Hauptstadt der Union
Die kommende Weltausstellung sollte für die Dynastie der Höhepunkt des Jahrzehnts werden. So war es zumindest geplant. Schon Jahre zuvor waren die besten Architekten aus aller Welt unter Vertrag genommen worden, um die Gebäude zu entwerfen. Da das Ausstellungsgelände nur einen Steinwurf vom Regierungsviertel entfernt lag, sollte der Baustil ähnlich monumental sein, um nach dem Ende der Ausstellung die Bauten direkt für die Regierungsbehörden in Beschlag nehmen zu können.
Die Bauarbeiten waren fast abgeschlossen. Die Bombenanschläge der letzten Wochen hatten zwar die Zulieferung von Baumaterialien verzögert, den Bau selbst aber nicht wesentlich behindert. Zehntausende von Arbeitern waren dabei, letzte Hand an die Gebäude und Hallen anzulegen, um sie rechtzeitig zum Ausstellungsbeginn fertigzustellen.
Rudolf Graf zu Bodenstein saß in seinem Büro und studierte die Berichte des vergangenen Tages. Er war seit drei Jahren für die Bauleitung verantwortlich, nachdem sein Vorgänger wegen allzu offensichtlicher Unfähigkeit von dem Posten entbunden worden war. Die Dynastie tolerierte ein gewisses Maß an Korruption, soweit die Arbeit einigermaßen ordentlich erledigt wurde. Der Mann hatte den Bogen allerdings deutlich überspannt.
Auch Bodenstein war nicht vom Fach. Die Dynastie legte bei der Besetzung von Führungspositionen mehr Wert auf Loyalität als auf fachliche Kompetenz. Die konnte man dazukaufen. Von einem Führungsmitarbeiter wurde erwartet, dass er sich das entsprechende Know-how am Markt beschaffte und dafür sorgte, dass es möglichst effektiv eingesetzt wurde.
Für Bodenstein war dieser Auftrag die Rettung gewesen. Seine Finanzen waren, gelinde gesagt, zerrüttet. Als Spross einer adligen Familie zählte er zwar automatisch zur Dynastie, das garantierte aber nicht ebenso automatisch ein angemessenes Auskommen.
Jeder kannte sein Problem: Er war ein Spieler. Es war ihm gelungen, innerhalb von wenigen Jahren das in vielen Jahrhunderten zusammengetragene Vermögen seiner Familie am Spieltisch zu verlieren. Lediglich eine opulente Stadtwohnung stand ihm damals noch zur Verfügung, die er wahrscheinlich ebenfalls versetzt hätte, wenn ihn nicht eines Tages ein alter Freund seines verstorbenen Vaters kontaktiert hätte.
Bodenstein wusste, dass Roderick Fitzsimmons Direktor eines der beiden Sicherheitsdienste der Dynastie war. Er hatte den Mann als jovialen Onkel kennengelernt, auf dessen Knien er als kleiner Junge imaginäre Pferderennen bestritten hatte und der ihm jedes Jahr zu seinem Geburtstag ein Paket mit ausgewählten Delikatessen zustellen ließ.
Bei dieser letzten Begegnung war Fitzsimmons allerdings alles andere als jovial gewesen. Sobald sie im Salon Platz genommen hatten, legte er seine Forderungen auf den Tisch: Rudolf habe sich umgehend in eine Therapie gegen seine Spielsucht zu begeben. Rudolf habe nie mehr ein Spielkasino zu betreten. Rudolf habe ab sofort seine Freunde nicht mehr zu treffen.
Bodenstein hatte zunächst lautstark protestiert. Er sei sein eigener Herr, das Vermögen gehöre ihm, er könne machen, was er wolle. Daraufhin war Fitzsimmons aufgesprungen, hatte ihn mit einer Kraft, die er dem alten Mann nicht zugetraut hatte, am Hals gepackt und aus dem Sessel gezogen und ihm ins Gesicht gezischt, dass Rudolf besser mache, was er befehle, wenn er sich nicht eines Tages als Leiche am Flussufer wiederfinden wolle.
Das war ein Argument, dem Rudolf nicht widerstehen konnte, zumal Fitzsimmons auch noch angeboten hatte, seine ausstehenden Spielschulden zu begleichen und ihm, nach erfolgreich absolvierter Therapie, eine lukrative Tätigkeit in einem Ministerium zu verschaffen.
Heute, fünf Jahre später, war er froh, den Ratschlägen Fitzsimmons’ gefolgt zu sein. Er war sich nicht sicher, ob der Alte auch hinter seiner Ernennung zum Leiter der Weltausstellung steckte, konnte es sich aber gut vorstellen.
Bodenstein legte den letzten Bericht beiseite und reckte sich. Er ging zu dem mannshohen Spiegel gegenüber, wo er zum dritten Mal an diesem Morgen den makellosen Sitz seines Maßanzugs und der sorgfältig nach hinten gegelten Haare überprüfte. Ihm war bekannt, dass sich manche seiner Kollegen über seine Eitelkeit lustig machten, aber das war eine der wenigen Leidenschaften, die er aus seinem alten Leben in die Gegenwart hinübergerettet hatte.
Er justierte gerade seine goldene Krawattennadel, als das Telefon klingelte.
»Mein lieber Rudolf«, dröhnte eine Stimme, die er jahrelang nicht mehr gehört hatte. »Ich hoffe, die Anarchisten haben dir noch nicht den Sessel unterm Hintern weggebombt.«
»Onkel Roderick«, erwiderte Bodenstein überrascht. Die verwandtschaftliche Bezeichnung hatte sich seit frühesten Tagen eingebürgert, auch wenn Fitzsimmons kein leiblicher Onkel war. »Long time no hear.«
»Der Schutz des Staates lässt einem kaum eine freie Minute. Ich nehme an, du hast auch alle Hände voll zu tun.«
»Das kannst du laut sagen. Die Eröffnung steht kurz bevor, und wir liegen leider immer noch hinter unserem Zeitplan.«
»Du wirst das schaffen, da mache ich mir keine Sorgen. Es sei denn, du hast dich wieder deinem alten Laster zugewandt.«
»Das solltest du doch besser wissen, Onkel Roderick.« Rudolf wusste, dass Fitzsimmons über jeden seiner Schritte informiert war, auch wenn er sich die ganze Zeit nicht hatte blicken lassen. Und er ahnte, was sein Anruf zu bedeuten hatte. Die nächsten Worte bestätigten seinen Verdacht.
