4. Der Vize

Die Kandidatenpaare für das Weiße Haus sind oft Vernunftehen, und Biden und Obama waren ein besonders ungleiches Paar. Verglichen mit anderen Politikern strahlte Obama eine katzenhafte Gleichgültigkeit gegenüber der Verehrung für seine Person aus. Biden hingegen griff nach jeder Hand, jeder Schulter, jedem Kopf. Zwischen den beiden lagen neunzehn Jahre und ein stilistischer Abgrund: Obama war ein Technokrat, Biden ein Instinktpolitiker. Obama war der wanderlustige gemischtethnische Sohn Hawaiis, Indonesiens, Kenias und Chicagos, ein Kind der Siebziger, das in der Jugend einmal »ein bisschen gekifft« hatte. Biden war mit zwei Eltern, drei Geschwistern und einer Sonntagsroutine aufgewachsen: »Dad gab mir einen Dollar, und ich radelte zu Cutler's Pharmacy, um eine Schale Eiscreme zu holen. Ich brachte das Eis nach Hause, und wir ließen uns alle sechs im Wohnzimmer nieder, um Lassie und Jack Benny und Ed Sullivan zu kucken.«

Ein Teil der Demokraten konnte Obamas Entscheidung, Biden zu seinem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft zu machen, nicht nachvollziehen. Obamas Präsidentschaft sollte ein neues Kapitel in der Generationengeschichte der amerikanischen Politik aufschlagen, sie sollte ein Triumph dessen sein, was die Wahlrechtsaktivistin Stacey Abrams, die einmal für das Gouverneursamt von Georgia kandidiert hatte, später als die »neue amerikanische Mehrheit« bezeichnen würde – eine Koalition von »People of Color, jungen Menschen und gemäßigten bis progressiven Weißen«. Biden hatte bei der Vorwahl in Iowa nicht einmal ein Prozent der Stimmen erhalten. Aber Obama bewunderte seine beherzten Auftritte in den Debatten, seine guten Kontakte zu ausländischen Politikern und seine Verbindungen in Washington. Außerdem war Biden, wie mir Obamas Chefstratege David Axelrod erklärte, »kulturell und geografisch gut positioniert«: Er machte Obama wählbar für ältere weiße Arbeitnehmer im Mittleren Westen, die möglicherweise keine natürliche Affinität zu einem Afroamerikaner hatten, der in jungen Jahren in Chicago sozial benachteiligte Gruppen organisiert hatte.

Axelrod sah bei Biden auch eine Stärke, die sich im üblichen Vokabular der Politik schlecht auf den Punkt bringen lässt. Im Verlauf der Kandidatenprüfung hatte er Biden zu Hause in Delaware besucht und sein Verhalten in der Familie beobachtet. Axelrod erinnert sich: »Er unterhielt sich mit Beau und sagte: ›Ich schaue später vorbei, um die Kinder zu sehen.‹ Wenn ich mich richtig erinnere, küsste er seinen Sohn, und er sagte: ›Ich liebe dich.‹« Zurück in Washington, berichtete Axelrod Obama: »An dieser Familie ist wirklich etwas Besonderes.« In Washington wird die Familie gern zur Schau gestellt. Aber das hier war etwas anderes. »Das ist kein Getue, es ist real«, sagte Axelrod. »Ich weiß nicht, wie das hier hereinpasst, aber in meinen Augen ist es wirklich wertvoll für uns.«

Die beiden mussten sich aneinander gewöhnen. Biden empfand das Verhalten einiger junger Mitarbeiter Obamas als irritierend, und Obamas Berater machten sich Sorgen über Bidens unbedachte Äußerungen. Der angehende Vizepräsident war es nicht gewohnt, den Teleprompter zu verwenden. Aufgrund seines früheren Problems mit dem Stottern fiel ihm das laute Vorlesen immer noch schwerer als der freie Vortrag. Manchmal arbeitete er mit Redenschreibern und ignorierte anschließend das Skript, was ihn anfällig für seine üblichen Schnitzer machte, die in Obamas Wahlkampfstab als »Joe-Bomben« bezeichnet wurden. Gemeint waren die Dinge, die er sagte, ohne sie zu meinen (»Ich kann Ihnen sagen, dass ich acht Präsidenten kennengelernt habe, drei von ihnen intim«), und die Dinge, die er meinte, aber nicht hätte sagen sollen.

