Hauptstadt der Union
Enrique hatte Marek seit dem Tag, an dem sie Viktor Vau in Thuras konspirativer Wohnung untergebracht hatten, nicht mehr gesehen. Das wunderte ihn, denn normalerweise kam sein Freund an den Tagen, an denen er im Bistro arbeitete, immer vorbei. Deshalb freute er sich umso mehr, dass Marek ihn angerufen und für den Abend ins Kuppelquartier eingeladen hatte.
Er kam eine Viertelstunde vor dem vereinbarten Termin in dem Café an und setzte sich an den Tresen, um auf seinen Freund zu warten. Der Fernseher über der Bar zeigte stumme Bilder vom letzten Bombenanschlag der Anarchisten. Diesmal hatten sie ein Baustofflager in der Nähe des Weltausstellungsgeländes in die Luft gesprengt.
Während er an seiner Cola nippte, fragte sich Enrique zum wiederholten Mal, wie das überhaupt möglich sein konnte. Die Dynastie hatte die ganze Stadt mit einem Netz von Kameras und Spitzeln überzogen. Und trotzdem gelang es den Attentätern immer wieder, in den innersten Stadtbezirk vorzudringen und dort ihre Sprengladungen zu legen.
In diesem Augenblick betrat Marek das Lokal, gefolgt von einem kleinen Mann mit einem rattenähnlichen Gesicht. Er glitt von seinem Hocker, um sie zu begrüßen. Marek stellte seinen Begleiter als Armand de Moulinsart vor.
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Herr da Soza.« De Moulinsart bleckte kurz die Zähne. Enrique nahm die ausgestreckte Hand und ließ sie fast sofort wieder fallen. Sie fühlte sich an wie ein feuchter Schwamm. Das bestätigte Enriques ersten Eindruck von Mareks Begleiter: Er mochte ihn nicht.
Marek ging zu einem freien Tisch, und Enrique und de Moulinsart folgten ihm.
»Ich wusste nicht, dass du einen Begleiter mitbringst«, begann Enrique, an Marek gewandt.
»Ich habe mich Ihrem Freund gewissermaßen aufgedrängt, weil ich Ihnen einen Vorschlag machen möchte«, erwiderte de Moulinsart, bevor Marek etwas sagen konnte.
Enrique betrachtete ihn misstrauisch. »Nichts gegen Sie, aber ich weiß weder, wer Sie sind, noch, was Sie von mir wollen.« Sein Tonfall klang gereizter, als er beabsichtigt hatte.
»Keine Angst«, versuchte Marek ihn zu beruhigen. »Es ist alles in Ordnung hier.«
De Moulinsart hob beschwichtigend die Hand. »Lesen Sie das, und Sie werden verstehen«, sagte er und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Jackentasche, das er vor Enrique auf den Tisch legte.
Enrique entfaltete das Blatt. Das war die Handschrift von Viktor Vau! Er warf einen misstrauischen Blick auf seine Tischnachbarn, bevor er das kurze Schreiben las.
»Verehrter Enrique,
Herr de Moulinsart, der Ihnen dieses Schreiben überbringt, lässt mich derzeit seine Gastfreundschaft genießen. Wie es dazu gekommen ist, kann er Ihnen sicher selbst berichten. Da er mir nicht glaubt, was in der Videobotschaft enthalten ist, möchte er gerne mein Notizbuch einsehen, und ich habe eingewilligt, es ihm zu übergeben. Bitte seien Sie so freundlich und händigen Sie Herrn de Moulinsart meine Aufzeichnungen aus.
Ihr
Viktor Vau«
Enrique sah von dem Schreiben auf.
»Wer sind Sie?«, fragte er sein Gegenüber.
De Moulinsart zuckte mit den Schultern. »Ich bin in diesem Staatswesen nicht ganz ohne Einfluss.«
»Und Sie halten Viktor Vau gefangen?« Enrique wandte sich an Marek. »Wusstest du das etwa?«
Marek wich seinem Blick aus und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
Enrique richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf de Moulinsart. »Woher weiß ich, dass dieser Brief nicht unter Druck geschrieben wurde?«
De Moulinsart zeigte erneut kurz die Zähne. Enrique fragte sich, ob das wohl ein Tic war, denn die Lippenbewegung war kaum mehr als ein Zucken.
»Professor Vau hat sich entschlossen, mit uns zu kooperieren. Daher müssen Sie sich schon auf mein Wort verlassen.«
»Und wenn ich das nicht tue?«
»Dann werden wir uns das Notizbuch auf anderem Weg beschaffen. Ich bin hier, um Sie als zivilisierter Mensch zu bitten, Ihrem Professor Vau einen Gefallen zu erweisen. Aber täuschen Sie sich nicht: Ich kann auch anders.«
»Das bezweifle ich nicht.« Enrique starrte sein Gegenüber an.
»Leute, macht es doch nicht so kompliziert!«, rief Marek, der sich wieder gefangen hatte. »Warum verabredet ihr nicht einfach eine offene Übergabe? Du bringst das Wörterbuch, Enrique, und Herr de Moulinsart bringt zu dem Treffen Viktor mit, damit du sehen kannst, dass alles in Ordnung ist.«
»Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten«, zischte de Moulinsart dem Jungen zu.