»Ich halte dich nur ungern von deiner Arbeit ab, mein Junge, aber ich brauche deine Hilfe.«
Es war also an der Zeit, etwas von dem zurückzuzahlen, was Fitzsimmons für ihn getan hatte.
»Und was wäre das?«, fragte Rudolf vorsichtig.
»Zwei Dinge: Zum einen möchte ich, dass du die Bewachung des Geländes verdoppelst. Tag und Nacht. Die Bombenwerfer rücken dir etwas zu nah auf den Pelz, finde ich.«
»Verdoppeln?«, rief Rudolf. »Weißt du, was das kostet?«
Fitzsimmons lachte erneut. »Durchaus, mein Junge. Dann steckst du dir eben etwas weniger vom Budget in die Tasche.«
»Aber …« Rudolf verstummte. Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Er seufzte. »Okay, ich werde mich drum kümmern.«
»Kümmern reicht nicht. Ich möchte, dass die Wachen ab heute Nachmittag verstärkt sind.«
Das war gar nicht mehr der nette Onkel, sondern der eiskalte Leiter des Sicherheitsdienstes, den Rudolf in seinem Leben zum Glück nur einmal kennengelernt hatte. Es war eine Erfahrung, die er nicht wiederholen wollte.
»Du kannst dich darauf verlassen«, sagte er. »Und das zweite?«
»Das wird dich nichts kosten.« Fitzsimmons’ Stimme war wieder so verbindlich wie zuvor. »Ich möchte heute Abend ein kleines Treffen veranstalten. Es soll möglichst diskret sein und auf absolut neutralem Boden stattfinden. Ich hatte da an den Unabhängigkeitspalast gedacht.«
Rudolf schluckte. Der Unabhängigkeitspalast war eines der Prunkstücke der Weltausstellung – und eines der Gebäude, in dem noch ordentlich etwas zu tun war. Wenn Fitzsimmons ihn benutzen wollte, musste er für mindestens zwei Stunden die Bauarbeiten unterbrechen, was den ohnehin knappen Zeitplan noch mehr verkürzte. Aber er wusste, dass es nur eine Antwort gab.
»Das wird nicht einfach, aber ich werde es einrichten«, erwiderte er etwas gequält. »Wann genau soll das Treffen stattfinden?«
»Heute von zehn Uhr bis etwa Mitternacht. Ich werde dir eine Liste der Teilnehmer zumailen, damit du die Wachen am Haupttor informieren kannst. Und schärf ihnen ein, niemanden sonst reinzulassen.«
»Wird gemacht.« Damit konnte er den gemütlichen Abend mit seiner Freundin vergessen. Er überlegte, wie er es ihr am schonendsten beibringen konnte, ohne dass sie einen ihrer Ausbrüche bekam und seine Anrufe die nächsten vier Wochen nicht mehr beantwortete. »Ich werde mich persönlich um alles kümmern.«
»Sehr schön, mein Junge. Ich ruf dich an, wenn wir fertig sind, damit du deine Arbeitssklaven wieder ans Werk schicken kannst. Und dann sollten wir uns auch mal wieder treffen. Es ist nicht gut, so lange nichts voneinander zu hören.«
Sie tauschten noch ein paar Belanglosigkeiten aus und legten dann auf. Rudolf ließ sich in seinen Stuhl fallen und atmete tief durch. Er gab sich keinen Illusionen hin. Das war mit Sicherheit nur die erste einer Reihe von Gefälligkeiten, die er Fitzsimmons erweisen durfte. Rudolf fragte sich, wie viele andere Menschen wohl wie er in der Schuld des Mannes standen. Jede Menge, darauf hätte er gewettet, wenn er noch gespielt hätte.
Er schüttelte den Kopf und griff zum Hörer, um die zusätzlichen Wachleute anzufordern.
Es war überraschend kühl geworden. Ein Kälteeinbruch aus dem Norden, wie die Wetterdienste vermeldeten. Dazu blies ein eisiger Wind, ein Vorbote des nahenden Winters.
Armand de Moulinsart war froh, am Morgen einen Mantel mitgenommen zu haben. Er fischte ihn aus dem Kofferraum der Limousine, die soeben vor dem Haupteingang des Weltausstellungsgeländes vorgefahren war. Neben ihm standen zwei seiner Männer, die sich um Enrique kümmerten.
De Moulinsart hatte den Jungen seit den frühen Morgenstunden ununterbrochen verhört. Er war mindestens ebenso erschöpft wie sein Gefangener, aber die Aussicht auf die Konfrontation mit Fitzsimmons belebte ihn.
Der Junge war die ganze Zeit bei seiner Darstellung geblieben. Zwei von de Moulinsarts Leuten hatten seine Wohnung durchsucht und bestätigt, dass offenbar etwas unter dem Sofa befestigt gewesen war. Der Klebestreifen hing exakt so da, wie Enrique es beschrieben hatte. Inzwischen war de Moulinsart geneigt, ihm zu glauben. Blieb die Frage, wer Vaus Notizbuch hatte.
Fitzsimmons sicherlich nicht, sonst hätte er das Treffen nicht anberaumt. Viktor Vau befand sich in seiner Gewalt, aber er brauchte natürlich das Notizbuch. Auch Winter kam als Täter nicht infrage. Warum hätte er sonst sein Kommen zugesagt? Und vor allem: Warum brachte er die Assistentin von Vau mit? Was konnte sie wissen, das Vau nicht wusste?
De Moulinsart knöpfte seinen Mantel zu und setzte sich in Bewegung. Kurz vor dem Tor zog er Enrique noch einmal beiseite.
»Sie haben verstanden, was Sie sagen müssen? Dass Sie mir das Notizbuch gegeben haben?«
Enrique nickte müde. »Wenn Sie wollen. Ich weiß nur nicht, welchen Vorteil Sie sich davon versprechen.«
»Das lassen Sie meine Sorge sein. Spielen Sie mit, und Sie können anschließend als freier Mann nach Hause gehen.«
»Wie Sie meinen.« Enrique machte einen Schritt nach vorn. Sofort fasste ihn einer der beiden Agenten am Arm. De Moulinsart gab ihm ein Zeichen, loszulassen.
»Sie werden uns doch jetzt auf den letzten Metern keinen Ärger machen?«, fragte er.
