5. Gesandter

Von allen Aufgaben, die Joe Biden im Weißen Haus zufielen, nahm keine mehr Energie in Anspruch als die Außenpolitik. Als Obama sein Amt antrat, besaß er auf diesem Gebiet kaum Erfahrung, während Biden den Außenpolitischen Ausschuss des Senats (Senate Committee on Foreign Relations) geleitet hatte. Nach Bidens diplomatischer Formulierung schickte der Präsident ihn »an Orte, wo er selber nicht hinwollte«.

Am Ostersonntag 2014 bestieg Biden die Air Force Two, um nach Kiew zu fliegen, in die Hauptstadt der Ukraine, die seit Monaten in einer chaotischen Krise versank. Begonnen hatte es im November des Vorjahres, als der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch sich auf die Seite Moskaus gestellt, die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union ausgesetzt und damit im ganzen Land Proteste ausgelöst hatte. Biden kannte Janukowitsch wie viele ausländische Regierungschefs seit Jahren und hatte zu ihm ein kumpelhaftes Verhältnis. »Er war umgänglich«, erinnerte sich Biden. »Ich sagte: ›Du siehst aus wie ein Schläger! Du bist so verdammt groß.‹« Als die Proteste eskalierten, versuchte Biden, Janukowitsch zu einer Einigung mit den Demonstranten zu bewegen. Neun Mal telefonierten sie miteinander. Aber Bidens Bemühungen führten zu nichts. Am 20. Februar eröffneten Scharfschützen das Feuer auf die Demonstranten und töteten innerhalb von achtundvierzig Stunden mindestens achtundachtzig von ihnen. Der Präsident flüchtete und ließ sein Volk zurück, das seine Privatresidenz stürmte und dort die Beute seiner Kleptokratie vorfand: zahme Pfauen, eine Oldtimerflotte, ein Privatrestaurant in Form eines Piratenschiffes. Im weiteren Verlauf der Krise tauchten immer mehr russische Truppen auf der Krim auf, und nach einem völkerrechtlich zweifelhaften Referendum erklärte Wladimir Putin »den Beitritt der Halbinsel zu Russland«.

Seit Janukowitschs Flucht waren zwei Monate vergangen, und Biden hatte auf seiner Reise eine knappe, klar umrissene Mission: Der Besuch des zweithöchsten Regierungsvertreters der USA sollte die schwache Regierung beruhigen und Putin davon abhalten, tiefer auf ukrainisches Gebiet vorzudringen. Verglichen mit dem Oberbefehlshaber reist der Vizepräsident in einem Flugzeug von erstaunlich bescheidener Pracht. Die umgebaute Boeing 757 war in die Jahre gekommen. An einem Sitz brach die Armlehne ab. Der Vizepräsident hatte eine separate Kabine mit einem Klappbett, einem Schreibtisch und einem Gästesessel, aber wenn ein zweiter Besucher hinzukam, musste eine Kunststoffkühlbox als Hocker dienen. »Wenn man Wert auf Statussymbole legt, sollte man lieber in einer anderen Branche arbeiten«, sagte Biden.

Air Force Two landete in Kiew, einer Stadt mit eleganten Boulevards, Kastanienalleen und so vielen von Kuppeln bekrönten Kirchen, dass die Bolschewiki sie ursprünglich als unpassend befunden hatten, Hauptstadt einer Sowjetrepublik zu werden. Die Kämpfe in der Stadt waren beendet, aber das Lager auf dem Maidan, dem Hauptplatz der Stadt, der das Zentrum der Proteste gebildet hatte, ähnelte noch immer einer Kulisse für Les Misérables: hohe, zerklüftete Barrikaden aus Metall, Holz und Autoreifen markierten die Kampflinien. Aus offenen Feuern sprühten Funken. Eines der wenigen Zeichen für eine Entspannung waren die Pflastersteine, die Demonstranten aus dem Boden geholt hatten, um die Polizei damit zu bewerfen, und die nun aufgestapelt bereitlagen, um neu verlegt zu werden.

Im Parlament, einem Stalinzeit-Gebäude mit Kolonnadenfront, traf Biden eine Gruppe von Politikern, die darum wetteiferten, die neue Regierung zu führen. Nach so vielen Jahren verfügte er über ein ganzes Arsenal von Begrüßungsfloskeln, die er in Bagdad, Beijing oder Wilmington anbringen konnte. Einer seiner Lieblingssätze war: »Wenn ich Ihre Haare hätte, wäre ich Präsident.« Oft passte er seine Routine den Umständen an. In Kiew ging er auf Vitali Klitschko zu, den über zwei Meter großen ehemaligen Boxweltmeister, der vor seinem Wechsel in die Politik »Dr. Eisenfaust« genannt wurde. Biden schaute zu ihm auf und umfasste mit einer theatralischen Geste Klitschkos rechten Bizeps. Als er sich weiter um den Tisch vorarbeitete, traf er auf Petro Poroschenko, einen Milliardär und Präsidentschaftskandidaten, der sein Vermögen unter anderem mit Schokolade gemacht hatte. Biden, der damals bereits daran dachte, sich 2016 um die Präsidentschaft zu bewerben, sagte zu der Gruppe: »Ich war zweimal Präsidentschaftskandidat und hoffe, dass Sie besser abschneiden als ich.« (Einen Monat später gewann Poroschenko die Präsidentschaftswahl.)

