheidend mitgeholfen.382
Wie eine moderate Inflation das Staatsschuldenproblem lindern kann, lässt sich an einem Rechenbeispiel illustrieren. Betrachten wir Herrn K., den stolzen Käufer einer Staatsschuldanleihe im Jahr 1945. Herr K. kauft die Anleihe zum Ausgabekurs von 100 Dollar. Vereinbart ist, dass die Anleihe zehn Jahre läuft und jeweils zum Jahresende dem Besitzer fünf Prozent Zinsen, also fünf Dollar ausgezahlt werden. Am Ende der Laufzeit soll Herr K. zudem seine 100 Dollar zurückerhalten. Nehmen wir außerdem an, dass diese fünf Prozent auch die Verzinsung ist, die Herr K. für andere Kapitalmarktprodukte als Rendite erhalten könnte. In der Ausgangssituation geht Herr K. davon aus, dass die jährliche Kaufkraftentwertung durch Inflation null Prozent beträgt. Würde Herr K. seine Staatsanleihen am Tag nach dem Kauf weiterverkaufen wollen, würde er dafür ungefähr 100 Dollar (zuzüglich eines minimalen Betrags für die Zinsen für den einen Tag) erhalten. Noch einen Tag später erfährt Herr K. (und mit ihm alle anderen Marktteilnehmer), dass die Inflation in den kommenden zehn Jahren nicht null Prozent pro Jahr, sondern vier Prozent pro Jahr betragen wird. Welche Wertänderungen ergeben sich für die von Herrn K. gekaufte Staatsanleihe? Ein möglicher Käufer zwei Tage nach Ausgabe der Anleihe wird folgendes Kalkül anstellen. Er kann sein Geld entweder am Kapitalmarkt anlegen. Dort werden mögliche Kreditnehmer nun einen Inflationsausgleich anbieten, so dass die Nominalverzinsung nicht weiter fünf Prozent, sondern 5 + 4 = 9 Prozent betragen wird. Oder er kauft Herrn K. die betrachtete Staatsanleihe ab. Das tut er nur dann, wenn der Preis der Staatsanleihe so weit sinkt, dass die Rendite, die er beim Kauf hat, so hoch ist wie für andere Formen der Investition. Eine einfache Berechnung der Barwerte zeigt, dass die Staatsanleihe mit einer Verzinsung von fünf Prozent pro Jahr und einer Rückzahlung von 100 Dollar zum Ende der 10-jährigen Laufzeit, die gestern noch 100 Dollar wert war, diese Rendite erbringt, wenn man sie am Tag Zwei nach der Emission für ca. 65,5 Dollar kaufen kann. Der Wert der Staatsschuld sinkt also durch die veränderte Inflationserwartung von einem Tag auf den anderen um rund 34,5 Prozent.
Inflation ist deswegen eines der Zaubermittel in den Händen der Staatenlenker, wenn es darum geht, der ausufernden Staatsschuld zu Leibe zu rücken. Um Staatsschulden durch Inflation zu verringern, sind drei Faktoren entscheidend. Erstens: Der Trick funktioniert nur, wenn der Staat die Inflation tatsächlich entsprechend beeinflussen kann. Ein Staat, der seine Währung über seine Zentralbank kontrollieren kann, hat dafür eigentlich ein gutes Mittel in den Händen. Er muss aber mitunter den Zentralbankern hierzu Gewalt antun, da es normalerweise deren erklärter Auftrag und Ehrgeiz ist, den Geldwert zu erhalten. Zweitens: Die Staatsschuld muss aus Schuldtiteln mit hoher Laufzeit bestehen. Hätte der Staatsschuldtitel von Herrn K. in dem Rechenbeispiel nicht eine Laufzeit von zehn Jahren gehabt, sondern von nur einem Jahr, wäre durch die Erhöhung der Inflation von null auf vier Prozent eine viel kleinere Abwertung der Staatsschuld statt um 34,5 Prozent um nur 3,7 Prozent auf 96,3 Dollar zu Stande gekommen. Die Inflation ist also umso wirkungsvoller, je länger die Zeitspanne ist, in der die Halter von Staatsschuldtiteln sich mit einer niedrigen nominalen Verzinsung begnügen müssen und je später das eingesetzte Kapital zurückgezahlt wird. Drittens: Die Marktteilnehmer müssen von der erhöhten Inflation überrascht werden. In unserem Beispiel hätte Herr K. das Staatspapier niemals für 100 Dollar gekauft, hätte er geahnt, dass bald darauf und für die kommenden zehn Jahre die Preissteigerungsrate nicht bei null, sondern bei vier Prozent sein würde. In diesem Fall hätte Herr K. dem Staat für das Papier nur 65,5 Dollar geboten.