Bei einer Wahlkampfveranstaltung in South Philadelphia stellte Ed Rendell, der Gouverneur von Pennsylvania, zu seiner Überraschung fest, dass die Techniker einen Teleprompter für Biden aufstellten. »Ich sagte: ›Warum bekommt Joe einen Teleprompter? Er verwendet nie einen Teleprompter.‹ Sie antworteten mir hinter vorgehaltener Hand: ›Obamas Leute wollen, dass er nach Skript spricht, um Ausrutscher zu vermeiden.‹« Im Februar 2009, nach der Amtseinführung, sagte Biden in einem Vortrag, es bestehe »eine Wahrscheinlichkeit von dreißig Prozent«, dass die Wirtschaftspolitik der Regierung Obama scheitern werde. Ein Journalist sprach den Präsidenten auf diese Äußerung an, und Obama antwortete: »Ich kann mich nicht erinnern, was genau Joe damit meinte. Was jetzt vermutlich keine große Überraschung ist.«

Bei einem Mittagessen im Weißen Haus sprach Biden ihr problematisches Bild in der Öffentlichkeit an, weil er der Meinung war, eine Spaltung werde ihnen beiden schaden. Obama stimmte zu; er versprach, seine Worte sorgfältiger abzuwägen. »Der Vizepräsident hatte eine Bitte«, erinnert sich Rahm Emanuel, Obamas erster Stabschef. »Dass er alles kommentieren dürfe, nie gezwungen würde, seine Meinung für sich zu behalten, und dass er immer als Letzter im Raum Gelegenheit erhalten würde, sich an den Präsidenten zu wenden. Und der Präsident hielt sich daran.« Biden sagt dazu: »Der Präsident wollte, dass wir uns beide verpflichteten, offen zu sagen, wenn uns etwas Sorgen machte, wenn uns etwas, das der andere tat, störte.«

In Delaware, das halb so viele Einwohner hat wie Houston, war Biden seit vier Jahrzehnten der prominenteste Politiker. Auf den Aufklebern für seine Senatswahlkämpfe stand einfach »JOE«. Aber als er im Weißen Haus eingezogen war, musste Biden für sich eine sinnvolle und produktive Rolle finden. Bis in die jüngere Vergangenheit waren die Vizepräsidenten weit von der Macht entfernt gewesen. Daniel Webster hatte den Posten im Jahr 1848 mit folgender Begründung abgelehnt: »Ich möchte erst beerdigt werden, wenn ich wirklich tot bin und im Sarg liege.« Calvin Coolidge verwies während seiner Amtszeit voller Stolz darauf, dass er nun jede Nacht elf Stunden Schlaf bekam. Aber in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als Geschwindigkeit und Reichweite der Entscheidungen des Weißen Hauses wuchsen, wuchs auch die Macht des Vizepräsidenten. Ohne eine klare Stellenbeschreibung wählte jeder Amtsinhaber seinen eigenen Zugang: Al Gore verfolgte Nischenprojekte (Umwelt, Erneuerung der staatlichen Verwaltung), Dick Cheney eignete sich die »eisernen Themen« an, wie es einer seiner Assistenten ausdrückte (Verteidigung, Energie).

Biden schwebte anfangs eine Amtsführung nach dem Vorbild von Lyndon B. Johnson vor, der eine ähnlich lange Amtszeit im Kongress hinter sich gehabt und ebenfalls einem jüngeren Präsidenten zur Seite gestanden hatte. Doch nachdem er The Passage of Power gelesen hatte, den vierten Band von Robert Caros Johnson-Biografie, wurde Biden klar, wie frustriert Johnson gewesen war: »Man fragte ihn nie nach seiner Meinung, weder zur Landung in der Schweinebucht noch zum Vorgehen in der Kubakrise. Er mischte einfach nicht mit.« In Joe Bidens politischem Vokabular war nichts wichtiger als »mitzumischen«. Also ließ er Johnson als Rollenvorbild fallen und versuchte stattdessen, Walter Mondale nachzuahmen. Mondale hatte unter Jimmy Carter nebensächliche Aufgaben abgelehnt und sein Büro vom Eisenhower Executive Office Building in den Westflügel verlegt. »Meine Funktion war die eines allgemeinen Beraters des Präsidenten«, erklärte mir Mondale in einem Gespräch. Wie Biden hatte er mehr als drei Jahrzehnte im Kongress verbracht und versuchte, als Bindeglied zum Parlament zu dienen. »Obama war unerfahren. Er war erst vor Kurzem in die Bundespolitik eingestiegen«, sagte Mondale. »Natürlich war er sehr erfolgreich, aber er hatte keine Erfahrung in diesen Dingen. Joe war es. Er passte in eine Lücke, die gefüllt werden musste.«