Biden nahm am Kopfende des Tisches Platz. Der Vizepräsident hatte für seine Gastgeber in Kiew lediglich ein kleines Hilfspaket anzukündigen: 58 Millionen US-Dollar für die Durchführung der Wahlen, Fachwissen im Energiesektor und nicht tödliche Sicherheitsausrüstung, einschließlich Funkgeräte für die Grenzpatrouillen. Vor allem aber hatte Biden eine deutliche Botschaft für die neue politische Führung in Kiew: Wollte sie für ihre Regierung Legitimität gewinnen, sei mehr notwendig als Widerstand gegen die russische Einmischung. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International rangierte die Ukraine gleichauf mit der Zentralafrikanischen Republik auf Platz 144 von 177 Staaten. Biden erklärte den Anwesenden: »Um es rundheraus zu sagen – und es ist heikel, das zu einer Gruppe führender Politiker in ihrem eigenen Parlamentsgebäude zu sagen: Sie müssen das Krebsgeschwür der Korruption bekämpfen, das gegenwärtig in Ihrem System herrscht.« In einem solchen Rahmen bevorzugt er unverblümte Offenheit. Bei einem seiner ersten Besuche in der Sowjetunion hörte er sich 1979 die Argumente seines sowjetischen Kollegen an und erwiderte: »Da, wo ich herkomme, haben wir ein Sprichwort: Du kannst einen Bescheißer nicht bescheißen.« Bill Bradley, ein US-Senator, der ebenfalls der Delegation angehörte, fragte anschließend den amerikanischen Dolmetscher, wie er Bidens Äußerung ins Russische übersetzt habe. »Nicht wörtlich«, antwortete dieser.

Mit seiner Herangehensweise an auswärtige Angelegenheiten irritierte Biden zuweilen die Berufsdiplomaten. »Sie geben mir einen Satz vor, und ich erkläre: ›Das sage ich nicht! Das ist einfach nicht glaubwürdig!‹«, erzählte er mir. »Man muss von der Annahme ausgehen, dass der andere kein Idiot ist. Und die meisten Leute sind nicht dumm, was ihr nacktes Eigeninteresse angeht.« Biden brüstete sich damit, dass er Menschen lesen könne. »Es ist wirklich sehr wichtig, dass du dem anderen, wenn es geht, vermittelst, dass du sein Problem verstehst«, erklärte er mir. »Und manches von diesem diplomatischen Mist vermittelt: ›Wir haben keine Ahnung von deinem Problem.‹«

Leon Panetta erinnerte sich an Telefongespräche, die Biden aus dem Weißen Haus führte und die er mit anhörte: »Du wusstest nicht, ob er mit einem Staatschef oder mit dem Vorsitzenden der Demokratischen Partei in Delaware sprach.« Auf Auslandsreisen suchte Biden nach Möglichkeiten, ein bodenständiges Erscheinungsbild der amerikanischen Macht zu präsentieren. Im Jahr 2011, als ich in China lebte, bereitete Biden einen offiziellen Besuch in Beijing vor. Damals hatte die Kommunistische Partei gerade mit einer Reihe peinlicher Vorkommnisse zu kämpfen, die die Privilegien ihrer Funktionäre offenbarten. In einem prominenten Fall hatte der Bus eines Bürgermeisters in der Provinz Hebei eine rote Ampel missachtet und einen vierzehnjährigen Schüler überfahren, der bleibende Schäden davontrug. Der Bürgermeister besuchte das Unfallopfer kein einziges Mal im Krankenhaus, was Kritiker als Indiz seiner arroganten Abgehobenheit deuteten. Noch vor Bidens Ankunft in China führten junge liberale chinesische Kommentatoren ihn in den sozialen Medien als Gegenbeispiel an. Sie lobten seine Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, und verwiesen auf einen Videoclip vom White House Correspondent's Dinner, in dem der chinesisch-amerikanische Comedian Joe Wong dem Publikum erklärte, er habe Bidens Memoiren gelesen und ihn dann persönlich getroffen: »Ich finde, das Buch ist viel besser«, schloss Wong todernst, und die Kamera schwenkte auf Biden, der im Smoking in der Nähe saß und schallend lachte.

In Beijing unterstrich Biden diese Haltung unmissverständlich. In der Mittagspause zwischen den offiziellen Treffen wagte er sich aus dem sterilen Rahmen heraus, in den offizielle Gäste in der Regel eingezwängt werden, und ging in ein Arbeiterlokal namens »Yaoji Chaogan«. Chao Gan, die Spezialität des Restaurants, ist eine Suppe, »dunkel und dick, voller grober Leberstücke und Ringe weicher, aber widerspenstiger Innereien«, wie ein örtlicher Kritiker sie beschrieb. Biden und seine Begleiter quetschten sich zwischen die Stammkunden, und der Besitzer kam, um ihm die Hand zu schütteln. Biden entschuldigte sich bei den verblüfften Essern: »Sie sind auf ein ruhiges Mittagessen hergekommen, und jetzt tauche ich hier auf.« Liberale chinesische Kommentatoren liebten diese Szene, und noch jahrelang führte das Restaurant ein »Biden special« auf der Karte.