In den USA waren diese drei Bedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg erfüllt. Es gab in der Zeit zwischen 1946 und 1955 allgemeine Preissteigerungen von durchschnittlich 4,2 Prozent im Jahr, mit einem Maximum von 14,4 Prozent in 1947, gleich zu Beginn der Konsolidierungsphase. Die durchschnittliche Laufzeit der ausgegebenen Staatsanleihen war neun Jahre, also ähnlich groß wie in dem gerade betrachteten Zahlenbeispiel. Und die Inflation nach dem Krieg kam offenbar für viele Anleger überraschend. Das lässt sich aus der Tatsache erschließen, dass es ohne eine Überraschung gegenüber dem Ausgabezeitpunkt der Wertpapiere nicht zu einem Wertverfall hätte kommen können. Die Anleger hätten die Inflation dann »eingepreist«: Sie hätten entweder einen höheren Nominalzins oder einen Abschlag auf den Ausgabekurs der Staatsschuldtitel gefordert.383
Seit den Tagen nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich in den USA die durchschnittliche Laufzeit der Staatsschuldtitel erheblich verringert. Der Anteil der Anleihen mit einer Restlaufzeit von maximal einem Jahr beträgt nunmehr 40 bis 45 Prozent. Ein Anteil von zwischen sieben und acht Prozent der Staatsschuld ist sogar inflationsindexiert, das heißt die Verzinsung der Anleihe steigt nach einer festen Regel, wenn die Inflationsrate ansteigt.384 Insofern würde eine steigende Inflation auch schnell die staatlichen Refinanzierungskosten erhöhen. Was eine Inflationspolitik in den USA heute trotzdem vielleicht noch attraktiver macht als unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, ist der hohe Anteil an Bonds, die von Investoren außerhalb der USA gehalten werden. Regierungen sind in der Regel darauf verpflichtet, das Wohl ihrer eigenen Bevölkerung zu mehren, nicht das Wohl von ausländischen Kapitalgebern. Eine Entwertung der Schulden durch Inflation ist für eine Regierung deshalb als Politikoption attraktiver, wenn die Schulden von ausländischen Gläubigern gehalten werden.
In Europa dürfte Inflation als Entschuldungselixier bei den einzelnen Mitgliedsstaaten auf ein gemischtes Interesse stoßen. Obgleich über alle Länder betrachtet das Schuldenniveau extreme Werte erreicht hat, vergleichbar mit der Situation vieler Länder nach dem Zweiten Weltkrieg, sind die Mitglieder der Eurozone sehr verschieden aufgestellt. Unterschiede in den Staatsfinanzen zeigen sich bereits in den ausgewiesenen Schuldenquoten und den Bonitätsnoten der Ratingagenturen. Wie nützlich für die Länder eine höhere Inflation wäre, hängt zudem ganz zentral von der Struktur und den Laufzeiten ihrer Schulden ab. Wie das obige Rechenbeispiel zeigt, ist Inflation nur dann wirklich nützlich, wenn die durchschnittlichen Laufzeiten der Schuldtitel hoch sind und der Großteil der Schulden nicht inflationsindexiert ist. In Deutschland hatten von den Kreditmarktmitteln des Bundes Ende 2011 beispielsweise gut 20 Prozent eine Restlaufzeit von unter einem Jahr, gut 30 Prozent eine Restlaufzeit zwischen einem und vier Jahren und fast 50 Prozent eine Restlaufzeit von über vier Jahren. Ein Anteil von etwas über vier Prozent dieser Anleihen ist inflationsindexiert.385 Die Finanzagentur des Bundes gibt die durchschnittliche Laufzeit der gesamten Bundesschuldenpapiere mit sechs Jahren an. Damit befindet sich Deutschland in guter Gesellschaft. Am höchsten sind die durchschnittlichen Laufzeiten mit 14 Jahren in Großbritannien. Viele Beobachter halten wegen dieser Laufzeiten die Inflationsgefahr im Vereinigten Königreich für besonders groß.386