Als Biden den Posten des Vizepräsidenten annahm, stellte er nur eine einzige Bedingung: Obama müsse ihm garantieren, dass er »mitmischen« dürfe – er würde an allen wichtigen Sitzungen teilnehmen, den Präsidenten stets erreichen können und als würdig betrachtet werden, einbezogen zu werden. Obama war einverstanden und fügte hinzu: »Ich will Ihren Standpunkt hören, Joe. Nur will ich ihn in zehnminütigen Ausführungen hören, nicht in sechzigminütigen.«

***

Die Dekoration von Bidens Büro im Westflügel, das siebzehn Schritte vom Oval Office entfernt war, erinnerte an ein klassisches Hotel: dunkles Holz, schwere Vorhänge, Wände und Teppichboden in Marineblau. An den Wänden hingen Porträts von John Adams und Thomas Jefferson, den beiden ersten Vizepräsidenten. (Adams beklagte sich über »das unbedeutendste Amt, das der menschliche Erfindungsreichtum je hervorgebracht hat«.) Biden hatte ein nuancierteres Bild: »Es hängt alles davon ab, was der Präsident daraus macht«, erklärte er mir während eines Interviews bei einem Mittagessen in seinem Büro. Bei seiner Ankunft im Weißen Haus hatte er das Gefühl gehabt, eigentlich besser für das Präsidentenamt geeignet zu sein als der junge, unerfahrene Obama, aber nach sechs Monaten hatte ihn Obamas Reaktion auf eine komplexe Finanzkrise, bei der es für ihn politisch wenig zu gewinnen gab, eines Besseren belehrt. »Ich glaube, Barack Obamas entschlossene Führung verhinderte eine langjährige tiefe Wirtschaftskrise«, sagte Biden und fügte hinzu: »Das Schwierigste für eine Führungskraft, ein Elternteil, einen Politiker, einen Priester ist, die eine Sache zu tun, die etwas Schlimmeres verhindert.« Man könne nie beweisen, dass man tatsächlich Schlimmeres vermieden habe.

Jeden Morgen ging Biden durch den Flur hinüber ins Oval Office, um sich gemeinsam mit dem Präsidenten die nachrichtendienstlichen Briefings und den Bericht zur wirtschaftlichen Lage anzuhören. Er war immer eingeladen, an den regelmäßigen Besprechungen des Präsidenten mit dem Außenminister und dem Verteidigungsminister teilzunehmen. Als Senator hatte Biden Cheneys Machtfülle kritisiert, aber sobald er im Weißen Haus war, hielt er an einigen der von Cheney eingeführten Neuerungen fest. Vor Cheney hatten die Vizepräsidenten normalerweise nicht an den Sitzungen des Principals Committee teilgenommen, dem die hochrangigen nationalen Sicherheitsexperten des Präsidenten angehören. Cheney nahm fast immer daran teil. Biden saß in etwa einem Drittel dieser Sitzungen.

Im Lauf der Zeit entwickelte Obama so großes Vertrauen zu Biden, dass er ihm einige der schwierigsten Aufgaben übertrug. Als das Weiße Haus das Konjunkturpaket im Umfang von 787 Milliarden Dollar durch den Kongress bringen musste, bat Rahm Emanuel den Vizepräsidenten, sechs republikanische Senatoren anzurufen. Es gelang Biden, der Regierung drei Stimmen zu sichern; die Gesetzesvorlage wurde mit einer Mehrheit von drei Stimmen verabschiedet. Biden coachte Sonia Sotomayor, Obamas Kandidatin für den Obersten Gerichtshof, vor den Bestätigungsanhörungen im Senat und setzte sich an die Spitze der Bemühungen, Arlen Specter, einen republikanischen Senator aus Pennsylvania, dazu zu bewegen, zu den Demokraten überzulaufen. Er half dabei, dem Weißen Haus im Kongress Stimmen für den Affordable Care Act zu sichern, das ehrgeizigste sozialpolitische Vorhaben seit Lyndon B. Johnsons Great-Society-Programm.