»Aber sein Vorschlag ist nicht schlecht.« Enriques Gedanken überschlugen sich. Zumindest könnte er so etwas Zeit gewinnen und sich von der Unversehrtheit Viktors überzeugen. Ob er das Notizbuch wirklich mit dorthin nahm, war eine völlig andere Frage. Noch wusste er nicht, welche Absichten dieser Mensch, der ihm gegenübersaß, verfolgte.
»In Ordnung«, lenkte de Moulinsart ein. »Dann kommen Sie morgen früh um zehn Uhr mit dem Notizbuch zu dieser Adresse.« Er schrieb etwas auf die Rückseite von Viktors Brief und schob Enrique den Zettel hin. »Ich rate Ihnen in Ihrem Interesse, seien Sie pünktlich. Das nächste Mal werde ich mich nicht mehr so großmütig zeigen.«
Er stand auf und warf einen letzten Blick auf Marek. »Und wir unterhalten uns ebenfalls noch«, drohte er, bevor er grußlos davonstiefelte.
Nachdenklich faltete Enrique den Zettel zusammen und steckte ihn ein. »Und was sollte das jetzt, Marek? Kannst du mir vielleicht mal verraten, wie du an solche Freunde kommst?«
Marek sah ihn flehend an. »Das ist der Oberbulle im Lande, Mann. Was sollte ich machen?«
»Und seit wann zählst gerade du den Oberbullen zu deinen Freunden?«
»Er ist nicht mein Freund, Mann. Er hat mich aufgespürt und mir keine Wahl gelassen.« Marek strich sich durch die Haare. »Aber ich glaube wirklich nicht, dass er Viktor etwas antun will. Er ist nur hinter seinen Forschungsergebnissen her.«
»Wir werden ja sehen.« Enrique stand auf. »Wirst du morgen auch da sein?«
Marek schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe mit dem Typen echt nichts zu tun.«
Enrique nickte nachdenklich. Er wusste nicht, was er glauben sollte und was nicht. Marek war niemand, auf den er sich in einer Notlage verlassen hätte. Aber ein Verräter? Das war doch ein ganz anderes Kaliber.
»Na gut«, sagte er schließlich. »Ich hoffe für dich, du sagst die Wahrheit.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Lokal.
Der Florist hatte die Anstrengungen der Polizei mit Interesse verfolgt. Die Stimme hatte ihn davor gewarnt, seine Gegner zu unterschätzen. Ihm war eine verantwortungsvolle Aufgabe anvertraut worden, und es gab mehr als genug Lakaien, die ihn von deren Erfüllung abhalten wollten.
In erster Linie war da dieser Kommissar, Fellner. »Wir kommen dem Täter näher«, hatte er auf der letzten Pressekonferenz erklärt. Der Florist wusste nicht, ob das nur frei erfunden war oder die Aussage auf Tatsachen basierte. Er traf zwar alle nur denkbaren Vorkehrungen, um Spuren oder Hinweise auf seine Person zu vermeiden, aber man konnte sich bei den heutigen Polizeimethoden nie sicher sein, ob das ausreichend war.
Deshalb hatte die Stimme ihm dieses Ausweichmanöver empfohlen.
Es war zehn Uhr abends, und der Florist ging durch das Kuppelquartier. Wohin er auch blickte, er fand nur Schmutz und Verkommenheit. Er fragte sich, wie er mit seinen begrenzten Mitteln jemals gegen dieses Ausmaß an Verderbtheit ankommen sollte. Und warum ließ der Staat das zu? War es nicht die Aufgabe der Herrschenden, die Gesellschaft von Subjekten wie diesen zu befreien? Stattdessen überließen sie ihnen ein ganzes Stadtviertel, wo sie ihren Lastern in aller Öffentlichkeit nachgehen konnten.
Immer, wenn er solche Gedanken hatte, beruhigte ihn die Stimme. Er war nur die Vorhut, die Avantgarde einer ganzen Generation von neuen Menschen, welche sich der Reinigung der Gesellschaft verschrieben. Seine Taten würden als leuchtende Beispiele in die Geschichte dieser Menschen eingehen, und sie würden ihn als ihren Vorläufer für immer in Ehren halten.
Der Florist blieb stehen und atmete tief durch, so wie er es vor einigen Jahren in der Klinik gelernt hatte. Er wartete, bis sich sein Herzschlag wieder normalisiert hatte, und setzte dann seinen Weg fort.
Vor einem schäbigen Backsteinhaus, das nur wenige Meter entfernt von einer der Hauptstraßen des Viertels lag, hielt er an. Er öffnete die Haustür. Im Flur roch es nach Urin und verwesenden Küchenabfällen.
Er tastete an der Wand nach einem Lichtschalter, fand aber keinen. So tappte er langsam im Dunkel voran, bis er die Treppe erreichte. Er stieg in den dritten Stock empor. Hinter einer Wohnungstür hörte er das Schreien eines Babys, hinter einer anderen eine weinende Frau, Zeichen des Elends, das auf der Welt herrschte. Er war froh, auserwählt worden zu sein, Licht in dieses Jammertal zu bringen. Wenn er und die anderen, die ihm folgten, ihre Arbeit erst einmal verrichtet hatten, dann würde die Welt ein besserer Ort sein.
Der Florist hatte sein Ziel erreicht. Er tastete mit dem Schlüssel im Dunkel nach dem Schloss, trat in die Wohnung, betätigte den Lichtschalter und wartete einen Moment, bis sich seine Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten.