»Keine Sorge. Ich will hier einfach nur raus.«
De Moulinsart nickte. »So ist es recht. Dann wollen wir mal.«
Er schickte seine Männer zum Auto zurück und ging mit Enrique zum Wachtposten, der sie nach einem kurzen Check seiner Namensliste durchwinkte. De Moulinsart blickte sich erwartungsfroh um. Er war zum ersten Mal auf dem Gelände der Weltausstellung und war gespannt, was man schon sehen konnte.
Er fragte sich, warum Fitzsimmons ausgerechnet diesen Ort für ein Treffen ausgesucht hatte. Natürlich wusste er, dass der Bauleiter, dieser Graf zu Bodenstein, zu dem Klüngel gehörte, den er gerne um sich scharte, bezweifelte aber, dass das irgendeine Bedeutung hatte. Wahrscheinlich erschien es ihm einfach als ein Ort, an dem er vor einem Racheakt de Moulinsarts sicher war.
Vom Tor aus stieg eine breite Allee leicht hügelan. Zu beiden Seiten lagen kleinere Pavillons auf Rasenflächen verstreut, zu denen kiesbestreute Wege führten. Es sah eher nach einem königlichen Vergnügungspark als nach einer Ausstellung aus, welche der Welt den aktuellen Stand der Hochtechnologie präsentieren wollte. Eine geschickte Täuschung, denn die kleinen Häuschen waren nur der Zugang zu größeren Hallen, die unter der Erdoberfläche lagen. Das gesamte Areal war ein gigantischer Maulwurfsbau mit unterirdischen Gängen und Grotten, die perfekt ausgebaut waren. Es gab eine Metrolinie, die direkt bis unter den Hügel führte, sowie eine Verbindung zu den ehemaligen Katakomben, deren Höhlen zum Teil für die Ausstellung genutzt wurden.
Überall waren Arbeiter im Schein der Laternen unterwegs. Neben den eleganten Leuchten der Weltausstellung waren allerorts noch Baustellenlampen aufgebaut, die das Gelände in ein gleißendes Licht tauchten. Vorarbeiter und Ingenieure flitzten auf kleinen Gyroscootern vorbei, das Mobiltelefon am Ohr.
Eine Gruppe von drei Arbeitern stand einige Meter vom Hauptweg entfernt. Sie warteten auf ihren Kollegen, der stehen geblieben war und in seiner Umhängetasche herumwühlte. Irgendwie kam de Moulinsart die Gestalt merkwürdig bekannt vor, aber bevor er darüber nachdenken konnte, ertönte hinter ihm ein Ruf.
Zwei Gyroscooter jagten die Zufahrt hoch, direkt auf sie zu. Ehe er reagieren konnte, hatte ihn Enrique am Arm gepackt und zur Seite gezerrt. Die beiden Scooter schossen vorbei. De Moulinsart fluchte hinter ihnen her und warf Enrique einen Blick zu.
»Danke.«
»Keine Ursache«, erwiderte Enrique ausdruckslos.
Schweigend legten sie den Rest des Weges zum Unabhängigkeitspalast zurück. Durch den Zwischenfall hatte de Moulinsart die Gestalt auf dem Rasen vergessen.
Sie betraten das Gebäude durch eine geöffnete Tür neben der riesigen Eingangspforte. Die Halle, in die sie kamen, war gewaltig. Ein Saal für Giganten, dachte de Moulinsart, und ihn erfüllte ein heißer Stolz auf den Staat, dem er dienen durfte. Wer brachte heutzutage noch solche Bauwerke zustande? Dazu benötigte man Visionen, die besten Architekten und Baumeister und vor allem eine stabile Gesellschaftsordnung. Kein Wunder, dass die Anarchisten gerade die Weltausstellung als Ziel auserwählt hatten, war sie es doch, die der ganzen Welt den Glanz und die Überlegenheit der Dynastie demonstrierte.
Drei gewaltige Glaskuppeln wölbten sich über ihnen und ließen genügend Licht herein, um die Halle in ein blasses Zwielicht zu tauchen. Elegant geschwungene Stahlträger stützten die Empore, die rund um das Gebäude verlief und deren verschlungenes Geländer ein Meisterwerk an Metallschmiedekunst war. Die von außen noch verhangenen Fenster waren in Hunderte einzelner Scheiben aufgeteilt, von denen jede individuell von einem Künstler gestaltet worden war. Der Boden bestand aus handgearbeiteten Fliesen, die in symbolischer Form die Errungenschaften der Dynastie darstellten.
»Ist Ihnen bereits die Luft ausgegangen?« Die Stimme riss de Moulinsart aus seinen Betrachtungen. Es war natürlich Fitzsimmons, der mit Vau an einem Tisch genau im Zentrum des Saals saß.
De Moulinsart und Enrique traten näher heran. Der Professor sah deutlich schlechter aus als bei ihrer letzten Begegnung. Er war unrasiert, und der dunkle Schatten der Bartstoppeln auf seinen Wangen verlieh ihm den Ausdruck eines Strafgefangenen, der seit langer Zeit in Einzelhaft schmorte.
Fitzsimmons dagegen wirkte wie das blühende Leben. Er steckte in einem Lodenmantel, den er offen trug, und einer knielangen Wollhose, die in rote Strümpfe mündete. Zwei kantige Wanderschuhe vervollständigten den rustikalen Eindruck.
»Auf Sie ist Verlass!«, rief er. »Pünktlich wie die Maurer. Und wie ich sehe, haben Sie den jungen Enrique mitgebracht.«
»Er wird Ihnen nicht viel nützen«, brummte de Moulinsart.
»Das werden wir ja sehen.« Fitzsimmons wies auf zwei freie Stühle. »Setzen Sie sich doch. Ich nehme an, unser Freund Winter wird auch jeden Moment eintreffen.«
Enrique nahm neben Vau Platz, der dem Geschehen mit leerem Blick folgte. Der Mann war sichtlich fertig und würde es nicht mehr lange machen.
An der Tür hörten sie ein Geräusch. Es waren Winter und Astarte.