Obama übertrug Biden die Aufgabe, die Ausgaben des Konjunkturhilfefonds zu überwachen und vielfältige lokale und einzelstaatliche Interessen miteinander in Einklang zu bringen. Biden scherzte, er sei das einzige Regierungsmitglied, das nicht entlassen werden könne, und bemühte sich, in den internen Debatten im Weißen Haus offen seine Meinung zu sagen. »Jeder Präsident wird Ihnen sagen, dass im Oval Office kein Gut seltener zu finden ist als die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so weh sie auch tun mag«, sagt Bruce Reed, der von 2011 bis 2013 Bidens Stabschef war. »Die Beteiligten sind sich dessen nicht immer bewusst, aber das ist, worum sich jeder in der Umgebung eines Präsidenten bemühen sollte.«

Bezüglich der politischen Methoden gab es Differenzen zwischen Obama und seinem Vizepräsidenten. Im Jahr 2011 erhob Biden Einwände gegen den Plan der Regierung, katholische Krankenhäuser und andere Einrichtungen zu verpflichten, nach Maßgabe des Affordable Care Act Verhütungsmittel bereitzustellen, da er überzeugt war, dies werde die Demokraten unter den Arbeitern Stimmen kosten. Einige von Obamas politischen Beratern gelangten zu dem Schluss, dass Bidens politischer Radar veraltet sei. Aber jenseits ihrer politischen Meinungsverschiedenheiten teilten Biden und Obama die grundlegende Überzeugung, dass die Amerikaner sich nach Einigkeit in der Politik sehnten. Im Präsidentschaftswahlkampf hatte Obama die Aufmerksamkeit auf die Schwächung der sozialen Bindungen gelenkt. Im Jahr 2008 sagte er bei einer Veranstaltung: »Ich spreche von einem Mangel an Empathie, von unserer Unfähigkeit, uns selbst in anderen wiederzuerkennen und zu verstehen, dass wir die Hüter unserer Brüder und Schwestern sind – um es mit Dr. Kings Worten zu sagen, dass wir alle in einem ›einzigen Gewand des Schicksals verknotet sind‹.«

Bidens Vision war weniger transzendent. »Wissen Sie«, sagte er mir, »ich erwarte nie von einem ausländischen Politiker oder von einem Kollegen im Senat oder einem Abgeordneten im Repräsentantenhaus, dass er übertriebenen Mut beweist, um freiwillig in der zweiten Auflage von Profiles in Courage aufzutauchen. Man muss sich fragen, was im Interesse des Gegenübers ist.« Dennoch rückte Bidens Berücksichtigung der politischen Interessen ihn manchmal in die Nähe der Linken. Im Mai 2012, als Obama darüber nachdachte, sich für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen auszusprechen, kam ihm Biden zuvor und erklärte in einem Interview, er finde es »vollkommen in Ordnung«, verheirateten Schwulen und Lesben sämtliche Rechte zuzugestehen. Obama verzieh ihm, aber die politischen Berater des Präsidenten waren außer sich. Mitarbeiter von Biden erfuhren, dass seine öffentlichen Aktivitäten in der folgenden Woche beschnitten werden sollten. Viele Außenstehende sahen in seinem Auftritt einen typischen Biden-Fehltritt, aber Vertreter des Weißen Hauses erkannten in seinem Vorgehen ein Muster. »Er ist tatsächlich ein Wetterhahn, der die Position des Zentrums der Linken anzeigt«, sagte mir ein hochrangiger Vertreter der Regierung Obama. »Er spürt: ›Okay, die Gesellschaft bewegt sich in diese Richtung. Die Demokratische Partei bewegt sich in diese Richtung, also werde ich mich auch bewegen.‹«