Andere Länder gewöhnten sich daran, eine gewisse ungefilterte Unverblümtheit von ihm zu erwarten. Als er 2013 einen Besuch in Tokio plante, bereitete die japanische Tageszeitung Asahi Shimbun ihre Leser vor: »Er mag sich köstlich amüsieren, aber viele in seiner Umgebung fürchten, er könnte sich dazu hinreißen lassen, etwas Ungeheuerliches zu sagen«, erklärte ein Journalist. »Es ist bekannt, dass Biden schon mal ein Lapsus unterläuft, aber offenbar macht gerade das ihn nahbar und interessant.«

Insgesamt kam Biden in den Mittelmeerländern und in Lateinamerika besser an als etwa in Deutschland und Großbritannien. Ein ehemaliger britischer Regierungsvertreter, der an Treffen mit Biden im Weißen Haus teilnahm, erklärte: »Er hat etwas von einem Wasserhahn, den man auf-, aber nicht wieder zudrehen kann. Bei all seinem authentischen Charme ist es doch frustrierend, dass man das Gefühl hat, er lässt nicht genug Sauerstoff im Raum, dass man die eigenen Argumente rüberbringen könnte, besonders nicht, wenn man höflich ist und niemanden unterbrechen möchte.« Daher lernte er, im Terminplan genügend Spielraum für »die Biden-Stunde« zu lassen, wie Kollegen es nannten. Auch in Israel kam man mit Bidens Art besser zurecht. Bei einem Besuch 2011 zitierte Biden einen Spruch seines Vaters – »Es hat keinen Sinn, an einem kleinen Kreuz zu sterben« –, um Ministerpräsident Netanjahu zu größeren Fortschritten im Nahost-Friedensprozess zu drängen. Ron Derner, der damalige israelische Botschafter in den USA, erzählte: »Wir sind in Jerusalem, wir haben einen katholischen Vizepräsidenten, wir haben einen jüdischen Ministerpräsidenten, und er sagt zu ihm: ›Es hat keinen Sinn, an einem kleinen Kreuz zu sterben.‹ Der Ministerpräsident fing an zu lachen, und ich muss sagen, von allen Äußerungen, die ich je gehört habe, ist das die prägnanteste Einzeleinschätzung der politischen Realität Israels.«

Seit Biden der Regierung angehörte, hatte er sich durchweg laut und skeptisch zu amerikanischen Militäreinsätzen geäußert. Gelegentlich geriet er dadurch in Opposition zu anderen Regierungsmitgliedern, darunter auch zu Hillary Clinton und Panetta, Obamas erstem CIA-Direktor. Biden hatte sich gegen die Intervention in Libyen ausgesprochen und die Ansicht vertreten, der Sturz Muammar al-Gaddafis werde zu Chaos führen; er hatte den Präsidenten vor dem Kommandoeinsatz gewarnt, bei dem Osama bin Laden getötet wurde. Später erklärte er, wenn das Unternehmen gescheitert wäre, wäre es für Obama bei »einer Amtszeit geblieben«. Obwohl Obama Bidens Ratschläge selten beherzigte, verfolgten die beiden Männer doch eine zurückhaltende Außenpolitik, die »Fehler vermeidet«, wie Obama es ausdrückte. Auf die Bitte, eine »Obama-Doktrin« zu formulieren, antwortete der Präsident: »Du schaffst Singles, du schaffst Doubles, und hin und wieder schaffen wir vielleicht einen Home-Run.«

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Dick Cheney prägte Biden die US-Außenpolitik, indem er den Präsidenten in der ihm eigenen Zurückhaltung bestärkte, statt sie zu umgehen. Im Sommer 2014 sprach ich mit Obama über Bidens Rolle im Kabinett. Ich fragte, ob Biden sein Denken beeinflusst habe. »In der Außenpolitik war Joes Einfluss, glaube ich, in der Afghanistan-Debatte am stärksten«, antwortete er. Obama hatte 2009 eine strategische Überprüfung der amerikanischen Politik angeordnet, und sein Kriegskabinett traf sich mehrfach, um zu diskutieren, wie man in Zukunft vorgehen sollte. Führende Militärs, darunter auch der Kommandeur in Afghanistan, General Stanley McChrystal, waren für eine massive Aufstandsbekämpfungsstrategie mit zusätzlichen viertausend Soldaten und umfangreichen Zivilkräften. Obama glaubte, dass manche am Tisch auf ein bestimmtes Ergebnis festgelegt waren. Er erzählte mir: »Da war Bob Gates, der sich als herausragender Verteidigungsminister erwies, dem aber in Bezug auf die Afghanistanpolitik offensichtlich an einer gewissen Kontinuität zur vorigen Regierung lag.«

Er erzählte weiter: »Während dieser Debatte hatten Joe und ich immer wieder lange Vieraugengespräche und versuchten auszuloten, welche Interessen wir in Afghanistan eigentlich verfolgten und was wir dort genau erreichen könnten. Ich glaube, in den öffentlichen Darstellungen lief es darauf hinaus, dass Joe als Taube und die anderen stärker als Hardliner galten. Und das ist, meiner Ansicht nach, zu stark vereinfachend. Wirklich, Joe half mir dabei, mich immer wieder zu fragen: Warum sind wir eigentlich dort? Und welche Ressourcen können wir im Einzelnen einsetzen, um bestimmte Ziele zu erreichen – statt uns in allgemeine ideologische Debatten zu verstricken, die letzten Endes allzu oft dazu führen, dass wir uns übernehmen oder es unserem Einsatz an Präzision mangelt?« Laut Obama besprachen er und Biden Fragen, die sie den Militärs und den Geheimdienstleuten stellen wollten. »Es kam vor, dass Joe im Grunde an meiner statt Fragen stellte, um mir Spielraum in meinen Entscheidungen zu verschaffen und eine lebhafte Debatte anzustoßen. Und das war von unschätzbarem Wert, sowohl um unsere Strategie für eine anfängliche Truppenaufstockung zu entwickeln, die den Taliban den Schwung nehmen sollte, als auch um einen Zeitrahmen abzustecken, wie lange wir dort bleiben würden. Wissen Sie, ich glaube, es gibt wohl bis heute Kontroversen darüber, dass wir einen Zeitplan für die Reduzierung unseres Kampfeinsatzes in Afghanistan aufgestellt haben. Ich finde, das war absolut richtig.« (Letztlich entschied Obama sich für eine Fortsetzung des US-Engagements in Afghanistan, eine zivile und militärische Strategie und die Entsendung dreißigtausend zusätzlicher Einsatzkräfte.)