Das Kernproblem der Entschuldung durch Inflation besteht darin, dass man die Kreditgeber mit der Inflation überraschen muss. Sie müssen langfristig laufende Staatspapiere zu niedrigen Zinsen kaufen und dann muss die Inflation zuschlagen. Kreditgeber sind nicht dumm und sie verfügen heutzutage über umfassende Informationen angefangen von Notenbankprotokollen bis zu Preisindikatoren, die an der Börse gehandelt werden. Investoren mit Inflation zu überrumpeln, ist schwierig, oft auch unmöglich. Wird eine zunehmende Geldentwertung erst einmal erwartet, wird sie »eingepreist«, und die Länder müssen einen Zins für ihre Staatsanleihen bieten, der um den Sprung in der Inflationsrate höher ist. Außerdem wird es für Staaten schwieriger, Anleihen mit langer Laufzeit zu platzieren. Die Anleger könnten argwöhnen, dass diese Anleihen dazu dienen, im Anschluss noch einmal die Inflationsrate anzuheben und so doch noch eine teilweise Entwertung der Staatsschuld zu erreichen.
Die Entschuldung durch Inflation hat also ihre Schwächen. Regierungen versuchen deshalb mitunter ein anderes Mittel: die finanzielle Repression. Dabei geht es darum, das Geld der Anleger in den Kauf von Staatsschuldtiteln mit sehr unattraktiven Zinsen zu lenken. Weil Kreditgeber solche Staatsanleihen nicht unbedingt freiwillig kaufen, muss der Staat massiv intervenieren. Durch Kapitalverkehrskontrollen oder das Verbot von Auslandskonten oder Devisenbesitz soll das Kapital im Inland gehalten werden. Ist das geschafft, geht es nur noch darum, alternative Investitionen im Inland einzuschränken, zu besteuern oder auf andere Weise weniger attraktiv zu machen, oder den Kauf von wenig rentierlichen Staatsschuldtiteln einfach vorzuschreiben.
Solche Repression gelang in den national sehr abgeschotteten Kapitalmärkten der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ganz gut, auch dank der weit verbreiteten internationalen Kapitalverkehrsbeschränkungen. Obergrenzen für Zinsen in privaten Kreditmärkten machten Privatkredite weniger attraktiv. Und ein Übriges taten Anlagevorschriften für Lebensversicherungen und Pensionsvereine, mit denen diese gezwungen waren, einen Großteil des von ihnen verwalteten Sparvermögens in Staatsschuldpapiere zu investieren. Auch Maßnahmen, die andere Formen der Kapitalanlage schwieriger oder weniger attraktiv machten und z. B. mit besonderen Steuern belegten, haben diese Politik unterstützt. »Liquidation der Staatsschuld durch finanzielle Repression« nennen die US-amerikanischen Ökonominnen Carmen Reinhart und Belen Sbrancia diese Nachkriegsvorgänge.387
Der von den USA und anderen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg beschrittene Weg könnte auch für hoch verschuldete Staaten am Anfang des 21. Jahrhunderts zu einer Versuchung werden. Regierungen manipulieren bereits heute die Märkte zu ihren Gunsten und zu Ungunsten der Sparer. Entsprechende Regulierungsvorschriften für Banken haben wir in Kapitel 8 schon behandelt. Dass Banken keinen Eigenkapitalpuffer für ihre Investitionen in nur vermeintlich sichere Staatsschuldtitel vorhalten müssen, wohl aber, wenn sie Kredite an Unternehmen oder Hypothekendarlehen