Biden verwandelte sich in einen Gesandten, der in einem unnachgiebigen, von den Republikanern kontrollierten Kongress seine im Lauf der Jahrzehnte geknüpften Beziehungen zu nutzen verstand. David Plouffe, einer von Obamas politischen Beratern, beschreibt Bidens Mission als Frage: »Wo ist Raum für eine Übereinkunft?« Seine Überzeugung, der Kompromiss sei der Ideologie vorzuziehen, brachte ihn dem Präsidenten näher. »Sie denken diesbezüglich wirklich gleich«, sagt Plouffe. Biden gab seinen Spind im Fitnesscenter des Senats nicht auf, denn dort führte er gerne das eine oder andere Pläuschchen. »Er sammelt einfach Aufklärungsdaten«, erinnert sich ein ehemaliger Assistent. »Er ruft den einen Parteiführer an, dann ruft er den anderen Parteiführer an, dann ruft er fünf Abgeordnete an, die einfach Freunde sind und offen mit ihm darüber sprechen, was vorgeht.«

Doch gelegentlich stieß Bidens Überzeugung, er könne die republikanische Führung zu einem Kompromiss lenken, bei den Demokraten auf Unverständnis. Am Jahresende 2012 näherte sich die Laufzeit der von der Bush-Regierung durchgesetzten Steuersenkungen ihrem Ende, womit zusätzliche Steuereinnahmen von 3,7 Billionen Dollar in den folgenden zehn Jahren winkten. Um eine Verlängerung der Steuersenkungen zu erzwingen, drohten die Republikaner, die Obergrenze für die Neuverschuldung nicht zu erhöhen, was zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten zu einem Zahlungsausfall der Regierung führen würde. Biden handelte mit Mitch McConnell in letzter Sekunde einen Kompromiss aus: Sie einigten sich darauf, 600 Milliarden Dollar von diesen Einnahmen wieder hereinzuholen, jedoch einige Steuersenkungen auf Dauer festzuschreiben. Harry Reid, der demokratische Mehrheitsführer im Senat, war angeblich so empört über die Einigung, dass er die entsprechenden Dokumente in ein Kaminfeuer warf. (Reid bestritt das.)

An einem sonnigen Morgen an einem Wochenende im Mai 2014, fünf Jahre nach seinem Amtsantritt als Vizepräsident, stand Joe Biden auf dem Campus der University of Delaware vor den Umkleidekabinen des Tubby Raymond Field und bereitete sich darauf vor, die Rede vor dem Abschlussjahrgang jenes Jahres zu halten. Alle Ehrengäste trugen Talar und Samtkappe, nur Biden hatte lieber auf die Kopfbedeckung verzichtet. (Biden-Regel Nr. 1: Keine lustigen Hüte. Biden-Regel Nr. 2: Ändere deine Marke nicht.) Ein Mitarbeiter des Organisationsstabs führte ihn zu einem mit Klebeband auf dem Boden markierten Punkt (das Klebeband war mit dem Akronym »vpotus« für Vizepräsident der USA versehen), und sie marschierten unter dem Jubel von viertausend Absolventen in königsblauen Talaren auf das Spielfeld des Football-Stadions. Der Universitätsdirektor ließ sich in der Einleitung mitreißen und kündigte Biden als den »siebenundvierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten« an. Eine Hälfte des Publikums brach in Gelächter aus, die andere hielt den Atem an, aber niemand, nicht einmal Biden, korrigierte ihn. Im Anschluss an die Rede, als sich Biden gerade anschickte, das Spielfeld wieder zu verlassen, brüllte ein junger Mann: »Stay gangster, Joe! Du bist gut, Mann!« Biden sah auf, zugleich angenehm überrascht und verwirrt von einem Bild, das er nicht kannte oder nicht richtig verstand. Er winkte und ging weiter.