Gleich rechts von ihm lag ein kleines Badezimmer. Der Florist ging zur Toilette und hob den Deckel von der Spülschüssel, die darüber an der Wand befestigt war. Er griff in die Tasche und holte einen luftdicht versiegelten Plastikbeutel hervor, den er mit zwei Streifen breiten Klebebands an der Innenseite des Deckels befestigte. Dann setzte er den Deckel wieder auf und verließ die Wohnung. Er schloss die Tür hinter sich ab und eilte die Treppen hinunter.
Der erste Teil seines Plans war vollbracht.
Enrique begriff, dass er ein Problem hatte, als er vor seiner Wohnungstür stand. Jemand war in seiner Abwesenheit hier gewesen. Er erkannte das an dem fehlenden Papierstreifen. Es war eine einfache Vorsichtsmaßnahme, die er immer traf, wenn er ausging: Er klemmte ein Stück Papier zwischen Tür und Rahmen und riss das überstehende Stück so weit ab, dass es nur jemand entdecken konnte, der wusste, wo es saß.
Er legte das Ohr an die Tür und lauschte. Ob der Einbrecher noch in der Wohnung war? Als er nichts hörte, steckte er vorsichtig den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn langsam um. Ebenso langsam schob er die Tür auf. Kein Laut drang aus der Wohnung. Das Bad und sein Schlafzimmer waren leer. An der Wohnzimmertür lauschte er erneut, bevor er überzeugt war, dass niemand dahinter auf ihn lauerte und sie aufstieß. Mit drei Schritten war er beim Sofa, fiel auf die Knie und tastete mit einer Hand nach dem Buch.
Es war verschwunden!
Enrique duckte sich unter das Sofa und suchte die Unterseite ab. Einer der Klebestreifen, mit denen er die Plastikhülle mit Viktor Vaus Notizbuch befestigt hatte, hing noch von einer der Holzstreben herunter. Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Außer Viktor, Marek und Astarte wusste niemand, dass er das Buch in seinem Besitz hatte. Und natürlich Christian, dem der Inhalt allerdings nicht bekannt war. Wieso sollte er also bei ihm einbrechen?
Aber wer war es dann? Viktor sicher nicht, denn der befand sich in der Gewalt de Moulinsarts. Marek? Immerhin hatte er Kontakte zum Geheimdienst. Allerdings konnte er es nicht selbst gewesen sein, denn Enrique war die ganze Zeit mit ihm zusammen. Blieb nur noch Astarte. Enrique legte die Stirn in Falten. Weshalb sollte Astarte Viktors Notizbuch stehlen? Als seine Assistentin hatte sie doch sowieso direkten Zugang zu Viktors Forschungsergebnissen. Oder hatte sie in Viktors Auftrag gehandelt? Hatte er ihr, noch vor seiner Entführung, aufgetragen, ihm das Wörterbuch wieder abzunehmen? Aber warum?
Das ergab alles keinen Sinn. Er musste mit Astarte sprechen. Hastig wählte er ihre Nummer. Er ließ es lange läuten, aber sie hob nicht ab.
Er entschloss sich, zu ihrer Wohnung zu gehen, auch wenn es bereits kurz vor zwei Uhr war. Gleich nach dem Treffen mit Marek und de Moulinsart war er zurück ins Bistro geeilt, wo er die zweite Hälfte von Christians Spätschicht übernahm. Das war sozusagen die Strafe für den Tag, an dem er mit Astarte und Viktor abgehauen war.
Es war natürlich verrückt, jetzt noch zu ihr zu laufen, aber nach der Begegnung mit dem Mann des Sicherheitsdiensts (Enrique hatte in einer kurzen Servierpause schnell im Netz nach ihm gesucht und tatsächlich zahllose Einträge gefunden) und dem Diebstahl des Wörterbuchs war er nervös. Wenn sie ihn aufgespürt hatten, dann sicher auch Astarte. Vielleicht befand sie sich bereits in den Händen der Dienste?
Auf dem Weg zu Astartes Wohnung schossen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Die meisten davon hatten mit dem Treffen morgen zu tun. Was würde de Moulinsart sagen, wenn er ohne Viktors Notizbuch aufkreuzte? Es war unwahrscheinlich, dass er ihm glauben würde. Enrique hätte das in seiner Situation wahrscheinlich auch nicht getan. Die Frage war nur, was sie mit Viktor anstellen würden, wenn er das Wörterbuch nicht brachte. Würden sie ihm etwas antun? Und würde er, Enrique, den Ort des Treffens als freier Mann verlassen können?
Er erreichte Astartes Wohnung und klingelte. Keine Reaktion. Er klingelte erneut und trat ein paar Meter vom Haus zurück, um zu sehen, ob irgendwo ein Licht anging. Aber alle Fenster blieben dunkel.
Noch einmal versuchte er es über das Telefon, aber diesmal sprang nur die Mailbox an. Er hinterließ eine kurze Nachricht und machte sich dann langsam auf den Weg nach Hause.
Nach einer schlaflosen Nacht, in der er tausend Pläne gewälzt und wieder verworfen hatte, quälte er sich im Morgengrauen aus dem Bett und stellte sich unter die kalte Dusche. Danach unternahm er einen letzten Versuch, Astarte zu erreichen, aber erneut war nur die Mailbox dran. Ob sie schon bei der Arbeit war? Am liebsten wäre er jetzt sofort zur Klinik rausgefahren, aber dafür reichte die Zeit nicht mehr. Das Treffen mit Viktor und de Moulinsart fand in weniger als zwei Stunden statt, und er wollte gerne etwas früher an Ort und Stelle sein, um die Umgebung zuvor noch zu erkunden.