vergeben, verzerrt den Kapitalmarkt zu Gunsten von Staatspapieren. Um die Billionen bei anderen Kapitalsammelstellen hat sich die Europäische Kommission »gekümmert«. Sie hat eine Direktive zur Reform der Regulierung des Versicherungsgeschäfts und damit auch der Solvabilitätsvorschriften von Versicherungsunternehmen vorbereitet (»Solvency II«). In diesem Zusammenhang weist sie Staatsschuldtiteln der Eurozone als Risikoklasse ein Marktrisiko von null zu. Sie treibt Versicherungen in ihrem Kapitalanlageverhalten damit in europäische Staatsschuldtitel, weil die Versicherungen für diese Anlageform geringere Mengen an Eigenkapital vorhalten müssen.388 Vordergründig sollen durch diese Vorschriften die Finanzmärkte robuster und weniger krisenanfällig werden. Doch die Vorschriften nötigen oder veranlassen Kapitalsammelstellen und Banken, hohe Anteile ihrer Anlagen in Form von angeblich sicheren Staatsanleihen zu halten, trotz magerer Renditen.389
Seit Sommer 2011 rutschten die Renditen für Bundesanleihen so weit, dass die reale Verzinsung je nach Laufzeit deutlich unter der Inflationsrate lag. Dies war nicht allein ein Ergebnis finanzieller Repressionsmaßnahmen, es zeigt aber ihr Potential für die Haushaltssanierung. Unmittelbarer Gewinner ist der Bundesfinanzminister, der sich so elegant seiner Verbindlichkeiten entledigen kann. Die Leidtragenden sind die Sparer, deren Vermögen sukzessive an Wert verliert. Die finanzielle Repression wirkt im Grunde wie eine Steuer auf die Ersparnisse. Für die Politik ist dieses Instrument aber besonders attraktiv, weil die Steuer im Verborgenen wirkt – im Gegensatz zu offenen Steuererhöhungen, Ausgabenkürzungen oder gar einer Hyperinflation.
Ein Instrument zur Entschuldung, das nicht wie finanzielle Repression gegen die Marktkräfte angeht, sondern Marktwirkungen nutzt, ist der Aufkauf von Staatsschuldtiteln durch die staatliche Notenbank. Diese Aufkäufe verknappen das Angebot an Staatsschuldtiteln. Und wie auf jedem normalen Markt führt diese »Kurspflege« zu einer Preiserhöhung, was bei Staatsschuldtiteln niedrigere Staatsschuldzinsen bedeutet. Besonders aktiv greifen schon heute die USA und Großbritannien am Anleihemarkt ein. »Hier sind es die Herren des Geldes«390, wie der Autor Liaquat Ahamed die Währungshüter nennt, die seit 2009 Staatsschuldtitel in nennenswertem Umfang aufkauften. Mit Erfolg: Verschiedene Studien kamen zu dem Ergebnis, dass durch die Notenbankkäufe das Zinsniveau zwischen 25 und 100 Basispunkten niedriger lag als dies ohne Interventionen der Fall gewesen wäre.391 Diese Politik hatte auch zur Folge, dass die amerikanische Notenbank im Frühjahr 2011 zum größten Gläubiger der Vereinigten Staaten aufstieg.392
Alle drei Entschuldungsverfahren – Entschuldung durch Überraschungsinflation, die finanzielle Repression und die »Kurspflege« durch die Intervention an den Bondmärkten – sind Elixiere von einiger Wirkung. Gewarnt werden muss aber vor den Nebenwirkungen. Erwartungen auf hohe Inflation verstetigen sich gern und lassen sich nur schwer wieder beseitigen. Repression schafft Ausweichreaktionen. Die massiven Kapitalmarkteingriffe vermindern Ersparnis und Investitionen. Vom gefährlichen Spiel mit der Verschuldung des Staats bei der Zentralbank war bereits im Zusammenhang mit der Kriegsfinanzierung des Ersten Weltkriegs in diesem Kapitel die Rede.