Die ersten zehn Jahre der neuen Währung verliefen verheißungsvoll. Nach einem etwas holprigen Start legte das europäische Geld gegenüber den wichtigen Währungen US-Dollar und dem britischen Pfund ein knappes Drittel zu. Selbst gegenüber dem Schweizer Franken, für viele der Inbegriff einer Hartwährung, konnte sich die junge Währung behaupten. In den Portfolios internationaler Investoren und Notenbanken stieg die Gemeinschaftswährung hinter dem Dollar zur zweitwichtigsten Reservewährung auf. Dem IWF zufolge lauteten im Jahr 2009 rund 27 Prozent aller Notenbankbestände auf Euro, das sind ganze neun Prozentpunkte mehr als zum Start 1999. In den Buchhandlungen der großen Flughäfen stapelten sich die Bücher, die von der neuen Supermacht Eurozone kündeten. Und als im Jahr 2008 der Finanzorkan über Europa wütete, blieben Währungsverwirbelungen bei den Euro-Mitgliedern aus.
Eine Selbstverständlichkeit war dieser Erfolg ganz und gar nicht. Gerade in den Anfangstagen des Euro gab es praktisch keine Erfahrungswerte, auf die sich die Währungshüter der EZB bei der Wahl ihrer Geldpolitik stützen konnten. Und auch das statistische Material aus den Mitgliedsländern zu zentralen Größen wie Import- oder Exportpreisindizes war zunächst gar nicht verfügbar, oder kam in ganz unterschiedlichen Berechnungsvarianten und mit mehreren Monaten zeitlicher Verzögerung aus den Mitgliedsländern. Welcher Zins und welche Maßnahmen der Geldversorgung für diesen Währungsraum bestehend aus elf so unterschiedlichen Volkswirtschaften die richtigen waren, darüber gab es keine gesicherten Erkenntnisse.19 Der erste Präsident, Wim Duisenberg, vor allem aber sein damaliger Chefvolkswirt, Otmar Issing, steuerten die EZB in völlig unbekanntes Territorium. Und sie taten das mit großem Geschick und beachtlichem Erfolg.
Auch die Fiskalpolitik sorgte zunächst für positive Schlagzeilen. In beiden Anfangsjahren machte keines der Mitgliedsländer mehr neue Schulden als im Maastricht-Vertrag vorgesehen war. Insbesondere die Peripherieländer Spanien und Irland sanierten ihre Haushalte scheinbar im Eiltempo.
Dieses fiskalische Wunder beruhte weder darauf, dass in den Ländern plötzlich Öl- oder Goldvorräte entdeckt wurden, noch übernahmen besonders strenge Finanzminister das Regiment. Vielmehr profitierten die Länder von einem kräftigen Zinsrutsch, der in vielen Ländern am Rande Europas bereits Mitte der neunziger Jahre einsetzte (Abbildung 1). Immer mehr Kreditgeber vertrauten darauf, dass auch die südeuropäischen Staaten zum Start des Euro dabei sein würden. Das verringerte die Gefahr einer Abwertung von spanischer Peseta oder italienischer Lira gegenüber der Reservewährung D-Mark. Als Folge schrumpften die Risikoaufschläge, die spanische oder italienische Staatsanleihen gegenüber den Bundesanleihen zu bieten hatten, um Geldgeber zu finden. Mit zwei Jahren Verzögerung näherten sich auch die Zinsen für griechische Staatsanleihen dem Niveau der anderen Länder.