Im Lauf der Jahre hat sich Biden einen besonderen Platz in der Popkultur der amerikanischen Politik gesichert. In einem Weißen Haus, das der Disziplin Vorrang gab, richtete sich Biden zwischen Überschwang und Selbstsabotage ein. Anstatt sich über die Demütigungen der Vizepräsidentschaft zu beklagen, schwelgte er in dem Job. Während Obamas Rede zur Lage der Nation saß Biden entspannt auf seinem Platz über den Köpfen seiner ehemaligen Kollegen im Kongress, machte mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole und zielte auf einzelne Senatoren, zwinkerte und schoss, scheinbar ohne Ironie. Im Jahr 2013 filmte ihn der Sender C-SPAN bei den Vorbereitungen für die Vereidigung neuer Senatoren. Er begrüßte die Familie jedes einzelnen Senators mit verspielter Ausgelassenheit. Zu den älteren Damen sagte er: »Gute Güte, Mom, Sie haben schöne Augen.« Zu den jungen Frauen sagte er: »Denken Sie immer daran: Bis zum dreißigsten Lebensjahr keine ernsthaften Männer!« Zu den kleinen Kindern in ihren Sonntagsanzügen: »Pass gut auf deinen Großvater auf. Das ist dein wichtigster Job.« Das ganze Paket – die Ray-Ban-Pilotenbrillen, der schamlose Schmalz, gewisse Züge der Serienfigur Fonzie – machte ihn nie zu einem Liebling des Establishments, aber es verlieh ihm einen Hauch von Authentizität, der in seinem Metier selten war. Und es sicherte ihm so etwas wie einen Kultstatus, so dass sein Image eher dem von Betty White als dem von John Boehner ähnelte, dem altgedienten Abgeordneten aus Ohio, der zu jener Zeit Sprecher des Repräsentantenhauses war. Als ihn eine Schülerin im Mai 2014 zu ihrer Abschlussfeier einlud, schickte er der jungen Frau ein Ansteckbukett samt handgeschriebener Botschaft, in der er sie ermutigte, ihre Abschlussfeier »so sehr zu genießen, wie ich meine genoss«. Auf Twitter wurde er mit begeisterten Reaktionen überhäuft.

Biden hatte einen unstillbaren Appetit auf »the connect«, auf den persönlichen Kontakt: auf das Bad in der Menge, die um den Hinterkopf gelegte Hand, den Blickkontakt mit einem Skeptiker im Publikum. »Irgendwie zieht er sie an sich und umarmt sie, verbal und manchmal physisch«, erzählte mir John Kerry, der zu jener Zeit Außenminister war. »Er ist ein Politiker, der ständig Tuchfühlung sucht, und es ist alles echt. Nichts davon ist aufgesetzt.« Bei einem Empfang im Anschluss an eine Fernsehdebatte im Jahr 2008 wollte der Politikberater John Marttila Biden helfen, sich frühzeitig zurückzuziehen. »Ich erhob mich wiederholt und sagte: ›Ich denke, es ist Zeit aufzubrechen.‹ Aber er blieb sitzen. Ich glaube, wir kamen um zwei Uhr morgens ins Bett, und der Weckruf kam um fünf oder halb sechs.« Ein solches Verhalten hat Marttila selten bei Politikern beobachtet: »Die Begegnung mit Menschen gibt ihm Energie.« Biden kommt seinen Gesprächspartnern so nah, dass seine Stirn gelegentlich während der Unterhaltung mit der seines Gegenübers zusammenstößt; es ist eine so beiläufige Geste, dass sie erst bemerkenswert wird, wenn man versucht, sie sich bei Barack Obama vorzustellen.

Aber Biden hat sich stets über das »Onkel-Joe-Syndrom« geärgert, wie er es nennt – über das Image eines dümmlichen, undisziplinierten netten Kerls. Beim Dinner der Correspondents' Association, der jährlichen Gala für das Pressekorps des Weißen Hauses, wurde bei einer Gelegenheit ein parodistisches Video gezeigt, das auf Veep beruhte, der HBO-Comedyserie, in der Julia Louis-Dreyfus eine verzweifelt ehrgeizige Vizepräsidentin spielt. Als die Serie im Jahr 2012 gestartet war, hatte es Biden vermieden, sich dazu zu äußern (»Hätte ich für seine Regierung gearbeitet, so hätte ich ihm dasselbe geraten«, sagte mir Louis-Dreyfus.) Aber mittlerweile hatte er sich mit Veep angefreundet, und beim Pressedinner tauchte Biden mit Louis-Dreyfus in dem kurzen Einspieler auf, in dem die beiden Vizes Amok laufen: Sie lassen sich gemeinsam mit Nancy Pelosi Tätowierungen stechen und brechen in die Redaktion der Washington Post ein, um die Schlagzeilen umzuschreiben – eine lautet: »Biden auf der Überholspur: Zustimmungsrate von 200 Prozent!« In den Berichten über die Gala wurde das Video als Erfolg bezeichnet, obwohl David Weigel, damals politischer Redakteur von Slate, darauf hinwies, dass die Witze auf Bidens Kosten den subtilen Hinweis enthielten, dass sich »das Weiße Haus langsam mit der Tatsache abfindet, dass Biden nicht der Kandidat seiner Partei für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 sein wird«. Zwei Tage nach dem Pressediner fragte ich Biden nach seiner Meinung zu der Parodie. Er fand sie »eigentlich ganz lustig«, fügte jedoch hinzu, dass er das Drehbuch angepasst habe, damit es nicht übertrieben klamaukhaft wirkte. In einer Szene, in der er und Louis-Dreyfus beim Eisnaschen in der Küche des Weißen Hauses erwischt werden, hätte er sich ängstlich vor Michelle Obama wegducken sollen. »Die First Lady kommt herein, und ich fürchte mich vor ihr? Das passt nicht zu mir«, sagte er.