»Entschuldigen Sie die Verspätung«, rief Winter. »Wir sind in eine Verkehrskontrolle geraten. Es scheint, die Polizei wird aufgrund der vielen Bombenanschläge langsam ein wenig nervös.«
»Das würden Sie auch, wenn die Anschläge in Ihrem geliebten Agua Caliente stattfänden«, konterte de Moulinsart. »Sie haben einfach das Glück, dass sich niemand für Ihr Kaff interessiert. Nur Weltmächte wie die Dynastie stellen für Terroristen eine Herausforderung dar.«
Astarte stürzte auf Viktor Vau zu und ergriff seine Hände. »Professor, was hat man Ihnen getan?«
Vau lächelte müde. »Nichts, meine Liebe. Ich bin nur ein wenig erschöpft, das ist alles.«
Enrique staunte sie mit großen Augen an. »Wieso bist du denn hier?«, fragte er. Bevor sie ihm antworten konnte, ergriff Winter das Wort.
»Ich habe Roderick gebeten, dieses Treffen einzuberufen, weil jeder von uns etwas hat, das ein anderer gerne besitzen würde. Wir sollten uns darüber verständigen, wie wir diese Situation zu unser aller Vorteil wenden können.«
»So, wie ich es sehe, haben Sie nichts, das mich interessieren könnte«, sagte Fitzsimmons.
»Meinen Sie?« Winter lächelte. »Roderick, Sie haben zwar Professor Vau in Ihrer Gewalt, aber nicht sein Wörterbuch. Wo das ist, weiß nur diese junge Dame, an deren Wohlergehen wiederum jener junge Mann ein Interesse hat, der Sie begleitet, Armand. Dummerweise sieht es so aus, als hätten Sie damit auch die schlechtesten Karten in der Hand. Was mich betrifft, so hätte ich natürlich auch gerne Zugang zu Professor Vaus Notizbuch. Frau Apostolidis will das aber erst dann herausgeben, wenn sie sicher sein kann, dass Professor Vau und Herr da Soza sich frei bewegen können.«
»Lächerlich«, spuckte de Moulinsart. »Sie sind hier nicht in Dagombé, Winter. Wenn ich etwas haben will, dann nehme ich es mir.«
»Nicht von mir«, widersprach ihm Fitzsimmons. »Ich bin im Grunde auch Ihrer Meinung, was den Kollegen Winter betrifft, aber er hat nicht ganz unrecht.«
Sein Rivale schnaubte. »Wir wissen noch nicht einmal, um was es hier geht, und wollen in Verhandlungen einsteigen, bei denen wir etwas aufgeben sollen?«
»Das habe ich mich auch schon die ganze Zeit gefragt«, meldete sich Enrique zu Wort. »Was Professor Vau entwickelt hat, ist eine künstliche Sprache. Die Regeln dafür hat er in seinem Notizbuch niedergeschrieben. Ich frage mich, welches Interesse die Sicherheitsdienste daran haben, dass Sie einen solchen Aufwand betreiben.«
»Ich würde Ihnen beipflichten, mein lieber Freund, wenn da nicht diese Raumkapsel wäre«, erwiderte Fitzsimmons. »Stellen Sie sich vor: Eine hochtechnologische Gesellschaft, die sogar das Zeitreisen beherrscht, fürchtet sich vor dem, was Professor Vaus Notizbuch enthält. Da ist unsere Neugier doch nur zu verständlich, finden Sie nicht?«
»Was wollen Sie mit einer Kunstsprache?«, warf Astarte ein. »Selbst wenn sie irgendwelche Auswirkungen hat, es dauert Jahrhunderte oder länger, bis sie sich so verbreitet hat, dass alle Menschen sie sprechen. Wir alle sind dann schon längst tot, und wer weiß, ob es Ihre Dynastie dann noch geben wird.«
»Sie wollen uns auch glauben machen, dass es sich nur um diese Sprache handelt«, schnappte de Moulinsart. »Aber was ist, wenn etwas ganz anderes dahintersteckt? Das wissen wir aber erst, wenn wir Professor Vaus Aufzeichnungen gesehen haben.«
Astarte setzte zu einer Antwort an.
In diesem Augenblick ging die Bombe hoch.
Marek und drei seiner Genossen saßen in dem fensterlosen Lieferwagen und warteten. Sie hatten sich bereits eine Viertelstunde zuvor umgezogen. Jeder von ihnen trug einen blauen Arbeitsanzug, feste Sicherheitsschuhe und einen Schutzhelm. An der Brusttasche ihrer Jacken war der Schriftzug Globatech eingenäht. Darunter baumelte ein laminiertes Schild mit dem Foto seines Trägers und einem falschen Namen.
Jeder hatte einen Rucksack vor sich stehen, so wie ihn die meisten Arbeiter mit zum Job nehmen. Wer einen davon geöffnet hätte, hätte die üblichen Utensilien vorgefunden: Butterbrotdose, Thermoskanne, eine Schachtel mit Keksen, ein paar Schokoladenriegel, eine Plastikflasche mit Wasser oder Apfelschorle.
Was sich wirklich in den Rucksäcken verbarg, konnte nur herausfinden, wer die einzelnen Gegenstände einer genauen Prüfung unterzog. Marek wusste, wie unwahrscheinlich das war. Meistens wurde beim Rausgehen kontrolliert, ob jemand irgendetwas von der Baustelle hatte mitgehen lassen. Nur ganz selten gab es Stichproben bei den eintreffenden Arbeitern, und dann wurde zumeist gezielt nach etwas gesucht, zum Beispiel nach Flugblättern, in denen eine der kleineren Gewerkschaften zum Streik aufrief. Obwohl Harry König einen Deal mit dem Grafen, der den Bau beaufsichtigte, geschlossen hatte, in dem Königs Gewerkschaftsbund garantierte, dass alles reibungslos ablief und Unruhestifter umgehend durch zuverlässige Leute ersetzt würden, kamen Flugblattaktionen trotzdem immer wieder vor.
Der Mann an Mareks Seite trommelte einen komplizierten Rhythmus auf seinen Oberschenkeln. Er hatte die Genossen, die mit ihm diesen Auftrag ausführten, vorher noch nie gesehen. Keiner wusste, wie der andere wirklich hieß, wo er wohnte und was er machte. Das hatte ihm Thura heute Morgen erklärt, als sie ihm die Details des Einsatzes erläuterte.