Einige Führungskräfte im Pentagon warfen Biden vor, er schüre Misstrauen zwischen dem Weißen Haus und dem Militär. Gates, der bereits unter George W. Bush als Verteidigungsminister amtiert hatte, äußerte in seinen Memoiren Duty scharfe Kritik an Biden. Es sei zwar »unmöglich, ihn nicht zu mögen«, aber er habe »in den vergangenen vierzig Jahren in nahezu sämtlichen wichtigen Fragen der Außenpolitik und der nationalen Sicherheit falschgelegen«. Als der Sender National Public Radio ihn zu diesem Buch interviewte, erklärte Gates, Biden habe im Senat [in der Endphase des Krieges] gegen Unterstützung für Südvietnam gestimmt und den Sturz des Schahs im Iran begrüßt. »Er war gegen praktisch jedes Element von Präsident Reagans Rüstungsprogramm. Er stimmte gegen die [Militärflugzeuge] B-1, die B-2, die [Interkontinentalrakete] MX und so weiter. Er stimmte gegen den ersten Irakkrieg. In einer Reihe dieser wichtigen Fragen hatte ich daher, offen gestanden, lange Zeit das Gefühl, dass er sie falsch eingeschätzt hatte.«

Der Konflikt zwischen Gates und Biden reichte schon lange zurück. Als Gates 1991 für das Amt des CIA-Direktors nominiert wurde, stimmte Biden gegen ihn, weil er als führender Kremlexperte des Auslandsgeheimdiensts den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht vorhergesehen hatte. Als Gates Jahrzehnte später als Verteidigungsminister bestätigt wurde, enthielt Biden sich der Stimme. Gates' Hinweis auf Bidens Fehleinschätzungen »über vierzig Jahre« hinweg entsprach einem Argument, das die Republikaner im Präsidentschaftswahlkampf 2008 vorgebracht hatten, um Kritik an Sarah Palins mangelnder außenpolitischer Erfahrung abzuwehren. (Es gibt keinen Beleg, dass Biden sich beifällig zum Sturz des Schahs geäußert hätte.)

In einem unserer Gespräche kam Biden auf Gates' Buch zu sprechen. »Gates regt sich auf, weil ich das Militär hinterfragt habe. Na ja, ich bin heute ebenso wie früher überzeugt, dass Washington und Jefferson recht hatten: Der Krieg ist zu wichtig, um ihn den Generälen zu überlassen. Es ist nicht ihre Sache, ihn zu beurteilen! Ihre Aufgabe ist es, ihn umzusetzen. Daher denke ich, Sie haben einen Präsidenten erlebt, der loyal zum Militär steht und es unterstützt, dem aber klar ist, dass er der Oberbefehlshaber ist.« Als ich etwas sagen wollte, unterbrach er mich: »Ich kann es gar nicht abwarten, mit Bob Gates zu debattieren – entweder in einem Präsidentschaftswahlkampf oder wenn ich hier raus bin. Oh, Jesus.«

Ich fragte ihn, was er von Gates' konkreten Kritikpunkten halte. Er fand, Gates sei »ein wirklich anständiger Kerl«, und zog dann vom Leder: »Bob Gates ist im Grunde ein Republikaner mit außenpolitischen Ansichten, die sich in vielen grundlegenden Hinsichten von meinen unterscheiden. Bob Gates lag in allem falsch! Bob Gates lag falsch mit dem Rat, den er Präsident Reagan zum Umgang mit Gorbatschow gab! Dass dieser es nicht ernst meine. Gott sei Dank hat der Präsident nicht auf ihn gehört. Bob Gates lag beim Balkan falsch. Bob Gates lag bei der [Nato-]Bombardierung falsch. Bob Gates lag beim Vietnamkrieg falsch, mein Gott. Wenn Sie zurückgehen, alles in den letzten vierzig Jahren – da fällt mir nichts ein, keine wichtigen grundlegenden Entscheidungen zur Außenpolitik, bei denen ich finden kann, dass er richtiglag!«

Der feindselige Ton in den Zwistigkeiten zwischen Biden und Gates wunderte manche Beobachter, die beide kannten. Als ich Richard Haass, den Präsidenten des Thinktanks Council on Foreign Relations, nach Gates' Einschätzung zu Biden fragte, antwortete er: »Bob Gates ist ein guter Freund. Wir haben mehrfach in der Regierung zusammengearbeitet, aber das ist einer der Bereiche, in denen ich nicht mit ihm übereinstimme. Niemand landet tausend Treffer, aber ich kenne auch niemanden, der keinen einzigen Treffer landet. Joe hatte seine Treffer und er hatte seine Fehlschläge, genau wie wir alle.« Laut Panetta, der zusammen mit Gates und Biden der Regierung angehörte, gerieten die beiden häufig in den Debatten aneinander, die Obama anzettelte, um Unstimmigkeiten ans Licht zu bringen. Panetta meinte, Gates sei mit der Zeit ziemlich verstimmt gewesen, weil Biden seine Thesen ständig hinterfragte: »Das nagte einfach an ihm.«

Auf dem Rückflug in der Air Force Two lockerte Biden seine Krawatte und bat um eine Tasse Kaffee. Vor der Abreise aus Kiew hatte er aus dem Stehgreif Russland einen Seitenhieb wegen der Zusage versetzt, die Spannungen zu reduzieren: »Hören Sie auf zu reden und fangen Sie an zu handeln.« Als Senator John McCain in New York von dieser Äußerung hörte, fragte er: »Sonst was?« – eine Kritik an der Regierung Obama, weil sie nicht energischer gegen Russland vorging.