Außerhalb des Weißen Hauses erntete Biden ganz andere öffentliche Einschätzungen. In einer Kolumne vor der Wahl 2012 forderte Bill Keller, der ehemalige Chefredakteur der New York Times, Obama auf, Biden als Kandidaten für das Vizepräsidentenamt fallen zu lassen und durch die damalige Außenministerin Hillary Clinton zu ersetzen. (Tatsächlich hatte sich Obamas Wahlkampfstab mit dieser Möglichkeit beschäftigt, die Idee jedoch wieder aufgegeben, als die Umfragen zeigten, dass dieser Personaltausch keinen Einfluss auf das Wahlergebnis haben würde.) Im März desselben Jahres wurden bei der Stürmung des Verstecks von Osama bin Laden Dokumente gefunden, die eine unerwartete Beleidigung enthielten: Der Chef von al-Qaida hatte ein Mordkommando angewiesen, Obama zu töten, Biden hingegen zu verschonen: »Biden ist vollkommen ungeeignet für das Amt, so dass die Vereinigten Staaten in eine Krise geraten werden.« Im Sommer führten das Pew Research Center und die Washington Post gemeinsam eine Umfrage durch, in der die Befragten gebeten wurden, Biden mit einem einzigen Wort zu beschreiben; die häufigsten Antworten waren in fast ausgeglichener Verteilung »gut« und »blöd«. Die Republikaner genossen es, Biden als typischen Karrierepolitiker darzustellen, als achtlos, unkontrolliert und komischen Kauz. »Vizepräsident Joe Biden ist in der Stadt«, sagte Senator Ted Cruz bei einem Dinner mit Konservativen aus South Carolina. »Das Tolle ist, dass man nicht einmal eine Pointe braucht. Man sagt einfach, dass er da ist, und die Leute beginnen zu lachen.«

Doch im letzten Monat des Wahlkampfs 2012 rief Biden aller Welt in Erinnerung, warum er auf dem Wahlzettel stand. Nachdem Obama in einer Debatte mit Mitt Romney einen miserablen und blassen Auftritt hingelegt hatte, schickte sich sein Vizepräsident an, sich mit seinem Gegenkandidaten Paul Ryan zu messen, einem zu diesem Zeitpunkt zweiundvierzig Jahre alten Kongressabgeordneten aus Wisconsin, der die Augen eines Fohlens hatte. Biden saß mit einem wölfischen Grinsen auf der Bühne. Er lachte, spottete und unterbrach sein Gegenüber. (Als Ryan sagte: »Jack Kennedy senkte die Steuern und sorgte für Wachstum«, unterbrach ihn Biden: »Oh, jetzt sind Sie Jack Kennedy!«) Der Zirkus trieb einige Zuschauer zur Weißglut, aber Obamas Wahlkampfteam war entzückt: Biden hatte die Blutung gestoppt, und als sich Obama auf seine nächste Debatte vorbereitete, legten ihm seine Berater nahe, sich etwas von Bidens kampfeslustiger Energie abzuschauen. Am Jahresende 2012 ließ ihm das Weiße Haus die rituelle Höflichkeit zuteilwerden, den großen Einfluss der Nummer zwei zu preisen. The Atlantic fragte in einer Schlagzeile: »Der einflussreichste Vizepräsident der Geschichte?«