Niedrigere Zinsen für Staatsanleihen wiederum verringerten die Schuldenlasten und nahmen Druck von den öffentlichen Haushalten.20 Die Fälle von Spanien und Italien machen dies besonders plastisch. Noch Anfang 1996 mussten deren Finanzminister ihren Investoren für zehnjährige Schuldentitel zehn beziehungsweise elf Prozent pro Jahr bieten. Zum gleichen Zeitpunkt konnte sich ihr deutscher Kollege Theo Waigel für sechs Prozent verschulden. Dieser Unterschied verschwand bis 2006 fast vollständig. Durch die Währungsunion schmolzen die Risikoaufschläge dahin, alle Länder konnten sich nun zu den gleichen günstigen Konditionen wie die Bundesrepublik Geld leihen. Bei Staatsschulden in Billionenhöhe – und um solche Dimensionen ging es etwa bei Italien – sparte ein Finanzminister mit jedem Prozentpunkt, den er weniger Zinsen an die Investoren zahlen musste, einen zweistelligen Milliardenbetrag.21
Die Auswirkung dieser Einsparungen auf die Staatshaushalte waren beträchtlich. Bei Spanien und Irland verringerte sich die Schuldendienstquote – das sind die Ausgaben für Zinszahlungen gemessen an sämtlichen Staatseinnahmen – von über zehn Prozent im Jahr 1997 auf unter fünf Prozent nur zehn Jahre später. Die Schuldendienstquote Griechenlands sank zwischen 1997 und 2007 gar von knapp einem Viertel auf zehn Prozent.22
Abb. 1: Renditen zehnjähriger Staatsschuldtitel
Quelle: Bloomberg
Gleichzeitig wirkten die niedrigeren Zinsen wie ein gigantisches Konjunkturprogramm. Die private Kreditnachfrage schoss in die Höhe. Das billigere Geld befeuerte vor allem den Immobiliensektor. Die spanische Wirtschaft verzeichnete daraufhin in den ersten Jahren der Währungsunion Wachstumsraten zwischen drei und fünf Prozent, die griechische sogar noch etwas höhere – in beiden Fällen war ein Drittel davon allein vom Bausektor getragen. Der »keltische Tiger«, Irland, erlebte dank eines atemberaubenden Immobilien- und damit verbundenen Bankenbooms ein richtiges Wirtschaftswunder mit zweistelligen Zuwächsen.23 Nicht nur die landeseigenen Banken machten prächtige Geschäfte mit der Vergabe von Hypothekenkrediten. Das Land lockte in den goldenen Zeiten des Immobilienbooms mit Sonderkonditionen Finanzinstitute aus ganz Europa nach Dublin. Auch die 2007 von der Hypo-Real-Estate erworbene Tochter Depfa hatte wegen der Steuervergünstigungen und der im Vergleich zu Deutschland laxeren Regulierungspraxis im Jahr 2002 ihren Firmensitz nach Irland verlegt.24
Die gewaltige Wachstumsdynamik, die Irland, Griechenland und Spanien erfasst, macht Deutschland in diesen Jahren zum Schlusslicht Europas in Sachen Wachstum. Mit Ausnahme von 2000 und 2006 legte die hiesige Wirtschaft mit Raten zwischen null und 1,9 Prozent nur leicht zu. 2003 schrumpfte die deutsche Ökonomie sogar um 0,23 Prozent.25 Bei der Wirtschaftsrallye in der Peripherie fühlte man sich fast schon an die Einlösung einer realsozialistischen Utopie Walter Ulbrichts Ende der 1960er-Jahre erinnert, der für seine DDR-Ökonomie die Losung vom »überholen ohne einzuholen« ausgab. Denn es war kein Aufholeffekt, mit dem die ärmeren Länder den Einkommensabstand zu einem viel reicheren Deutschland verringerten. Es war für einige ein Vorbeirauschen auf der Überholspur, Deutschland sah in diesen Jahren die Rücklichter dieser Länder in der Entfernung verschwinden, wie Abbildung 2 eindrucksvoll ausweist. Gerade Irland, das einstige Armenhaus Europas, war 1996 bereits an Deutschland vorbeigewachsen. Zu Beginn der Krise im Jahr 2007 erwirtschaftete jeder der gut viereinhalb Millionen Iren durchschnittlich 41 500 Euro, im Vergleich dazu betrug das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland lediglich 29 000.26
In den Peripheriestaaten wirkte die Währungsunion mit ihrem positiven Zinsschock aus einem weiteren Grund wie ein Wachstumsbeschleuniger. Zwar stieg in Spanien oder Irland, wohl in Verbindung mit dem starken Wirtschaftswachstum, auch das Preisniveau. Dennoch blieben die Zinsen niedrig, die Länder waren ja Mitglieder in der Eurozone. Die Realzinsen, also die nominalen Zinssätze abzüglich der Inflationsrate, waren in diesen Ländern deshalb besonders niedrig. Das machte neue Kredite und Immobilienkäufe noch lohnenswerter. Diese sich wechselseitig verstärkenden Effekte haben zu den hohen Wachstumsraten in den betreffenden Ländern beigetragen.