»Nachdem ihr eure Aufgabe erfüllt habt, zieht ihr euch um. Der Wagen wird jeden von euch an einer anderen Stelle in der Stadt herauslassen, nicht notwendigerweise in der Nähe eurer Wohnung. So verringern wir die Gefahr, dass jemand redet und seine Genossen gefährdet.«
»Und du?«, fragte Marek erstaunt. »Du kennst jeden von uns. Was, wenn du verraten wirst? Hast du davor keine Angst?«
Thura lachte. »Ich bin eine alte Frau. Über kurz oder lang werden sie mich erwischen. Du musst nicht glauben, dass ich nicht beobachtet werde. Die Sicherheitsdienste wissen nur zu gut, dass ich subversive Literatur verteile und Veranstaltungen durchführe, die nicht gerade das Hohelied der Dynastie singen. Aber genau das schützt mich auch. Denn wer, der so im Rampenlicht der Ermittler steht, würde eine Gruppe von Attentätern leiten? Bislang hatte ich Glück, aber irgendwann ist das vorbei. Ich hoffe nur, dass es erst nach der Eröffnung der Weltausstellung passiert.«
»Vielleicht solltest du deine Aktivitäten anderswohin verlagern«, schlug Marek vor. »Wenn die Sicherheitsdienste hier reinmarschieren, haben sie doch leichtes Spiel.«
Thura schmunzelte. »Siehst du, wie gut unser Sicherheitssystem funktioniert? Selbst du hast davon nichts bemerkt.«
Marek starrte sie fragend an.
»Du denkst, jeder kann hier so einfach in mein Büro kommen und sich nach Lust und Laune umsehen? Dann hast du nicht genau hingesehen. Wir überwachen sowohl die Straße als auch den Laden mit Kameras und Sensoren. Wenn Gefahr droht, wird die Tür zum Büro durch eine Stahlplatte verriegelt. Das Gleiche passiert bei allen anderen Türen, die über den Gang zu erreichen sind.«
»Respekt«, staunte Marek. Davon hatte er wirklich noch nichts bemerkt. »Und wie kommt ihr hier raus? Ewig werdet ihr ja die Angreifer nicht aufhalten können.«
»Das erkläre ich dir gerne ein anderes Mal«, lächelte Thura. »Jetzt sollten wir uns um die Aufgabe kümmern, die du zu erledigen hast.«
Nachdem Marek die Bombe zwei Mal zusammengebaut und wieder auseinandergenommen und die Teile wieder in den Alltagsutensilien verstaut hatte, zog er ein nachdenkliches Gesicht. »Das ist allerfeinste Technologie«, sagte er. »Nichts, was man im Bastelladen um die Ecke kaufen kann. Ich denke, ich kann das beurteilen, denn mit Basteleien kenne ich mich aus.«
»Und?«
»Ich frage mich, woher das Zeug stammt.«
»Du bist eindeutig zu neugierig.« Thuras Miene wirkte nun strenger.
»Klar, nichts für ungut.« Marek hob entschuldigend die Hände. »Ich wollte auch gar nicht schnüffeln. Neugier ist nun einmal mein zweiter Vorname.«
Das schien Thura zu beruhigen. Marek hatte tatsächlich nicht vor, sie zu verraten. Mit Viktor Vau war es etwas anderes gewesen, gewissermaßen eine Ausnahme. Davon musste er nur Enrique noch überzeugen. Mit seinen klaren Vorstellungen von Recht und Ordnung und seiner rationalen Vorgehensweise würde er für sein Verhalten sicher Verständnis zeigen.
Während Marek jetzt auf der Ladefläche des Lieferwagens auf das Zeichen zum Loslegen wartete, fragte er sich, ob de Moulinsart vielleicht etwas mit Enriques Verschwinden zu tun hatte. Er nahm sich vor, dem morgen sofort nachzugehen. Eine Information zu verkaufen war eine Sache; einen Freund in eine Falle zu locken, etwas völlig anderes.
Der Fahrer klopfte drei Mal gegen die Trennwand. Das war ihr Zeichen! Endlich! Marek schoss hoch, schnappte seinen Rucksack und öffnete vorsichtig die Hecktür. Die Straße und der Bürgersteig waren leer. Er sprang aus dem Laderaum, gefolgt von seinen Genossen.
Sie liefen bis zur nächsten Ecke. Etwa fünfzig Meter vor ihnen lag auf der anderen Straßenseite eine Bushaltestelle, wo soeben einer der Pendelbusse von Globatech sechzig Männer und Frauen in identischer Kleidung wie der ihren ausspuckte. Marek und seine Begleiter überquerten die Fahrbahn und schlossen sich den Arbeitern an.
Ungehindert passierten sie die Wachtposten am Eingang zum Betriebshof der Weltausstellung. Mit ihnen waren auch mehrere Hundert Arbeiter anderer Firmen eingetroffen. Entsprechend groß war das Durcheinander auf dem Hof.
Marek und seine Gruppe liefen zielstrebig auf eine Baracke am Rand des Platzes zu. Hier gab es für jeden Arbeiter einen Spind, in dem er sein Werkzeug aufbewahren konnte, auch die vier, deren Platz sie eingenommen hatten. Marek hätte gern gewusst, ob sie freiwillig darauf verzichtet hatten, heute zur Nachtschicht zu erscheinen, oder wie es Thura sonst bewerkstelligt hatte, ihnen die Ausweise zu besorgen.
Sie warteten vor dem Gebäude, bis die meisten Arbeiter es wieder verlassen hatten, und holten sich dann ihre Werkzeugkästen aus den Schränken. An der Grenze des Betriebshofs zur eigentlichen Weltausstellung gab es mehrere elektronisch gesteuerte Drehkreuze. Marek hielt seinen Ausweis gegen den Scanner. Der Apparat gab den Weg frei.
Sobald sie durch die Sperre waren, marschierten sie auf ihr erstes Ziel zu. Mit ihrer Ausrüstung und ihrer Kleidung waren sie nicht zu unterscheiden von den zahlreichen Gruppen anderer Arbeiter, die überall auf dem Gelände unterwegs waren.
Es war jetzt kurz nach acht Uhr. Sie mussten ihre Arbeit innerhalb der nächsten vier Stunden erledigen, um dann die Ausstellung um Mitternacht bei Schichtwechsel zu verlassen.
Ihr erstes Ziel lag direkt vor ihnen. Es war eine zehn Meter hohe Statue auf einem quadratischen Marmorsockel, die den Verfasser des Unionsvertrags, Hagbert Wockendorf, darstellte. Er stand hinter einem Tisch, die linke Faust auf die Tischplatte gestützt, in der rechten ein Bündel von Papieren, das er über seinem Kopf schwenkte.