Wie vieles in Bidens Leben beruhte seine Beziehung zu Obama vor allem auf Loyalität. Wenn man einmal Vize des Präsidenten sei, sagte Biden, sei man »verpflichtet, zu unterstützen, was immer er tut, es sei denn, sein Verhalten stürzt dich in ein tiefes moralisches Dilemma«. Er fügte hinzu: »Würde ich je an diesen Punkt gelangen, so würde ich erklären, ich hätte Prostatakrebs und müsse mein Amt niederlegen.« Bei einem Essen der demokratischen Fraktion nach dem Verlust der Mehrheit im Repräsentantenhaus kritisierte der Abgeordnete Anthony Weiner Obama dafür, dass dieser sich mit den Republikanern auf Steuersenkungen geeinigt hatte. Biden konnte nicht an sich halten: »Es kommt verdammt nochmal nicht infrage, dass ich hier stehe und so über den Präsidenten spreche!« Kurz darauf bekam auch der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu, der sich kritisch über verschiedene Aspekte von Obamas Nahostpolitik geäußert hatte, seine Wut zu spüren. Biden »ließ die Muskeln spielen«, wie Plouffe es ausdrückt. Der Zwischenfall kam Obama zu Ohren. Ben Rhodes, der als nationaler Sicherheitsberater für strategische Kommunikation zuständig war, sagte mir zu jener Zeit: »Er kann sich darauf verlassen, dass ihm der Vizepräsident den Rücken freihält.« Je mehr Obama in Washington unter Beschuss geriet, desto mehr lernte er Bidens Fähigkeiten im Abwehrkampf zu schätzen. »Ich denke, in diesen Schlachten entwickelte sich zwischen ihnen ein Maß an Vertrauen, das mittlerweile ein fester Bestandteil ihrer Beziehung ist«, sagte Rhodes.

Sie waren beide stolze Männer, die nicht erwartet hatten, vom anderen etwas lernen zu können, aber im Lauf der Zeit wurde für ihre Umgebung sichtbar, wie gut ihre Beziehung funktionierte. Leon Panetta, der unter Obama die CIA leitete und später Verteidigungsminister wurde, erklärte mir, dass sich Obama einer Lücke in seiner Erfahrung und seinen Fähigkeiten bewusst war: »Im Grunde ist er ein Juraprofessor, und ich würde sagen, dass er bis zu einem gewissen Grad die Einstellung ›Muss ich das wirklich machen?‹ hat. Und Joe ist der Schatten, der dem Präsidenten der Vereinigten Staaten sagen kann: ›Ja, du musst.‹« Obama begann, im Gespräch mit seinen Mitarbeitern und in Reden zu betonen, die Ernennung Joe Bidens zum Vizepräsidenten sei die beste politische Entscheidung seines Lebens gewesen. »Ich glaube, Biden kann sich viel von Obamas Disziplin abschauen, und das ist manchmal lehrreich, obwohl es ihm auf die Nerven geht«, sagte einer seiner früheren Mitarbeiter. »Und ich denke, dass Obama von Joes menschlicher Wärme lernt. Wenn sie zusammen in einer Besprechung mit Politikern aus dem Ausland sitzen, neigen die Gäste eher Biden als Obama zu.« Der Mitarbeiter fügte hinzu: »Beide haben das Gefühl, der Mentor des anderen zu sein.« Als Biden das Amt übernommen hatte, hatte er David Axelrod gestanden, er sei immer noch überzeugt, dass er der beste Präsident wäre. Aber nachdem er Obama ein Jahr lang bei der Arbeit zugeschaut hatte, korrigierte er gegenüber Axelrod seine Einschätzung: »Der richtige Mann hat gewonnen, und ich bin einfach stolz darauf, mit ihm arbeiten zu können.«

Die vom Präsidenten und seinem Vize bestandenen Prüfungen hatten sie einander näher gebracht, als viele Leute und nicht zuletzt sie selbst erwartet hatten. Bidens Berater John Marttila erzählte mir: »Bei einem gemeinsamen Essen sagte Barack zu Joe: ›Sie und ich werden gute Freunde! Das überrascht mich sehr.‹ Und Joe antwortete: ›Sie sind verflucht überrascht!‹«

Sie hatten die anfänglichen Vorbehalte in Bezug auf Bidens unkontrollierbares Mundwerk und Obamas Neigung zur Herablassung überwunden. Aber die Spannungen zwischen ihnen waren nicht vollkommen verschwunden und sollten erneut aufbrechen, was sich nicht nur auf die Wahl im Jahr 2016, sondern auch auf jene im Jahr 2020 auswirken würde.