Vertreter der Ukraine hatten die Vereinigten Staaten um Militärhilfe gebeten, aber Biden hatte ihnen erklärt, dass sie allenfalls minimal ausfallen werde. Zu mir sagte er: »Wir denken nicht mehr in Kategorien des Kalten Krieges, und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens ist niemand so stark wie wir. Keiner reicht auch nur an uns heran. Wenn Putin nicht verrückt genug ist, auf den Knopf zu drücken, kann er militärisch nichts machen, was amerikanische Interessen grundlegend verändern würde.« Den Ukrainern gefiel das gar nicht. Ein höherer Regierungsbeamter berichtete: »Ich las aus ihren Mienen: ›Großer Gott.‹«

Biden war fest entschlossen, nicht zuzulassen, dass die Vereinigten Staaten in einen regionalen Konflikt hineingezogen würden; über Putins Absichten machte er sich keine Illusionen. Auch nach über zehn Jahren war er immer noch entsetzt über George W. Bushs Fehleinschätzung von 2001, Putin sei »sehr geradeheraus und vertrauenswürdig«. »Ich konnte mir«, so Bush damals, »einen Eindruck von seiner Seele verschaffen: ein Mann, der seinem Land und den Interessen seines Landes zutiefst verpflichtet ist.« Biden erinnerte sich an seinen Besuch im Kreml 2011. »Als Putin mir sein Büro zeigte, sagte ich: ›Es ist erstaunlich, was der Kapitalismus bewirkt, oder? Ein prächtiges Büro!‹ Er lachte. Als ich mich umdrehte, stand ich so dicht vor ihm.« Biden hielt seine Hand einige Zentimeter vor seine Nase. »Ich sagte: ›Herr Ministerpräsident, ich schaue Ihnen in die Augen, und ich glaube nicht, dass Sie eine Seele haben.‹«

»Das haben Sie gesagt?«, fragte ich. Es klang wie eine Zeile aus einem Film.

»Absolut, ja«, bestätigte Biden. »Und er sah mich an, lächelte und sagte: ›Wir verstehen uns.‹« Biden lehnte sich zurück und erklärte: »So ist dieser Mann!«

In jenem Sommer vereinbarten wir, dass ich Biden zu einigen Treffen begleiten würde. Eines Nachmittags überquerte er die Straße zwischen dem West Wing und dem Eisenhower Executive Office Building, in dem sich der offizielle Amtssitz des Vizepräsidenten befindet, das sogenannte Ceremonial Office, das Biden für Gruppen nutzte, die für seine Räume im Weißen Haus zu groß waren. Als wir die Treppe hinaufgingen, unterhielten wir uns über die Darstellung Bidens in Richard Ben Cramers Buch What It Takes. Die wohlwollende, aber schonungslose Schilderung von Bidens Aufstieg und Fall während seiner Kandidatur 1987 hatte ihn leicht verunsichert. (Cramer betonte Bidens »atemberaubendes Element der Eier […], mehr Eier als Verstand«.) »Es ist seltsam, wenn jemand dir eine Seite an dir zeigt, die du noch nicht kanntest«, sagte Biden. Aber als Cramer 2013 starb, sprach Biden bei einem Gedenkgottesdienst. Als wir oben an der Treppe ankamen, war Biden ein bisschen außer Atem. Er hielt kurz an und sinnierte darüber, warum Cramers Porträt ihn betroffen gemacht hatte. »Er benutzte diesen Ausdruck – er sagte: ›Biden tut nie etwas, wenn er es nicht sehen kann.‹ Und damit hatte er vollkommen recht. Ich tue nie etwas, was ich nicht sehen kann.«

Die Krise in der Ukraine hatte sich zu einem erbitterten Patt verhärtet. Allmählich wandte sich die Obama-Regierung wieder den zahlreichen anderen außenpolitischen Problemen zu, die sich ihr stellten. In Bidens Ceremonial Office saßen zwei Dutzend Besucher an einem langen Tisch, um über Zypern zu sprechen. Die Insel ist geteilt, seit die Türkei 1974 den Norden besetzte, um eine Vereinigung mit Griechenland zu verhindern. Zypern ersuchte nun um Unterstützung der USA, um aus dieser Sackgasse herauszukommen und Öl- und Gasvorkommen auszubeuten. Ende Mai war Biden als höchster US-Vertreter seit Vizepräsident Lyndon Johnson 1962 nach Zypern gereist. An diesem Nachmittag empfing er nun einige führende griechisch-amerikanische Persönlichkeiten, die er seit Jahren kannte. Einer von ihnen merkte an, Biden sei dünn geworden. »Ich arbeite dran! Ich bin runter auf einundachtzig Kilo und bereit zu kämpfen!«, erwiderte er – ein weiterer Wink im zunehmenden Geraune über eine mögliche Präsidentschaftskandidatur 2016.