Die Adresse, die ihm de Moulinsart gegeben hatte, war ein heruntergekommenes Fabrikgebäude am Rande des Calvaniviertels. Der ganze Straßenzug schien verlassen zu sein. Ein kühler Wind pfiff durch die Straße, und Enrique zog unwillkürlich den Kopf tiefer zwischen die Schultern.
Er umrundete einmal das komplette Gelände. Leider konnte er nicht erkennen, ob es auch einen Ausgang zur hinteren Seite gab. Er musste sich also auf sein Improvisationstalent verlassen, sollte es drinnen tatsächlich zu einer Auseinandersetzung kommen.
Pünktlich um zehn Uhr pochte er an das große Stahltor des Gebäudes. Ein vierschrötiger Typ schob die schwere Metalltür einen Spalt auf und starrte ihn an. »Enrique da Soza«, sagte Enrique. »Ich habe eine Verabredung.«
Der Typ grunzte und bedeutete ihm, einzutreten. Er schob die Tür hinter Enrique wieder zu und verriegelte sie.
»Umdrehen und Hände gegen die Tür«, herrschte er Enrique an. Der lehnte sich gegen das kühle Metall, während der andere seinen Körper nach Waffen abtastete. »Mitkommen.«
Enrique folgte dem Typ durch die leere Industriehalle. Am anderen Ende schob er eine weitere Stahltür auf. Die Halle dahinter war etwas kleiner, aber ebenso leer wie die erste, abgesehen von einem kleinen Metalltisch in der Mitte und drei Stühlen. Zwei der Stühle waren von Viktor Vau und Armand de Moulinsart belegt. Drei weitere Männer standen im Raum verteilt, zwei von ihnen mit Maschinenpistolen unter dem Arm.
De Moulinsart erhob sich, als Enrique eintrat. »Weise von Ihnen, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.«
Enrique ignorierte ihn und streckte Viktor die Hand hin. »Geht es Ihnen gut, Professor?«
Viktor stand auf und ergriff die Hand. »Man behandelt mich ordentlich, wenn Sie das meinen. Aber gut geht es mir deshalb trotzdem nicht.«
De Moulinsart drängte sich zwischen die beiden. »Ich nehme an, Sie haben Professor Vaus Notizbuch dabei?«
»Tut mir leid«, sagte Enrique. »Es ist mir gestohlen worden.«
Er sah, wie de Moulinsart die Röte in den Kopf stieg.
»Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie es zu tun haben?«, schrie der Mann und hieb mit der Faust auf den Tisch. Viktor wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Habe ich Ihnen gestern nicht den Ernst der Lage deutlich gemacht? Wollen Sie, dass Professor Vau die nächsten Jahre in Einzelhaft verbringt?«
Enrique hatte mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet. »Ich sage die Wahrheit. Ich weiß selbst, dass es unwahrscheinlich klingt, aber irgendjemand muss gewusst haben, dass ich das Notizbuch habe. Während wir uns gestern getroffen haben, ist dieser Jemand in meine Wohnung eingedrungen und hat das Buch verschwinden lassen.«
De Moulinsart wanderte eine Zeit lang umher und ließ sich schließlich auf einen Stuhl fallen. »Damit wären wir wieder am Anfang, Professor«, zischte er. »Sie werden mir jetzt wohl oder übel die Wahrheit sagen müssen. Und kommen Sie mir nicht wieder mit diesem Blödsinn von der perfekten Sprache.«
Bevor Viktor etwas erwidern konnte, erschütterten mehrere Explosionen die Halle. Enrique sprang auf, riss Viktor vom Stuhl und drückte ihn zu Boden. Mit der anderen Hand warf er den Tisch um, um ihn als Deckung zu benutzen. De Moulinsart war ebenfalls aufgesprungen und hatte eine Waffe gezogen. Seine Männer duckten sich mit angelegten Waffen gegen die Pfeiler.
In jeder Hallentür klaffte ein Loch, durch das von allen Seiten vermummte, schwarz gekleidete Gestalten in das Gebäude strömten.
Bevor de Moulinsart den Befehl geben konnte, zu schießen, waren sie umstellt. Ein Dutzend bewaffneter Gestalten hatte sich vor ihnen aufgebaut. Enrique richtete sich auf und half auch Viktor Vau wieder nach oben.
De Moulinsart hatte seine Pistole auf ein Bein des umgestürzten Tisches gelegt. Seine Männer waren ebenfalls von vermummten Gestalten umringt, die ihnen ihre Waffen abgenommen hatten.
Durch eine der aufgesprengten Türen betrat Roderick Fitzsimmons die Halle. Er kam mit großen Schritten auf die Gruppe zu. Um seine Schulter trug er einen Glencheck-Umhang, wie man ihn aus alten Sherlock-Holmes-Filmen kannte. Fehlten nur noch die Pfeife und die Mütze, dachte de Moulinsart. Er hätte dem alten Geck seine Landedelmannklamotten mit bloßen Händen vom Leib reißen können, wäre da nicht die Übermacht gegen ihn gewesen.
Fitzsimmons trat vor Viktor hin. »Professor Vau, nehme ich an?«
De Moulinsart konnte ein höhnisches Lachen nur mühsam unterdrücken. Jetzt imitierte er auch noch Stanley beim Auffinden Livingstones!