Bevor Marek an die Arbeit ging, spuckte er die Statue erst einmal an. Der Unionsvertrag war es, der sein Land in Chaos und Armut gestürzt hatte, indem er die Märkte der Union von denen der umliegenden Gebiete abriegelte. Indirekt waren auch Mareks Eltern Opfer dieses Vertrags geworden. Deshalb war es für ihn eine besondere Genugtuung, Wockendorf zu pulverisieren, auch wenn es nur ein steinernes Abbild war.
Nach zwei Stunden hatten sie die ersten beiden Bomben angebracht. Die restlichen zwei sollten an derselben Stelle zum Einsatz kommen: dem Unabhängigkeitspalast. Hier war die Arbeit einerseits einfacher, weil noch so viele Leute am Gebäude tätig waren, andererseits erhöhte das natürlich auch das Risiko, aufzufliegen.
Sie liefen einen der Kiespfade zum Hauptweg entlang, als Marek dort zwei Gestalten bemerkte, die ihm bekannt vorkamen. Sofort hielt er an, beugte sich über seine Umhängetasche und tat so, als würde er darin etwas suchen. Er zischte seinen Genossen, die schon drei Schritte weiter waren, ein leises »Stopp« zu. Sie blieben stehen und verdeckten ihn so teilweise vor den zwei Männern, die gerade auf dem Weg zum Palast waren: de Moulinsart und Enrique.
Marek verfluchte sein Pech. Ausgerechnet de Moulinsart musste ihm hier über den Weg laufen! Und Enrique war tatsächlich bei ihm. Marek beugte den Kopf noch tiefer über seine Tasche. Seine Genossen wurden unruhig.
»Was ist los?«, fragte einer von ihnen.
Marek schüttelte nur den Kopf. In dem Augenblick ertönte ein Ruf vom Hauptweg her. Hatten sie ihn entdeckt? Er wollte gerade kehrtmachen und abhauen, als er bemerkte, dass der Ruf nicht ihm gegolten hatte, sondern de Moulinsart. Er sah, wie Enrique seinen Begleiter vor zwei herankommenden Gyroscootern auf die Seite zerrte.
»Die dürfen mich auf keinen Fall erkennen«, zischte er seinen Genossen zu und deutete auf den Weg. Die drei verstanden sofort. Sie rückten zusammen und versperrten so die Sicht auf ihn. Er beobachtete, wie de Moulinsart hinter den Scooterfahrern her fluchte, dann aber mit Enrique weiterging.
Sie warteten zur Sicherheit noch zwei Minuten, bevor sie ihren Weg zum Unabhängigkeitspalast fortsetzten. Trauben von Arbeitern kamen ihnen entgegen.
»Ihr könnt da nicht hoch«, sagte einer von ihnen. »Anweisung des Chefs. Für zwei Stunden sind alle Arbeiten am Palast einzustellen.«
»Aber wir müssen«, antwortete einer von Mareks Verbündeten. »Sonst werden wir heute nicht fertig.«
Sein Gesprächspartner zuckte mit den Schultern. »Die Wachen da oben werden euch das gerne näher erklären.«
Seine Begleiter lachten. »Freut euch doch über die bezahlte Pause«, rief einer von ihnen Marek und seinen Genossen hinterher.
Marek fragte sich, was da los war. Hatte es etwas mit de Moulinsart und Enrique zu tun, die in diese Richtung gegangen waren? Und wenn ja, was wollten die beiden auf der Weltausstellung?
Sie waren nur wenige Schritte vom Zugang zum Vorplatz des Unabhängigkeitspalastes entfernt, als zwei Uniformierte auftauchten. Es waren vierschrötige Kerle, die im Gegenlicht wie dunkle, drohende Schatten aussahen.
»Seid ihr taub oder verdummt oder was?«, rief einer von ihnen und legte seine Hand auf den Gummiknüppel, den er am Gürtel trug. »Hier spielt sich bis Mitternacht nichts ab, kapiert?«
»Kein Problem, Meister«, versuchte der Mann neben Marek die Wachen zu beruhigen. »Wir müssen nur etwas kontrollieren.«
»Die Einzigen, die hier kontrollieren, sind wir«, sagte der andere Wachposten. »Und nun verzieht euch!«
»Ist ja schon gut.« Marek zog seinen Nebenmann am Ärmel. »Los, lass uns gehen.«
Sie liefen den Weg so weit herab, bis sie außer Sichtweite waren.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Marek.
Der Wortführer blickte auf seine Armbanduhr. »Wir können keine zwei Stunden warten. Um Mitternacht müssen wir hier raus sein. Also müssen wir von der anderen Seite an den Palast herankommen.«
Zum Glück waren die meisten Arbeiter inzwischen zurück zum Betriebshof gezogen, um dort die Unterbrechung abzuwarten. Bis auf vereinzelte Gestalten war der Park um sie herum leer. Sie duckten sich in die Büsche und stiegen einen kleinen Hügel empor. Hier war es relativ dunkel, denn die meisten Leuchten standen an den Wegen und den Pavillons, an denen noch gearbeitet wurde.
Die Rückseite des Unabhängigkeitspalastes war mit einem Maschendrahtzaun abgesichert.
»Ich hoffe, sie haben keine Hunde«, murmelte Mareks Nebenmann.
»Das werden wir gleich sehen.« Der Wortführer zog einen taschenlampengroßen Laserschneider aus seinem Rucksack. Sekunden später klaffte ein mannshohes Loch im Zaun. Marek kroch als Erster durch. Er lauschte, aber von Hunden war nichts zu hören und auch sonst schien niemand den Lichtstrahl des Lasers bemerkt zu haben. Er gab seinen Genossen ein Zeichen, und sie liefen geduckt über den Rasen bis zur Rückwand des Palastes.
Vor der Wand war ein mit Planen abgehängtes Baugerüst in die Höhe gezogen, hinter dem sie verschwanden. Marek stolperte in der plötzlichen völligen Dunkelheit über eine Querstrebe und wäre beinahe gestürzt, wenn sein Vordermann ihn nicht abgefangen hätte.
Einen Augenblick lang blieben sie stehen und atmeten durch.
»Seid vorsichtig mit den Lampen«, warnte sie der Wortführer. »Nur das allernötigste Licht.«
Alle holten ihre Taschenlampen hervor und verteilten sich an der Gebäudewand. Mareks Position war die am linken äußeren Ende. Er befestigte die kleine Leuchte mit einem Stirnband an seinem Kopf und begann, den Boden an der Mauer mit einem Handspaten auszuheben. Anschließend setzte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und packte die Butterbrotdose und Thermosflasche aus.