Während des Treffens war Biden voll in Fahrt. Er berichtete energiegeladen von seiner Zypernreise, spielte seine Begegnungen nach, flüsterte vertraulich, warf die Hände in die Luft und schwor, eine Lösung für einen Konflikt zu finden, der sich seit »vierzig verdammten Jahren, Mann!« hinzog. Er kam ins Schwitzen und zog sein Jackett aus. Nach einer halben Stunde reichte ein Mitarbeiter, der über seinen Terminkalender wachte, ihm einen gefalteten Zettel, da er die Besprechung nun eigentlich verlassen sollte. Biden schaute auf den Zettel und redete weiter. Es verstrichen weitere dreißig Minuten. Der Mitarbeiter ging um den Tisch herum und stellte sich in Bidens Blickfeld. Nach vierundsechzig Minuten, von denen Biden etwa fünfundfünfzig Minuten gesprochen hatte, erklärte er schließlich, er müsse wieder in die Ukraine, diesmal, um an der Amtseinführung des Präsidenten teilzunehmen. Ein Mitglied der Gruppe, der griechisch-amerikanische Lobbyist Andy Manatos, dankte ihm für die Aufmerksamkeit, die er Zypern schenke, und erklärte, es sei »wahrscheinlich das erste Mal in vierzig Jahren, dass wir Vertrauen in die Richtung haben, die unsere Regierung in dieser Sache einschlagen will«. Beim Hinausgehen blieb Manatos stehen und sagte zu mir: »Sie haben doch schon mal von der Lyndon-Johnson-Behandlung gehört? Das war die Biden-Behandlung.«

Wenn Biden vom Weißen Haus aus Leute anrief, die er kannte, überging er gelegentlich die hausinterne Vermittlung, wählte selbst und überrumpelte seine Gesprächspartner. Bei Telefonaten mit ausländischen Staatschefs hielt er sich an das Protokoll, bemühte sich aber, etwas harmloses Geplauder – über Enkelkinder, Essen, das Wetter – einzuflechten. Aus den Telefonprotokollen des Weißen Hauses geht hervor, dass Biden in diesem Sommer in keinem Land häufiger anrief als im Irak – genau vierundsechzig Mal. Während der Regierungszeit Obamas war der Irak eines der Themen, die Biden am meisten beschäftigten.

In seinen Jahren als Senator hatte Biden keine durchgängige Haltung zu Militäreinsätzen vertreten. So hatte er 1991 gegen den Golfkrieg gestimmt, aber 1993 für die Nato-Luftschläge auf dem Balkan, um das serbische Gemetzel an den Bosniern zu beenden – das war seiner Ansicht nach sein stolzester Moment. Im Vorfeld des zweiten Irakkriegs hatte er 2002 auf einen Kongressbeschluss gedrängt, der es Bush erlaubt hätte, Massenvernichtungswaffen im Irak zu beseitigen, nicht aber Saddam Hussein zu stürzen. Als der Beschluss scheiterte, stimmte Biden für den Krieg – eine Entscheidung, die er später bereute.

Biden war nie sonderlich optimistisch gewesen, was den politischen Zusammenhalt des Irak anbelangte. Im Frühjahr 2006 saß er während eines Fluges von New York nach Washington zufällig neben Leslie Gelb, dem ehemaligen Präsidenten des Council on Foreign Relations. Da der Abflug sich verzögerte, »redeten und redeten wir drei Stunden lang ausschließlich über den Irak«, erzählte Gelb. Sie heckten die Idee eines föderalen Systems mit drei halbautonomen Regionen für Schiiten, Sunniten und Kurden aus, das zum Teil auf Bidens Erfahrung mit der Teilung Bosniens basierte. Diesen Vorschlag legten sie im Mai 2006 in einem Gastbeitrag in der New York Times dar. Kommentatoren befürchteten, ein solches System werde zum Zerfall des Irak oder, schlimmer noch, zu ethnischen Säuberungen führen. »Ich beobachtete das mit großem Interesse, um zu sehen, wie Joe reagieren würde«, erzählte Gelb. »Denn unter solchem Druck, wenn jeder dir sagt: ›Du hast unrecht‹, treten Politiker in der Regel fluchtartig den Rückzug an. Das hat er nie getan. Kein Jota.« (Später fragte ich Michael O'Hanlon, einen Außenpolitikexperten von der Brookings Institution, nach seiner Ansicht zu dem vorgeschlagenen Föderalsystem. Er sagte: »Das ist keine verrückte Idee, sie war nie verrückt, und sie kann als Notfallplan noch einmal wichtig werden.«)

Nicht lange nach der Wahl 2008 traf sich Rahm Emanuel, der zukünftige Stabschef des Weißen Hauses, mit Obama, um die Aufgabenverteilung zu besprechen – besonders in der heiklen Frage des stockenden Irakkriegs. »Es brauchte jemanden, der loyal war bis ins Mark«, erzählte mir Emanuel, »der es nicht auf Ruhm abgesehen hatte, der die verschiedenen Interessengruppen kannte – nicht nur in unserer Regierung, sondern auch in der irakischen – und der ungehinderten Zugang zum Oval Office hatte.« Biden entsprach diesen Anforderungen. Im Juni 2009 wandte sich Obama während einer Besprechung des Nationalen Sicherheitsrates an Biden und teilte ihm unumwunden mit: »Joe, du machst den Irak.« Kritiker der Regierung sahen in dieser Aufgabenverteilung ein Zeichen von Obamas Geringschätzung für diesen, wie er fand, »dummen Krieg« (im Gegensatz zu dem »guten Krieg« in Afghanistan).