»Diesmal sind Sie zu weit gegangen«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ein Überfall auf einen befreundeten Dienst – das wird Sie Ihren Kopf kosten.«
»Ein Überfall? Mein Lieber, das war eine Rettungsaktion. Ich habe eine Nachricht erhalten, dass Sie von Terroristen gekidnappt worden sind, und habe mich sofort aufgemacht, Ihnen zu helfen. Woher sollte ich denn wissen, dass Sie nur eine Unterredung mit Professor Vau hatten? Vor allem in dieser Umgebung?«
»Das ist erbärmlich. Diese Geschichte können Sie niemandem auftischen.«
»Und ob. Oder wollen Sie dem Minister darüber Rechenschaft ablegen, warum Sie Professor Vau entführen und mir davon nichts mitteilen? Unser Auftrag lautet Kooperation, alter Junge. Und Ihr Verhalten sieht nicht gerade danach aus, finden Sie nicht?«
De Moulinsart verkniff sich eine Antwort. Er fragte sich, wie Fitzsimmons ihn hatte finden können. Ob der Junge ihn hergeführt hatte? Und wenn ja, war das ein Komplott oder hatte er sich unwissentlich zum Helfer gemacht? Das würde er schon herausbekommen.
»Wenn Sie gestatten, werde ich den Professor jetzt aus dieser ungastlichen Umgebung befreien«, sagte Fitzsimmons. »Kommen Sie, Professor.« Er machte eine Handbewegung in Richtung Ausgang.
Viktor sah de Moulinsart fragend an. »Gehen Sie«, knurrte der IED-Direktor. »Verschwinden Sie, alle!«
Vau setzte sich in Bewegung. Enrique wollte den beiden folgen, als ihn die schneidende Stimme de Moulinsarts zurückhielt.
»Halt! Sie bleiben hier!«
Fitzsimmons, Vau und Enrique fuhren herum.
»Wen meinen Sie?«, fragte Fitzsimmons.
»Den jungen Narren, der Sie zu mir geführt hat. Er bleibt bei mir«, erklärte de Moulinsart.
Fitzsimmons sah Enrique von oben bis unten an. Dann fasste er sich an die Stirn. »Richtig! Ich habe ja noch gar nicht gefragt, was so wichtig an dem jungen Mann ist, dass Sie und der Professor sich mit ihm treffen.«
De Moulinsart verfluchte sich selbst, dass er seinen Gegner mal wieder unterschätzt hatte. Er hatte recht gehabt mit seiner Vermutung! Fitzsimmons war dem Jungen gefolgt. Und jetzt hatte der alte Trottel auch noch Verdacht geschöpft. Vielleicht war er es sogar, der Vaus Notizbuch in seinen Besitz gebracht hatte? Aber das war unwahrscheinlich. Schließlich hatte Vau ihm erst verraten, dass er das Buch dem Kellner zur Aufbewahrung gegeben hatte.
»Herr da Soza arbeitet für mich. Als freier Mitarbeiter sozusagen. Ich hatte gehofft, er könnte mir helfen, Professor Vau zur Kooperation mit mir zu überreden.«
»Stimmt das?« Fitzsimmons´ Frage war an Enrique gerichtet.
Enrique überlegte fieberhaft, was er antworten sollte. Wenn er Fitzsimmons die Wahrheit sagte, würde der ihn zweifellos mitnehmen und hatte damit alle Trümpfe in der Hand. Blieb er hingegen bei de Moulinsart, so bestand zumindest die Chance, die beiden später gegeneinander auszuspielen.
»Es stimmt«, erwiderte er.
Fitzsimmons sah ihn scharf an. Enrique spürte förmlich, wie es in seinem Kopf arbeitete. Dann zuckte er mit den Schultern, machte kehrt und verließ mit seinen Männern und Vau die Halle.
»Eine kluge Entscheidung«, sagte de Moulinsart.
»Das wird sich zeigen. Was wollen Sie denn noch von mir?«
»Das, was Sie mir heute hätten bringen sollen. Viktor Vaus Notizbuch.«
»Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt …«
»Ich weiß, was Sie mir erzählt haben«, unterbrach ihn de Moulinsart. »Mein Gedächtnis funktioniert noch ganz gut. Und ich glaube nach wie vor, dass Sie mir nicht die Wahrheit sagen.« Er trat direkt vor Enrique. »Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht, da Soza. Und ich werde herausbekommen, was es ist. Sie haben die Wahl, ob ich das auf eine Weise mache, die für Sie sehr schmerzhaft werden könnte, oder ob Sie freiwillig mitarbeiten.«
»Von Freiwilligkeit kann hier wohl keine Rede sein«, sagte Enrique mit einem Blick auf die beiden bewaffneten Männer, die ihn flankierten. De Moulinsart machte eine kurze Kopfbewegung, und der kleine Trupp setzte sich in Richtung des anderen Ausgangs in Bewegung.
Astarte hatte ein schlechtes Gewissen.