In der Dose lagen zwei Wurstbrote, ein halber Apfel und zwei Möhren. Marek steckte sich eines der Brote in den Mund und hielt es mit den Zähnen fest, während er den Rest neben sich auf den Boden kippte. Den Tee aus der Thermoskanne schüttete er ebenfalls weg.
Während er auf dem Brot herumkaute, hob er den falschen Boden der Dose ab. Darunter war eine graue, teigige Masse verborgen. Er zog seinen rechten Schuh aus und klappte die Sohle am Absatz beiseite. Aus dem Hohlraum dahinter zog er zwei Drähte, deren Enden er in der Masse befestigte, um dann den falschen Boden wieder daraufzulegen.
Marek schluckte den letzten Bissen herunter und schraubte den doppelten Boden der Thermosflasche ab. Darin verbarg sich eine kleine Platine, die er mit Klebestreifen in der Brotdose befestigte. Er riss zwei Schokoladenriegel auf und brach sie in der Mitte durch. In einem war eine Batterie versteckt, im anderen eine Digitaluhr, beide in Plastikfolie eingeschweißt. Aus seinem linken Schuhabsatz fischte er weiteres Zubehör, das er auf der Platine zusammensteckte. Als Letztes kam der winzige Sender dran, mit dem die Bombe aus der Ferne aktiviert werden konnte.
Er war beinahe fertig, als er ein leises Geräusch hörte. Sofort machte er seine Lampe aus. Seine Genossen, die die plötzliche Verdunkelung bemerkt hatten, taten es ihm nach.
Das Geräusch kam näher. Es waren eindeutig Schritte. Marek presste sich so weit wie möglich an die Palastwand. Hoffentlich war das keine Patrouille mit Hund!
Die Schritte kamen um die Ecke. Eine Taschenlampe wurde angeknipst, nicht so eine schwachbrüstige Leuchte, wie er sie hatte. Der Lichtkegel glitt über die Plane. Marek hielt die Luft an und hoffte inbrünstig, dass sie dicht genug war, um ihn und seine Genossen zu verbergen.
Der Mann, der glücklicherweise keinen Hund mit sich führte, blieb stehen. Marek befürchtete, er könnte gleich die Plane anheben, doch dann ertönte aus der Ferne ein Ruf. Der Wachmann machte kehrt und verschwand um die Ecke.
Marek atmete erleichtert aus. Er wartete noch eine Minute, bevor er seine Stirnlampe wieder einschaltete. Er hielt den einen Draht, der in den Timer gehörte, noch in der Hand. Mit zitternden Fingern schraubte er ihn fest, drückte den Deckel wieder auf die Brotdose und legte sie vorsichtig in die Kuhle, die er vorhin gegraben hatte. Dann füllte er das Loch wieder mit Erde auf und trat sie glatt. Er packte die übrigen Sachen zurück in den Rucksack und lief zu seinen Genossen herüber.
Sie waren ebenfalls fertig mit ihrer Arbeit und hatten sich bereits an das andere Ende des Gerüsts zurückgezogen. Der Wortführer hatte ein kleines Gerät in der Hand, das wie eine Fernsteuerung aussah. Marek gab ihm das Daumen-hoch-Zeichen.
Er sah seinem Genossen beim Aktivieren der Zeitgeber zu, als ihm siedend heiß ein Gedanke durch den Kopf schoss. Hatte er die Drähte richtig an den Zeitschalter angeschlossen? Das war genau der Moment gewesen, in dem der Wachmann vorbeigekommen war. Er versuchte, sich zu erinnern. Er hatte den roten Draht in der rechten Hand gehabt – oder war es der blaue? Sosehr er sich auch bemühte, es wollte ihm nicht mehr einfallen.
Marek entschloss sich, die Aufklärung nicht abzuwarten. Vorsichtig lehnte er sich gegen die Plane und setzte einen Fuß auf die unterste Querstrebe. Er überlegte noch, ob er seine Genossen warnen sollte, als er das Klicken der Aktivierung hörte.
Er drehte sich um, stieß die Plane beiseite, sprang auf den Rasen und rannte.
Die Halle erzitterte unter dem gewaltigen Druck der Explosion. Die Druckwelle hob Astarte von ihrem Stuhl und schleuderte sie durch die Luft. Mit einem lauten Aufschrei landete sie auf dem harten Steinboden. Sie konnte den Sturz eben noch mit den Armen abfedern. Das änderte aber nichts daran, dass sie weitere fünf Meter durch die Halle geschoben wurde.
Neben ihr landeten Brocken aus Stein und Putz, und sie konnte nicht mehr tun, als sich auf den Bauch zu drehen und die Hände schützend über dem Kopf zu verschränken. Direkt vor ihren Augen prallte krachend ein verbogenes Stück Stahl auf und schlug ein tiefes Loch in die Fliesen.
Ein harter Gegenstand traf ihren Unterschenkel. Sie schrie erneut auf und zog sich weiter vor, bis sie mit dem Kopf unter dem Stahlträger lag. Hier fühlte sie sich vor dem herunterprasselnden Gestein zumindest ein wenig geschützt.
Schließlich wagte sie es, den Kopf zu heben. In der gegenüberliegenden Wand des Gebäudes klaffte ein Loch, das sich fast bis zum Dach hochzog. Die Luft war voll von feinem weißem Staub, der sich wie eine klebrige Hülle auf ihren Körper legte.
Suchend sah sie sich um. In der dichten Staubwolke war es schwer, etwas zu erkennen. Der Staub verklebte ihr die Augen, und sie versuchte, ihn mit dem Handrücken wegzuwischen, mit nur mäßigem Erfolg.
Blinzelnd stolperte sie auf das Loch in der Wand zu. Sie wusste nicht, welchen Schaden die Explosion an der Statik angerichtet hatte und ob gleich das gesamte Gebäude in sich zusammenstürzen würde.
»Astarte!«, krächzte eine Stimme rechts von ihr. Es war Enrique. Er und Viktor Vau richteten sich hinter dem umgestürzten Tisch auf, an dem sie eben noch gesessen hatten, nur dass der sich jetzt gute zehn Meter entfernt von seinem ursprünglichen Standort befand. Sie waren wie Astarte vollständig mit weißem Staub bedeckt, schienen aber unverletzt zu sein.