Drei Jahre nachdem Biden einen Plan vorgeschlagen hatte, der den verschiedenen Regionen des Irak größere Autonomie gegeben hätte, fiel ihm nun die Aufgabe zu, das Land zusammenzuhalten. Zu diesem Zweck unterstützte er die von Ministerpräsident Nuri al-Maliki geführte Regierung und bat dessen Rivalen Iyad Allawi, seine Kandidatur für das Ministerpräsidentenamt zurückzuziehen und sich mit einem niedrigeren Amt zu begnügen. Obwohl amerikanische Diplomaten und Verbündete in der Region zunehmend besorgt waren angesichts der sektiererischen und despotischen Züge, die der irakische Ministerpräsident nach und nach an den Tag legte, hielt Biden ihn für die einzige tragfähige Option. Dabei berief er sich auf seine Überzeugung, dass die Macht rationaler Interessen ein fester Bestandteil der Politik ist. Panetta erzählte: »Ich erinnere mich, dass Joe im Grunde zu Maliki sagte: ›Das ist in Ihrem politischen Interesse. Sie wollen das Land regieren? Sie wollen als jemand in die Geschichte eingehen, der imstande war, das Land zu retten? Das wird entscheidend für Ihr Vermächtnis sein.‹«

Der optimistische Biden sagte 2010 voraus, eine stabile, repräsentative Regierung in Bagdad werde »eine der großen Leistungen der Obama-Regierung sein«. Er sagte voraus, Maliki werde ein Truppenstationierungsabkommen (Status of Forces Agreement, kurz SOFA) unterzeichnen, das es den USA erlauben würde, ein Truppenkontingent im Land zu belassen. »Ich verwette meine Vizepräsidentschaft darauf, dass Maliki das SOFA verlängern wird«, erklärte er angeblich gegenüber anderen Kabinettsmitgliedern in einer Videokonferenz. Aber diese Zuversicht war fehl am Platz. Maliki weigerte sich 2011, den amerikanischen Forderungen nachzugeben, und so beendeten die USA ihre Bemühungen, weiterhin Truppen im Irak zu stationieren. Im Dezember reiste Biden zum Abschluss des amerikanischen Truppenabzugs nach Bagdad. Er rief Obama an und dankte ihm, »dass er mir die Chance gegeben hat, diesen verdammten Krieg zu beenden«. Das zufriedene Schulterklopfen war verfrüht.

Im Juni 2014 besuchte ich Biden in seinem Büro im West Wing. Nicht einmal drei Jahre nachdem er das Ende dieses verdammten Krieges bejubelt hatte, übernahmen militante Sunniten, die sich ISIS – Islamischer Staat im Irak und in Syrien – nannten, die Kontrolle über Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes, und Obama bereitete die erneute Entsendung der ersten von Tausenden Soldaten in den Irak vor. Die Grenze zwischen dem Irak und Syrien brach zusammen, und zwei bis dahin separate Kriege verschmolzen zu einem.

Biden ließ sich in Hemdsärmeln auf ein blaues Sofa vor seinem Schreibtisch fallen und stieß einen theatralischen Seufzer der Erschöpfung aus. Seit Jahren hatten diverse Kritiker von links wie von rechts die US-Regierung gedrängt, in Syrien mehr zu unternehmen, Menschenleben zu retten und das strategische Chaos zu beseitigen, das die Region erschütterte. Ich fragte ihn, ob die USA in Syrien irgendetwas hätten anders machen können. Biden schwieg fünfzehn Sekunden lang. Schließlich antwortete er: »Ja, vielleicht.« Einen von der CIA befürworteten Plan, gemäßigte Rebellen zu bewaffnen, hatte das Weiße Haus 2012 abgelehnt, weil es fürchtete, die Vereinigten Staaten könnten in den Konflikt hineingezogen werden und die Waffen würden möglicherweise in die falschen Hände gelangen. Nachdem sich im Juni 2013 herausgestellt hatte, dass Bashar al-Assad Chemiewaffen eingesetzt hatte, genehmigte Obama den Plan. Laut Biden verfolgten die USA das Ziel, Assad zu stürzen, ohne einen religiösen Bürgerkrieg zu entfesseln. Allerdings wandte er ein: »Ich dachte und glaubte nicht, dass unsere Verbündeten mit uns einer Meinung waren.« Katar, Saudi-Arabien und andere regionale Mächte bewaffneten sunnitische Dschihadisten, die die US-Regierung nicht unterstützen wollte. »Ich hielt es für überaus wichtig, dass die Katarer, die Emiratis, die Saudis und die Türken sich klarmachten, wer diese Jungs waren«, erklärte er. »Wen würden wir unterstützen? Waren wir entschlossen, eine funktionierende Regierung im Amt zu halten, die sich wieder aufbauen ließ, damit wir am Ende nicht mit einem gespaltenen Land dastehen würden?«

Biden erinnerte sich, dass er dem Emir von Katar bei einem Frühstück im April 2013 gesagt hatte: »Ihr könnt da nicht weiter einfach die radikalsten Islamisten finanzieren.« Der Vizepräsident war überzeugt, dass ausländische Kräfte den Konflikt »in einen Stellvertreterkrieg zwischen Sunnitentum und Schiitentum« verwandeln würden. Er erklärte: »Ihr könnt nicht zig Millionen Dollar an [die islamistische Terrororganisation] al-Nusra schicken und behaupten: ›Wir stehen auf derselben Seite.‹ Denn das wird nicht gut ausgehen.« Er lehnte sich zurück. »Insofern überhaupt die Möglichkeit bestand, es zu einem guten Ende zu bringen, lag es eher an der mangelnden Fähigkeit, einen einhelligen Konsens herzustellen.«