Am Abend, als sie Enrique das Notizbuch von Viktor Vau gestohlen hatte, hatte er nicht nur versucht, sie telefonisch zu erreichen, sondern war sogar zu ihrer Wohnung gekommen. Sie hatte weder abgehoben noch ihm geöffnet. Sie fragte sich, ob er wegen des Wörterbuchs gekommen war. Hegte er einen Verdacht? Es wäre die logische Schlussfolgerung gewesen, denn außer ihr, Marek und Vau wusste niemand, dass er das Notizbuch in Verwahrung genommen hatte. Da Marek bei ihm gewesen war, fiel er als Verdächtiger aus. Von Viktor hatte sie seit seiner Unterbringung in Thuras Wohnung nichts mehr gehört. Sie war zwar heute nach der Arbeit dort vorbeigegangen, aber Viktor hatte nicht geöffnet. Sie hatte fast eine halbe Stunde gewartet, aber er war nicht aufgetaucht. Schließlich war sie zurück in ihre Wohnung gefahren.
Dort lief sie fast eine Stunde herum und fand keine Ruhe. Enrique hatte sich den ganzen Tag nicht mehr gemeldet, und sie fragte sich, ob sie ihn anrufen sollte. Es war fast, als seien er und Vau vom Erdboden verschwunden.
Sie wollte gerade seine Nummer wählen, als es an der Tür klingelte.
Das konnte nur Enrique sein! Sie stürzte in den Flur und betätigte den Drücker. Dann öffnete sie die Tür und wartete auf ihn.
Der Mann, der die Treppe heraufkam, war nicht Enrique.
Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
Sie trat einen Schritt zurück, bereit, in die Wohnung zu springen und die Tür zuzuwerfen, aber der Fremde lächelte freundlich und sah nicht so aus, als wolle er sie bedrohen. Er spürte wohl ihre Skepsis, denn er blieb einige Stufen vor dem Treppenabsatz stehen.
»Guten Abend, Frau Apostolidis.« Seine Stimme klang angenehm weich, ohne schmierig zu sein. Sie konnte ihn jetzt im Licht der Lampe vor ihrer Tür besser sehen. Er mochte knapp fünfzig Jahre alt sein, war mittelgroß und leger gekleidet. Das Gesicht hatte etwas Jungenhaftes, dem allerdings der melancholische Zug widersprach, der ihn umgab. Auf jeden Fall sah er nicht sonderlich gefährlich aus.
»Ja?«, erwiderte sie zurückhaltend.
»Mein Name ist Winter. Wenn Sie erlauben, würde ich mich gerne kurz mit Ihnen unterhalten.« Er hielt ihr eine Identitätskarte hin.
Sie warf einen Blick darauf. »Dagombé? Das ist doch das Land …«
»… in dem sich Professor Vau kürzlich aufgehalten hat«, vollendete er den Satz. »Und über ihn möchte ich gerne mit Ihnen sprechen.«
Sie gab ihm den Ausweis zurück und zögerte einen Moment, bevor sie ihn aufforderte, einzutreten.
Er hielt sich respektvoll ein Stück von ihr entfernt. Sie deutete auf die Wohnzimmertür. »Dort hinein, bitte.«
Er nickte und folgte ihr. Sie bot ihm einen Platz auf dem Sofa an und setzte sich selbst in den Sessel ihm gegenüber. Ihr Besucher schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück.
»Frau Apostolidis, ich will sofort zur Sache kommen«, begann er, nachdem er sich einmal im Raum umgesehen hatte. »Ich arbeite für den Sicherheitsdienst von Dagombé. Wie Sie wissen, war Professor Vau auf Wunsch Ihrer Regierung bei uns. Und er hat das Land nicht gerade in der Touristenklasse verlassen.«
Astarte nickte nur leicht, sagte aber nichts. Sie wartete ab, worauf der Mann hinauswollte.
»Nun, wie Sie ebenfalls wissen, ist Professor Vau in die Stadt zurückgekehrt«, fuhr er fort. »Sie haben ihm über Ihre Freundin Thura eine Wohnung verschafft.«
»Habe ich das?« Astarte konnte ihr Erstaunen nicht mehr länger verbergen.
Winter seufzte. »Nicht nur ich weiß das, sondern inzwischen auch die Sicherheitsdienste dieses Landes. Sie haben Professor Vau und Ihren Freund Enrique in ihrer Gewalt.«
Die Nachricht traf Astarte wie ein Fausthieb. »Das glaube ich Ihnen nicht«, stieß sie hervor, obwohl sie tief in ihrem Innersten spürte, dass der Mann die Wahrheit sagte.
Ihr Besucher lächelte nicht mehr. »Leider ist es die Wahrheit«, sagte er mit ernstem Gesicht. »Ich bin hier, um Sie um Ihre Hilfe zu bitten.«
»Hilfe? Was kann ich Ihnen gegen die Geheimdienste schon helfen?«, fragte Astarte.
»Das wird sich zeigen.« Winter sah ihr direkt in die Augen. »Wissen Sie zum Beispiel, wo sich Professor Vaus Notizbuch befindet, in dem er die Grundzüge seiner Sprache niedergeschrieben hat?«
Das war es also! Dieser Kerl war hinter Viktors Wörterbuch her! Und woher sollte sie wissen, dass er überhaupt die Wahrheit sagte, was die Festnahme Viktors und Enriques betraf?