Viktor wankte, und Enrique und sie nahmen ihn in die Mitte. Er legte seine Arme über ihre Schultern und sie umfassten seine Hüfte. Hustend und spuckend bahnten sie sich gemeinsam einen Weg durch das Chaos nach draußen.
Dabei taumelten sie an de Moulinsart und Fitzsimmons vorbei. Die zwei Rivalen waren von demselben Trümmerstück erwischt worden, ein fast kompletter Fensterrahmen aus Metall, unter dem sie begraben lagen. Astarte lief zu den reglosen Körpern hinüber. Fitzsimmons stöhnte leise, er lebte also noch. Sie nahm de Moulinsarts Handgelenk und fühlte einen leichten Puls.
Sie kehrte zu Enrique und Vau zurück, die sich inzwischen schon fast bei dem Loch in der Wand befanden. Von Winter war nichts zu sehen. Sie überlegte kurz, ob sie nach ihm suchen sollte, als die ersten Helfer von außen in den Palast hereindrängten.
Astarte hob drei Finger und deutete in den Saal hinter sich, dann trat auch sie an die Luft. Mehrere Dutzend Arbeiter waren inzwischen eingetroffen. Einige stürzten auf die drei Gestalten zu, die aus dem Staubnebel herauswankten, um sie zu der nahegelegenen Wiese zu geleiten, wo sie sich in das Gras sinken ließen.
»Wi- … -ollen … -inden.« Astarte hatte Mund und Hals voller Staub und bekam die Worte nicht richtig heraus. Ihre Begleiter verstanden sie trotzdem. Sie mussten weg, bevor die Geheimdienstler sie wieder in ihre Gewalt bringen konnten. In der Ferne waren die ersten Sirenen zu hören.
Ein Arbeiter bückte sich zu ihnen herab. »Folgt mir. Ich weiß, wie es hier rausgeht.«
»Marek«, stammelte Enrique. Er hustete und spuckte aus. »Was machst du hier?«
»Erkläre ich euch später«, sagte Marek mit niedergeschlagenen Augen. »Könnt ihr laufen?«
Astarte nickte und sah Viktor Vau fragend an. Der nickte ebenfalls. Marek führte die drei weg vom Unabhängigkeitspalast, zu dem immer mehr Arbeiter aus allen Ecken des Parks strömten.
Sie liefen quer über das Gelände zum Betriebshof. Kurz vor dem Drehkreuz zog Marek sie in das Gebüsch am Wegesrand. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es spielte ihnen in die Hände, dass im Augenblick kaum Verkehr herrschte. Bis zum nächsten Schichtwechsel um Mitternacht würde es noch eine halbe Stunde dauern.
»Ihr müsst euch etwas sauber machen, sonst kommen wir hier nie raus«, sagte er. Sie begannen, sich den Staub von den Kleidern zu schlagen. Marek half ihnen dabei.
»Einen Moment«, sagte er und verschwand durch das Drehkreuz. Kurz darauf kehrte er mit einem Plastikkanister und drei Overalls in den Händen zurück.
»Hier, damit könnt ihr eure Hände und das Gesicht abwaschen.« Er goss jedem Wasser in die Hände, und sie reinigten sich, so gut es ging. Marek warf den Kanister hinter sich ins Buschwerk und reichte ihnen die Overalls. »Und jetzt zieht euch die an.«
Astarte verschwand hinter einem Gebüsch, wo sie vor den Blicken der anderen geschützt war. Als sie wieder zum Vorschein kam, waren Enrique und Viktor bereits umgezogen. Marek hielt ihr seine Baseballmütze hin.
»Setz die auf, dann sieht man deine langen Haare nicht.«
Der Ausgang vom Gelände auf den Betriebshof war ohne Identitätskarte möglich. Der Hof war verlassen, weil die Arbeiter nach der Explosion alle aufs Weltausstellungsgelände zurückgerannt waren. Kurz bevor sie das Tor erreicht hatten, heulten um sie herum Alarmsirenen los.
Der Wachmann trat aus seinem Häuschen, als sie daran vorbei wollten. Er war schon älter und unbewaffnet, wahrscheinlich ein Rentner, der, wie so viele, seine bescheidene Pension etwas aufbesserte.
Astarte, Enrique und Viktor blieben einen halben Meter hinter Marek stehen.
»Was ist passiert?«, fragte der Wachmann. »Was haben die Sirenen zu bedeuten?«
»Ein Bombenanschlag«, antwortete Enrique, ohne zu zögern. »Der halbe Unabhängigkeitspalast ist eingestürzt.«
»Verdammt!« Der Wachmann schüttelte sein Funkgerät. »Deshalb sind alle Kanäle überlastet. Aber wir werden natürlich wieder als letzte informiert.«
»Sie sollten aufpassen«, sagte Marek. »Die Terroristen könnten sich noch auf dem Gelände befinden.«
»Ich werde sofort alles verriegeln«, sagte er. »Danke für den Hinweis.«
Sie eilten durch das Tor und hatten kaum die Straße überquert, als sie das Tor hinter sich zurasseln hörten. Marek führte sie um zwei Häuserblocks zu einem dunkelblauen Lieferwagen mit getönten Scheiben. Er riss die Hecktür auf und bedeutete ihnen einzusteigen, während er nach vorn zum Fahrer ging. Eine Minute später kletterte auch er in den Laderaum und zog die Tür hinter sich zu. Der Motor sprang an und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.
»Wohin fahren wir?«, fragte Enrique.
»Ins Kuppelquartier«, erwiderte Marek.
»Und wie kommt es, dass du zufällig einen Transporter in der Nähe geparkt hast? Und das sogar mit Fahrer?«
Astarte wusste, warum. Es konnte keine andere Erklärung geben. »Du hast die Bombe gelegt, die vorzeitig hochgegangen ist.«
Marek nickte schwach. »Meine Genossen sind dabei ums Leben gekommen.« Sein Körper war in sich zusammengesackt, und er hockte da wie ein Häufchen Elend. Er hätte Astarte fast leidgetan, wäre ihr nicht klar gewesen, dass er sie und ihre Freunde beinahe getötet hatte.
Immer wieder hörten sie Sirenengeheul. Keiner von ihnen sagte ein Wort, während der Fahrer sie durch die nächtliche Stadt in Sicherheit brachte.