Bevor ich Biden fragen konnte, wie es zur aktuellen Situation hatte kommen können, verteidigte er seine ablehnende Haltung gegenüber einem Militäreinsatz. »Sehen Sie, ein Punkt, in dem ich mir sicher bin, ist, dass es nichts damit zu tun hatte, ob wir dreißigtausend, sechzigtausend oder zehntausend Soldaten vor Ort hatten.« Er zog einen Vergleich zwischen dem Irak und Afghanistan: »Diese beiden Länder kamen aus wirklich schwierigen Verhältnissen, und wir gaben ihnen eine Möglichkeit. Eine Chance. Ließen ihnen Raum und Zeit.« Er sah die ins Chaos führende Abwärtsspirale in Syrien und im Irak pessimistisch, hielt aber an der Überzeugung fest, dass es falsch wäre, wenn die Vereinigten Staaten versuchen würden, die beteiligten Parteien zur Unterwerfung oder Einwilligung zu zwingen: »Obwohl ich und andere Hunderte Stunden mit ihren führenden Politikern gesprochen haben, haben sie ein Kernproblem nicht gelöst, nämlich wie zum Teufel sie zusammenleben wollen. Und es hätte nichts geändert, wenn wir dort geblieben wären.«

Nur wenige amerikanische Militärs und Diplomaten bedauerten das Ende einer zermürbenden US-Besatzung, aber manche kritisierten, dass Biden so viel in Maliki investiert und nicht stärker darauf gedrängt hatte, ein Truppenkontingent im Land zu belassen, das den amerikanischen Einfluss gewahrt und Malikis sektiererische Bestrebungen in Schach gehalten hätte. Als Biden und ich uns 2014 über den Irak unterhielten, hatte er am Vortag mit Maliki gesprochen. Er gab sich nicht länger Mühe, wenigstens so zu tun, als vertraue er ihm. »Die gute und die schlechte Nachricht ist, dass dies zu einem günstigen Zeitpunkt passiert, weil sie sich gerade in der Regierungsbildungsphase befinden, und es kann durchaus sein, dass die Schiiten unter sich zu dem Schluss kommen, dass Maliki vielleicht nicht der Richtige für diese Aufgabe ist.« (Tatsächlich trat Maliki dann im August 2014 zurück.) Biden zeigte nur begrenzten Ehrgeiz, im Irak für eine Lösung zu sorgen: »Wir können Einheit und Zusammenhalt nicht mehr wollen als sie, auch wenn das überwiegend in unserem Interesse sein mag.«

Als die Regierung in Bagdad in jenem Sommer 2014 immer tiefer in die Arbeitsunfähigkeit driftete, verwandelte sich Bidens alte Vorstellung von einem föderalen, dezentralisierten irakischen Staat von einem radikalen Vorschlag in ein nüchternes Eingeständnis der Wirklichkeit. Der Informationsdienst Stratfor sagte voraus, der Irak werde »sich mit der Zeit wie eine Konföderation verhalten«. Nahezu niemand gab vor, dass dies ein erstrebenswerter Ausgang sei. Die Irakexperten Zalmay Khalilzad und Kenneth Pollack vom Center for Strategic and International Studies bzw. von der Brookings Institution bezeichneten es jedoch als die gegenwärtig »beste – oder vielleicht zumindest als die am wenigsten schlechte« Option.

Als die Präsidentschaft Obamas in ihr letztes Viertel eintrat, änderte sich die Chemie im Weißen Haus. Nach nahezu vier Jahren als Außenministerin hatte Hillary Clinton dieses Amt 2013 niedergelegt. Sie hatte ein aufreibendes Reisepensum absolviert, mehr Länder besucht als jeder ihrer Vorgänger und eine Gehirnerschütterung erlitten, die ein Blutgerinnsel im Gehirn nach sich gezogen und sie gezwungen hatte, einen Monat zu pausieren. Ihr Nachfolger wurde John Kerry. Er hatte ein gutes Verhältnis zu Biden, obwohl sich ihre Fähigkeiten und Erfahrungen überschnitten und Biden in auswärtigen Angelegenheiten nun weniger gefragt war. Im Gegensatz zu Clinton brachte Kerry bei seinem Amtsantritt jahrzehntelange außenpolitische Erfahrungen im Senat mit und unterhielt wie Biden langjährige Beziehungen zu ausländischen Regierungschefs. Außerdem war zunehmend von der Präsidentschaftswahl 2016 die Rede. Biden war stolz auf seine Beiträge zur Regierungsarbeit: eine Stimme, die sich für die Beendigung zweier Krieg eingesetzt hatte, so ungelöst sie auch sein mochten; Bemühungen, mit einem nicht arbeitsfähigen Kongress zurechtzukommen; demonstrative Unterstützung der Rechte von Schwulen und Lesben, selbst auf Kosten seines Verhältnisses zu Obamas politischen Beratern. Ihm war klar, dass seine Darstellung seiner Bilanz umstritten sein würde. Bob Gates war lediglich der Erste, der ein Zeichen setzte.

Gegen Ende eines unserer Interviews zog Biden ein Resümee seiner Vizepräsidentschaft: »Trotz all meiner Skepsis, den Job anzunehmen, war es das Lohnendste, was ich in meinem Leben gemacht habe.« Er stand auf, zog ein marineblaues Jackett an und zupfte die Manschetten ein kleines Stück heraus. Er musste zu einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates. Ihm war klar, dass andere – allen voran Hillary Clinton – sich Gedanken über seine Absichten im Präsidentschaftswahlkampf machten, aber er hatte es nicht eilig, sie preiszugeben. Als ich ihn danach fragte, bestritt er mit dem üblichen Ritual jegliche Ambitionen und sagte: »Ich kann als glücklicher Mann sterben, ohne Präsident gewesen zu sein.«

Ich rief einen seiner Freunde an, um bei ihm einen Versuchsballon zu starten. Er lachte: »Seit sechs Jahren sage ich, wenn ihr nicht glaubt, dass Joe Biden vorhat, 2016 zu kandidieren, dann kennt ihr Joe Biden schlecht.«