»Selbst wenn ich es wüsste – warum sollte ich es Ihnen sagen?« Sie schob das Kinn vor. »Sie kommen her und erzählen mir alle möglichen Geschichten, die ich nicht überprüfen kann. Wer sagt mir, dass das stimmt? Und wer sagt mir, ob Sie nicht nur hinter Viktors Notizbuch her sind, so wie die anderen auch?«
Winter hob die Handflächen. »Keine Einwände, Frau Apostolidis. Ich kann Ihre Position gut verstehen. Natürlich bin ich ebenfalls an Professor Vaus Erkenntnissen interessiert. Im Gegensatz zu meinen Kollegen lege ich nur Wert darauf, sie freiwillig ausgehändigt zu bekommen. Obwohl die Zeit dafür vorbei scheint.«
»Wie meinen Sie das?«
Ihr Besucher seufzte. »Wenn sich der Staat erst einmal einmischt, dann gewinnen die Dinge ihre eigene Dynamik. Durch die Verschleppung von Professor Vau und Enrique da Soza besitzen die beiden Sicherheitsdienste jetzt ein Faustpfand, das sie nicht so schnell hergeben werden. Es sei denn, man bietet ihnen etwas, das sie noch mehr begehren.«
»Das Wörterbuch?«
Er nickte. »Zum Beispiel. Sehen Sie, wenn Sie tatsächlich wissen, wo Professor Vaus Notizbuch ist, dann verfügen Sie über eine ausgezeichnete Verhandlungsposition. Fitzsimmons hat Vau in seiner Gewalt, de Moulinsart Ihren Enrique. Aber ohne die Aufzeichnungen können sie mit den beiden nicht viel anfangen. Und da kommen Sie ins Spiel.«
Astarte merkte, wie Winter es in seinem letzten Satz bereits als bewiesen ansah, dass sie Viktors Notizbuch besaß. Das stimmte zwar, zugleich aber auch wieder nicht. Sie beschloss, nicht mehr länger um den heißen Brei herumzureden.
»Was genau wollen Sie von mir?«
»Erstens möchte ich Ihnen anbieten, Sie in Sicherheit zu bringen, denn es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Sie ebenfalls festgenommen werden. Zweitens schlage ich vor, dass wir alle Beteiligten an einen Tisch rufen, um zu einer für alle Seiten befriedigenden Lösung zu kommen. Und drittens würde ich gerne vorher eine Kopie des Notizbuchs anfertigen.«
»Und warum sollte ich auf Ihren Vorschlag eingehen?«
»Weil Sie die Einzige sind, die noch Handlungsfreiheit besitzt und damit ihren Freunden helfen kann.«
Astarte sprang auf. Angenommen, Winter erzählte ihr die Wahrheit. Dann war sein Vorschlag tatsächlich ihre einzige Alternative. Andererseits würde sie mit Viktors Notizbuch ihren einzigen Trumpf aus der Hand geben. Sie wünschte sich, sie wäre ihrem ursprünglichen Instinkt gefolgt und hätte es sofort zerstört! Aber dafür war es jetzt zu spät.
»Also gut«, sagte sie schließlich. »Vereinbaren Sie ein Treffen.«
»Und das Notizbuch?«
»Befindet sich an einem sicheren Ort. Und da werde ich es erst dann hervorholen, wenn wir eine für alle Seiten zufriedenstellende Vereinbarung getroffen haben.«
Wenn er enttäuscht war, dann ließ er es sich nicht anmerken. »Einverstanden. Dann packen Sie ein paar Sachen. Ich bringe Sie bis dahin sicher unter.«
»Und woher weiß ich, dass Sie mich nicht foltern werden, bis ich Ihnen das Versteck des Notizbuchs verrate?«
Winter lächelte. »Foltern? Das kenne ich nur aus alten Filmen. Frau Apostolidis, wenn ich so etwas vorgehabt hätte, hätte ich es längst getan. Machen Sie bitte nicht den Fehler und unterschätzen mich. Und vor allen Dingen nicht Fitzsimmons und de Moulinsart. Gegen die beiden bin ich ein Waisenknabe.«
Sie musterte ihn prüfend. Dann machte sie eine hilflose Geste mit den Händen und ging in den Nebenraum zum Packen.
Die Heizung funktionierte mal wieder nicht. Fellner trat gegen den alten, gusseisernen Heizkörper, der ununterbrochen pfeifende und gluckernde Geräusche von sich gab. Zum zehnten oder zwanzigsten Mal an diesem Tag drehte er den Regler auf und zu, wobei er genau wusste, dass das keinerlei Wirkung haben würde. Es war eher ein Ritual, das zu seinem Alltag in diesem Gebäude gehörte, ein Alltag, der vielleicht schon bald Vergangenheit sein würde.
Die Heizung füllte den Raum unverdrossen mit ihrer Wärme. Fellner ging zum Fenster und riss es auf. Der Wind blies ihm einen Schwall Regentropfen ins Gesicht. Fluchend stieß er das Fenster wieder zu.
»Hat jemand den verdammten Handwerker angerufen?«, rief er in den Raum.
»Wir haben dem Hausmeister Bescheid gesagt«, erwiderte einer seiner Mitarbeiter.
»Vorgestern«, ergänzte ein Kollege.
Fellner seufzte. Es war jedes Jahr dasselbe Lied. Der Hausmeister betrachtete die Versorgungseinrichtungen des Reviers als seinen Privatbesitz und ließ niemanden daran, der nicht vorher eine Reihe unerbittlicher Tests bestanden hatte, die nicht unbedingt etwas mit Fachkenntnis zu tun haben mussten.
Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und nahm einen Schluck von seinem bereits seit einer halben Stunde kalten Kaffee. Die Bitterstoffe zogen seine Schleimhäute zusammen, und er unterdrückte ein leichtes Würgen. Sein Magen hatte sich in den letzten Wochen, in denen er kaum eine anständige Mahlzeit zu sich genommen hatte, abgehärtet. Geregeltes und gesundes Essen war die geringste Sorge, die Fellner in diesen Tagen hatte.
