Ein anderer radikaler Weg der Entschuldung besteht darin, die Zahlung der Schulden einfach zu verweigern oder die Schulden per Dekret teilweise oder ganz zu entwerten. Nach Revolutionen war dies mitunter der Fall, wenn die neuen Machthaber die Schulden der Vorgänger nicht anerkannten. Zum Beispiel geschah das in Russland nach der Oktoberrevolution im Jahr 1918, in China im Jahr 1949 oder in Kuba 1960. Die Ratingagentur Moody’s beziffert die Schulden Russlands im Jahr 1918 auf 3 385 Millionen Pfund, das wären in heutiger Kaufkraft rund 122,9 Milliarden Pfund Sterling.
Mitunter ist der Staatsbankrott aber auch die einzige Alternative, vor allem, wenn Staaten einen Großteil ihrer Schulden nicht in Form der eigenen Währung haben. Gerade ökonomisch schwächere Länder haben oft nicht die Möglichkeit, sich in großem Stil in der eigenen Währung zu verschulden, weil die meisten internationalen Anleger keine Staatsanleihen halten möchten, die etwa auf ukrainische Hryvnia lauten. Viele Ökonomen sehen in der Verschuldung in Fremdwährung eine wichtige Ursache dafür, dass gerade Schwellenländer überdurchschnittlich häufig in Konkurs gehen. Das Phänomen ist unter dem Stichwort »original sin« – Erbsünde – in die Fachliteratur eingegangen.400
In einer vergleichbaren Situation sind auch die hoch verschuldeten Mitglieder der Eurozone. Der am 7. Februar 1992 in Maastricht unterzeichnete Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) trat am 1. November 1993 in Kraft. Der damit begonnene Prozess führte über drei Stufen zur Wirtschafts- und Währungsunion. In der dritten Stufe wurden die nationalen Währungen der Teilnehmerländer in eine gemeinsame Währung umgestellt. Das war der Beginn einer einheitlichen Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank.401 Die Staaten des Euroraums leihen sich an den Kapitalmärkten überwiegend Kredite in Euro. Wenn sich die Regierung Griechenlands beispielsweise in Euro verschuldet, muss sie diese Kredite in Euro zurückzahlen. Ein Euro-Staat ist also nicht in der gleichen Situation wie die USA, Großbritannien oder Japan. Selbst wenn ein Euro-Staat das wollte, könnte er nicht einfach die Notenpresse anwerfen, Euronoten im Umfang der Schulden drucken und diese Geldpakete den Gläubigern bei Fälligkeit vor die Tür stellen. Denn das Geldschöpfungsmonopol besitzt im Prinzip die formal von politischen Weisungen unabhängige Europäische Zentralbank. Durch den Eintritt in die Währungsunion sind die Staatsschulden der Länder der Eurozone fast wie Schulden in einer fremden Währung geworden.
In der Geschichte des Umgangs mit Staatspleiten wurde viel über die Frage diskutiert, ob man für überschuldete Staaten ein geordnetes Vergleichsverfahren zur Umschuldung entwickeln sollte. Ideen und Vorschläge für ein solches Insolvenzverfahren gab es mehrfach.402 Sie mündeten in einen konkreten Vorschlag des Internationalen Währungsfonds (IWF), der sich indes auch nicht durchsetzen konnte. Im Jahr 2001 wollte die damalige stellvertretende Generalsekretärin Anne Krueger einen »Sovereign Debt Restructuring Mechanism«, kurz SDRM, institutionalisieren, der die Verhandlungen zwischen den beteiligten Akteuren koordiniert. Zentrale Elemente ihres Vorschlags waren:
Ein in finanziellen Schwierigkeiten befindliches Land kann beim IWF ein Schuldenmoratorium beantragen, um mit den Kreditgebern eine Restrukturierung zu verhandeln (typischerweise mit teilweisem Schuldenerlass). Der IWF muss über die Zulässigkeit des Antrags nach geeigneten Kriterien entscheiden.
Während der Verhandlungen sollte der Schuldner »Gläubigerschutz« genießen. Der IWF muss gewährleisten können, dass nicht einzelne Gläubiger unabhängig gegen das Schuldnerland Klagen anstrengen.
Der IWF muss ein angemessenes Verhalten des Schuldners in dieser Verhandlungsperiode gewährleisten.
Neue Kreditvergabe an den Schuldner sollte dadurch befördert werden, dass diesen neuen Krediten Vorrang gegenüber den Altschulden eingeräumt wird.
Der Verhandlungsprozess sollte zu einem Vergleich führen, der mit qualifizierter Mehrheit der Gläubiger und des Schuldners beschlossen werden kann und für alle Gläubiger verbindlich ist.403
Die Liste der Detailfragen, die für die konkrete Durchführung eines solchen Verfahrens zu beantworten sind, ist deutlich länger.404
Wer kann und darf ein solches Verfahren einleiten oder beenden? Und wer leitet die Verhandlungen mit den Gläubigern – eine neue oder eine existierende Institution?