Immobilienbesitzer in den Wachstumsländern fühlten sich wegen der steigenden Häuserpreise immer reicher. Dieser Vermögenseffekt mag auch die Nachfrage angeregt haben. Zwischen 2002 und 2007 explodierte in Spanien die Verschuldung der privaten Haushalte, vergleichbar mit den Entwicklungen in den USA. Im Jahr 2010 standen private Haushalte in Spanien mit mehr als dem Doppelten des spanischen Bruttoinlandsprodukts in der Kreide. Zum Vergleich: Die Schulden der privaten Haushalte in Deutschland betragen lediglich 140 Prozent der Wirtschaftskraft, in Frankreich 130 Prozent.27
Abb. 2: Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens in Europa relativ zueinander, bezogen auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt 1995
Quelle: Eurostat
Was aussah wie ein Wachstumswunder waren in Wirklichkeit Spekulationsblasen, die im Zuge der Finanzkrise schließlich platzten. Die hohe Verschuldung der privaten Haushalte und der große Anteil des kreditabhängigen Immobiliensektors an der Wirtschaftsleistung verursachten für die betroffenen Staatshaushalte besonders große Verluste und dementsprechend kostenträchtige Rettungsmaßnahmen. Allein der spanische Staat verabschiedete im Zuge der Finanzkrise eines der größten Konjunkturprogramme von 48 Milliarden Euro – und geht einem neuen Schuldenrekord entgegen.28 In Irland ruinierten umfassende öffentliche Bürgschaften für die Banken die Staatsfinanzen.29 Allein zwischen 2007 und 2010 schoss der Schuldenstand von 25 auf 95 Prozent der Wirtschaftsleistung in die Höhe. 2012 dürfte diese Quote gar bei 115 Prozent liegen, das ist fast das Doppelte dessen, was im Stabilitätspakt als Gesamtverschuldung zulässig ist.30 Der fiskalische Konsolidierungserfolg von zweieinhalb Dekaden ist damit dahin.31 Und die Welt hat einmal mehr erfahren, dass die Verbindlichkeiten überschuldeter privater Akteure beim Staat landen können.32
Der kreditfinanzierte Boom in den Randstaaten Europas erschwert nun auch deswegen die Lösung der Eurokrise, weil er die Wettbewerbsposition dieser Länder verschlechtert hat.33 Besonders die Lohnkosten drifteten auseinander. In einer Währungsunion bleibt das nicht ohne Konsequenzen. Staaten wie Spanien, Griechenland oder Portugal fielen im inner- und außereuropäischen Vergleich immer weiter zurück, verloren ihre Exportmärkte an Asien mit seinen niedrigen Löhnen, und verzeichneten markante Defizite.34 Die Europäische Zentralbank hat auf die divergierende Wettbewerbsfähigkeit bereits im Jahr 2006 hingewiesen.35
Um bei weiterhin bestehender Mitgliedschaft in der Währungsunion wieder wettbewerbsfähig zu werden, müssten die Preise und Löhne in den Randstaaten nach Berechnungen des New Yorker Ökonomen Nouriel Roubini um 20 bis 30 Prozent schrumpfen. Besonders dramatisch stellt sich die Situation in Griechenland dar. Nach Berechnung des deutschen Volkswirts Hans-Werner Sinn müsste das Mittelmeerland eine relative Preissenkung von 31 Prozent durchführen, um wieder Anschluss zu finden. Ein solcher Prozess wäre wahrscheinlich mit jahrelanger Rezession verbunden. Kaum eine Gesellschaft erträgt solche Belastungen lange.36 Außerdem würde eine Preis- und Lohnsenkung die Schulden als Anteil an einer nominal sinkenden Wirtschaftskraft in die Höhe treiben und damit möglicherweise den Weg in eine Überschuldung beschleunigen.