Sein Chef, der sich in der Vergangenheit immer schützend vor ihn gestellt hatte, war unter massiven politischen Druck geraten, Fellner abzulösen und jemand anderen mit der Leitung der Untersuchungen zu beauftragen. Auch die veröffentlichte Meinung, angetrieben von diesem Schmierfinken Rupert Cassell, schlug in dieselbe Kerbe. Wenn es nicht in den nächsten Tagen einen Durchbruch bei den Ermittlungen gab, konnte er sich von seinen Kollegen verabschieden und würde wahrscheinlich den Rest seiner Dienstzeit in irgendeinem Kaff in der tiefsten Provinz fristen.
Der Florist war nicht Fellners erster Serienmörder. Drei davon hatte er im Lauf seiner Karriere zur Strecke gebracht. Aber dieser hier entzog sich allen Gesetzmäßigkeiten. Er hinterließ keinerlei Spuren, er offenbarte keine eindeutige Opferstrategie, und er schlug in unregelmäßigen Abständen zu. Es gab bislang kein erkennbares Muster, bis auf die Trophäen, die er seinen Opfern herausschnitt.
Fellner nahm sich den Stapel mit der ungeöffneten Morgenpost vor, der in seinem Eingangskorb lag. Wahrscheinlich wieder die übliche Mischung aus Drohbriefen, Beschimpfungen und falschen Verdächtigungen. Es war erstaunlich, wie viele Menschen in ihren Nachbarn, mit denen sie seit Jahren zusammenlebten, auf einmal einen gefährlichen Serienmörder vermuteten.
Fellner liebte das Viertel, in dem er arbeitete, und die Menschen, die darin wohnten. Es waren ganz normale Leute, keine Heiligen oder Verbrecher. Aber gerade das, was ihm sein Revier so sympathisch machte, war den Stadtoberen ein Dorn im Auge. Schon länger stand das Viertel ganz oben auf der Sanierungsliste, ein euphemistischer Ausdruck für die Auslöschung jeglichen Charakters und den Ersatz durch eine nahezu klinisch sterile Atmosphäre mit möglichst viel zentralisiertem Kommerz. Noch gab es die kleinen Kneipenbetreiber und Ladenbesitzer, die den Handelskonglomeraten schon immer ein Dorn im Auge waren. Nach der Sanierung würden nur noch die Einheitsfassaden der Einheitsketten hier zu finden sein, die auch alle anderen Stadtbezirke dominierten.
Fellner wusste, die Schreckenstaten des Floristen waren ein wunderbares Argument für die Befürworter der Sanierung, möglichst schnell mit der Zerstörung des Viertels zu beginnen. Zum Glück waren derzeit alle verfügbaren Kräfte durch die kommende Weltausstellung gebunden. Aber sobald dort alles fertiggestellt war, würden die Bagger endgültig hier anrücken.
Gedankenverloren riss er einen Umschlag nach dem anderen auf und überflog die Inhalte oberflächlich. Es war, wie er es sich gedacht hatte. Denunziationen und Beschimpfungen. Sie wanderten alle in den großen Papierkorb neben seinem Schreibtisch.
Er überlegte gerade, ob er den Rest des Stapels nicht seinem Assistenten überlassen sollte, als sein Auge auf einen Umschlag fiel, der aus dem Rest hervorstach. Die Anschrift war nicht handgeschrieben oder mit dem Computer ausgedruckt, sondern aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammengesetzt.
Fellner nahm sich den Umschlag vor und betrachtete ihn von allen Seiten. Wenn das ein Scherz sein sollte, dann hatte sich der Absender viel Mühe gegeben. Er öffnete vorsichtig die Klappe und zog ein Blatt hervor, auf dem ebenfalls ausgeschnittene Zeitungsbuchstaben aufgeklebt waren. Die Nachricht war denkbar einfach. Sie bestand lediglich aus einem Namen und einer Adresse und dem Zusatz Das ist der Florist.
Ob es nun ein Scherz war oder nicht – für Fellner war es endlich der willkommene Anlass, um seinen Schreibtisch zu verlassen.
Nur eine halbe Stunde später stand er mit zweien seiner Männer vor dem schäbigen Backsteinhaus. Als auf ihr Klingeln niemand öffnete, liefen sie die Treppen bis in den dritten Stock hoch. Die Wohnungstür stellte für ihren automatischen Türöffner kein Problem dar. Während einer seiner Leute vor der Tür zurückblieb, um den Wohnungsinhaber abzufangen, sollte er zurückkehren, durchsuchten Fellner und sein Kollege die kleine Wohnung. Offenbar hatte der Mieter etwas unter dem Sofa versteckt, denn dort hing ein loser Klebestreifen herunter.
Wer ein Versteck hat, der hat auch mehrere, dachte Fellner und begann, Schränke abzurücken und hinter Schubladen zu tasten. Aber es war sein Kollege, der fündig wurde.
»Sehen Sie mal, Chef«, sagte er, als er aus dem Bad zurückkam. In seiner Hand baumelte eine durchsichtige Plastiktüte, die mit Hautstücken gefüllt war.
Als die Medien eine Stunde später den Fahndungsaufruf erhielten, saß Fellner bereits wieder in seinem Büro und sichtete die Informationen, die sie über Enrique da Soza besaßen.