Welche Formen des Schutzes des Schuldners vor den Gläubigern gibt es, wenn das Verfahren eröffnet wurde?
Welche Rechte hat der Verhandlungsführer in diesem Prozess? Beispielsweise bei der zentralen Frage, wie hoch die Forderungsabschreibungen insgesamt sein müssen, um einen Neustart des Schuldnerstaats zu ermöglichen, und wie diese Verluste auf die verschiedenen Gläubigergruppen verteilt werden?
Welche Arten von Schulden sollten einbezogen werden? Werden Schulden gegenüber Inländern und gegenüber Ausländern gleichartig behandelt?
Wer trägt die Kosten des Verfahrens? Und setzt man die Kosten hoch an, um eine Umschuldung nicht allzu attraktiv zu machen, oder setzt man die Kosten eher niedrig an, damit die volkswirtschaftlichen Verluste durch das Verfahren nicht zu groß sind?
Und was geschieht eigentlich, wenn der Schuldner sich nur teilweise an das Verhandlungsergebnis hält? Wie und welche Sanktionen setzt man durch, wenn der Staat seine Zusagen nicht einhält?
Diese Liste von Fragen erschöpft bei weitem nicht den gesamten Katalog der zu klärenden Details. Viele dieser Fragen müssen auch gestellt und beantwortet werden bei der Ausgestaltung eines Insolvenzrechts für Unternehmen oder innerstaatlicher Gebietskörperschaften. Ein Großteil der unterschiedlichen Vorschläge, einschließlich des Vorschlags des IWF, ist deshalb von der US-amerikanischen Insolvenzordnung für Gebietskörperschaften innerhalb der USA inspiriert (»Chapter 9«). Diese, auf eine Sanierung der Gebietskörperschaft wie beispielsweise eines amerikanischen Bundesstaats ausgerichtete Ordnung, orientiert sich ihrerseits in wesentlichen Teilen an der Insolvenzordnung für amerikanische Unternehmen (»Chapter 11«). Diese Insolvenzordnung zielt nicht auf eine Abwicklung und Liquidation des Unternehmens, sondern auf eine Befreiung des Unternehmens von den Altschulden, und soll einen Neustart des im Kern profitablen Unternehmens ermöglichen.
Schuldner in diesem IWF-Verfahren sind souveräne Staaten. Das macht generell die Frage schwierig, was passiert, wenn sich der Schuldnerstaat Teilen des Verfahrens und möglichen Konsequenzen daraus nicht unterwerfen möchte. Beispielsweise ist die Frage der Kontrolle getroffener Vereinbarungen schwierig – und die Frage möglicher Sanktionen. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass ein solches Verfahren verbindlicher internationaler Absprachen der internationalen Staatengemeinschaft bedarf, die letztlich ihr nationales Insolvenzrecht betreffen.
Mit der Begründung, ein solches international verankertes Insolvenzregime sei weder notwendig noch machbar, wurde der Vorschlag des IWF seinerzeit vom US-amerikanischen Finanzminister John Snow heftig attackiert. Er argumentierte, das Hauptproblem bei staatlichen Umschuldungen liege in der mangelhaften Koordination der Gläubiger, die nicht in der Lage seien, sich an einen Tisch zu setzen. Er vertraue eher auf privatwirtschaftliche Lösungen der Probleme möglicher Staatsinsolvenzen und damit einhergehender Umschuldungsverhandlungen, anstatt auf die Lösungskompetenz einer internationalen Organisation wie des IWF.405 Seine Position hat den Umsetzungsprozess sicher nicht vorangetrieben und den Diskussionsprozess in eine andere Richtung gelenkt. Die Ausgabe von Staatsschuldtiteln wurde seitdem häufig mit Vertragsklauseln erweitert, die mögliche zukünftige Umschuldungsverhandlungen vereinfachen und das Problem tausender unabhängig voneinander agierender Gläubiger beseitigen sollten.406
Jede Umschuldung hat mit einigen Problemen zu kämpfen. Ein Kernproblem ist die Überwindung der natürlichen Eigennutzorientierung der einzelnen Gläubiger, die einer effizienten gemeinsamen Schuldenregelung oft im Wege stehen. Ein zweites Kernproblem ist die Überwindung der Vertrauensprobleme, wenn es darum geht, die Umschuldung durch neue Kredite zu finanzieren. Wer möchte schon gern einem Schuldner, der gerade einen Kredit nicht mehr bedient, neues Geld nachschießen? Das dritte Kernproblem besteht in der Wirkung der Umschuldungsregeln auf das Verhalten von Schuldnern. Die Aussicht auf eine einfache Teilentschuldung durch eine Sanierungsinsolvenz könnte den Schuldner zu leichtfertig in seiner Kreditaufnahme machen.407 Und wenn die Umschuldung selbst nicht zügig abläuft, kann die Schuldenkrise eines Staats zu einer anhaltenden Lähmung führen, die kostspielig für den Staat und seine Gläubiger ist. Die Schuldenkrise kann sich dann zu einer Finanzkrise ausweiten.
Nach dem vorläufigen Scheitern des IWF-Vorschlags einer Insolvenzordnung leben weiter die informellen Organisationen fort, in denen sich die Gläubiger selbst organisiert haben: Der Pariser Club beispielsweise vermittelt unter Assistenz des IWF zwischen Geberländern und säumigen Schuldnernationen. Bisher handelte er 413 Abkommen mit 87 Ländern und mit einem Volumen von insgesamt 540 Milliarden Dollar aus.408 Im Londoner Club haben sich Privatbanken zusammengeschlossen, um in Verhandlungen mit säumigen Staaten eine stärkere Position zu haben. Seine Verhandlungsmacht schöpft er daraus, dass in der Regel der IWF erst dann ein Anpassungsprogramm billigt und finanziell unterstützt, wenn die Umschuldung mit den privaten Gläubigern geglückt ist.409
Die Chancen von Kreditgebern eines bankrotten Staats haben sich etwas verbessert, weil sich Staaten immer weniger auf ihre Immunität berufen können. Seit dem 1976 ins Leben gerufenen Foreign Sovereign Immunities Act verweigern die USA anderen Regierungen für kommerzielle Aktivitäten ihre Immunität. Großbritannien hat eine ähnliche Regelung zwei Jahre später eingeführt.410 Britische Behörden waren es, die im Oktober 2008 kurzerhand die Guthaben der durch den isländischen Staat gedeckten Landsbanki konfiszierten, um Einlagen der eigenen Staatsbürger bei der britischen Landsbanki-Tochter Icesave zu sichern. Das britische Verhalten führte postwendend zu diplomatischen Verwicklungen mit der Regierung in Reykjavik.411
Die härtere Haltung gegenüber säumigen Staatsschuldnern wird zunehmend auch durch Gerichte unterstützt, die die Ausgabe von Staatsanleihen den kommerziellen Aktivitäten von Regierungen zurechnen. Seither können Kreditgeber gegen Staaten vor Gericht ziehen und einen Titel gegen sie erwirken. Allerdings kommt dann die Immunität wieder ins Spiel, möchte ein Gläubiger seine vor Gericht erfolgreich erstrittenen Ansprüche durchsetzen.412 So sind beispielsweise die bei einer ausländischen Zentralbank gelagerten Währungsreserven eines Landes vor dem Zugriff der Gläubiger sicher. Argentinien soll dieses Schlupfloch genutzt und seine Dollarbestände bei der amerikanischen Zentralbank und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS) deponiert haben, um sie nach dem selbst erklärten Bankrott im Jahr 2001 vor den Gläubigern zu sichern. Immerhin haben rund ein Viertel der Anleihehalter der argentinischen Umschuldung von 2005 nicht zugestimmt. Wie bereits erwähnt haben viele von ihnen gegen Argentinien vor deutschen Gerichten Klage eingereicht.413
Eine andere Problematik von Staatsinsolvenzen ist im Zuge der europäischen Staatsschuldenkrise sehr deutlich geworden. Der Bankrott eines Schuldnerstaats ist mitunter ein systemisches Risiko.
Das gilt vor allem dann, wenn ein Staat weltwirtschaftlich mit anderen Staaten eng verflochten ist, wenn die Weltfinanzmärkte krisenanfällig sind und nur kleine Kapitalpuffer haben, mit denen sie Finanzmarktschocks absorbieren können und wenn das Krisenland Banken hat, die sich in großem Umfang als Finanziers des Staats betätigt und seine Staatsschuldtitel gekauft haben. Im Kontext der Europäischen Staatsschuldenkrise war und ist dieses Systemrisiko wohl das Hauptproblem: Es macht die Umsetzung einer Staatsinsolvenz zu einem Abenteuer mit unsicherem Ausgang. Eine weitgehend reibungslos verlaufende erzwungene Umschuldung der privaten Kreditgeber Griechenlands im März 2012 steht dazu nicht im Widerspruch. Um Kapitalmarktverwirbelungen zu vermeiden, wurde sie durch ein zweites über hundert Milliarden schweres Rettungspaket Griechenlands begleitet, für das der europäische Steuerzahler geradesteht. Ohne diese systemischen Risiken hätten wohl schon im Mai 2010 einige Mitglieder der Eurozone auf die »No-bailout Klausel« gepocht und Griechenland in die Umschuldung gehen lassen. Die Systemrelevanz ruft andere Staaten als Retter auf den Plan. Wie mit dem Problem der Systemrelevanz umzugehen ist, und wie es zu lösen ist, haben wir in Kapitel 8 beschrieben. Der Ball liegt im Feld der Politik. Ob die Politik den Ball aufnehmen wird, muss sich zeigen.