6. Der Glückliche und der Unglückliche

Als Biden 2008 Obamas Angebot annahm, als dessen Vizepräsident zu kandidieren, erklärte er ihm: »Ich bin fünfundsechzig Jahre alt, und Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass ich mich in Stellung bringe, um selbst Präsident zu werden.« Würde Obama zweimal gewinnen und würde es Biden anschließend gelingen, seine Nachfolge anzutreten, wäre er bei seinem Amtsantritt älter als jeder andere Präsident in der amerikanischen Geschichte.

Im Jahr 2011 dachte er dann jedoch neu über die Sache nach. Im Naval Observatory, dem offiziellen Wohnsitz des Vizepräsidenten, hielt er Strategiesitzungen mit seiner Familie und langjährigen politischen Beratern ab: mit Ted Kaufman, Ron Klain und anderen. Als ich Biden Anfang 2014 erstmals danach fragte, wiegelte er mit den üblichen Floskeln ab: »Mein Job dreht sich um den Präsidenten. Ich weiß, es hört sich albern an, aber ich meine es wirklich ernst. Ich habe einen Job. Einen einzigen Job: diesem Mann, den ich sehr bewundere, dabei zu helfen, seine Amtszeit so zu beenden, dass von einer Agenda, die ich teile und an die ich glaube, möglichst viel umgesetzt wird.« Als ich nachhakte, sagte er: »Irgendwann zwischen einem Tag und sechs bis acht Monaten nach den Kongresswahlen [im Herbst 2014] wird es darum gehen, ob ich dabei bin oder nicht.«

In Wahrheit steckte Biden bereits in einem Dilemma, das in der modernen amerikanischen Politik beispiellos war. In den vorangegangenen fünfzig Jahren hatte jeder amtierende Vizepräsident, der für die Präsidentschaft kandidieren wollte, die Nominierung seiner Partei gewonnen. Aber schon ein Jahr bevor Hillary Clinton ihre Kandidatur offiziell ankündigte, lag Biden in den Umfragen um fünfzig Prozentpunkte und mehr hinter ihr. Sollte sie nicht kandidieren oder straucheln, könnte Biden einspringen. Vorerst hing er jedoch in der Schwebe – und suchte nach Möglichkeiten, im Gespräch zu bleiben, seinen Präsidenten zu unterstützen und seine Bilanz aufzupolieren.

Als ich ihn auf die Entscheidung ansprach, in den Ruhestand zu gehen oder erneut zu kandidieren, erzählte er von seinem Vater. »Ich habe einen Fehler gemacht, als ich ihn dazu ermunterte, in den Ruhestand zu gehen. Ich finde einfach, solange du denkst, dass du es kannst, und du körperlich gesund bist …« Er schwenkte um. »Darüber habe ich tatsächlich schon mit Barack gesprochen. Ich sagte: ›Hören Sie, ich werde nicht wie Al [Gore] durch die Gegend reisen und zu jedermanns Geburtstag in Iowa gehen.‹ Das mache ich nicht. Aber, wissen Sie, ich habe auch noch keine Entscheidung gefällt, dass ich es nicht tun werde.«

Über ein Jahr vor den Vorwahlen in Iowa 2016 sahen Bidens Aussichten nicht gut aus. Obwohl er häufig nach South Carolina reiste (wo die dritten Vorwahlen stattfinden sollten), hatte dort 2012 eine Umfrage ergeben, dass nahezu ein Drittel der Befragten den Namen des amtierenden Vizepräsidenten nicht nennen konnten. Als kurzfristige Strategie nutzte ihm sein Bühnengeflüster über eine Präsidentschaftskandidatur jedoch. Ein Vizepräsident, der eifrig das höchste Amt anstrebte, hätte für Unruhe gesorgt. Indem er Spekulationen über seine Bereitschaft schürte, Clinton eine Kandidatur zu erschweren, wehrte er immerhin den Status der lame duck ab. Selbst er sah zwar noch keinen tragfähigen Weg zur Nominierung, aber solange er die Option auf dem Tisch ließ, blieb er weiter im Rennen. Wie einer seiner Berater mir erzählte, sah Biden sich als »Hai, der ständig schwimmen muss, um am Leben zu bleiben«. Dennis Toner, der über dreißig Jahre zu Bidens Stab gehörte, drückte es weniger düster aus: »In deinem ganzen Leben ging es immer nur genau darum – wie kann man dann an diesem Punkt aussteigen?«

Je mehr Zeit ich mit Biden verbrachte, umso stärker fiel mir auf, wie oft er auf das Thema Respekt zurückkam – in seiner Kindheit, in den Kämpfen seines Vaters, in den Kränkungen und Aufmerksamkeiten, die er auf seinem Weg nach oben erlebt hatte. Respekt ist ein regelmäßiges Motiv in der politischen Psychologie (in einer Folge von Veep lässt sich Julia Louis-Dreyfus gerade über die Wichtigkeit von Respekt aus – »Sie kennen ja den Song von Aretha Franklin« –, als sie gegen eine Glastür läuft), aber in Bidens aus alten, gewachsenen Gemeinschaften hervorgegangenen Wertvorstellungen war Respekt etwas Heiliges. Ich kam zu dem Schluss, dass die eigentliche Präsidentschaftskandidatur für ihn weniger wichtig war als die Bestätigung, dass Menschen ihm genügend Respekt entgegenbrachten, um seine Kandidatur ernst zu nehmen.

Biden und Hillary Clinton verband eine Freundschaft, die bis in Bill Clintons Wahlkampf 1992 zurückreichte. Sie sagte gern, er erinnere sie an ihren Mann – zwei volksnahe Aufsteiger mit Politik im Blut. Als sie in den Senat gewählt wurde, saßen die beiden häufig während der Zugfahrt zusammen. Nachdem Clinton beim Nominierungsparteitag der Demokraten 2008 Obama und Biden mit einer leidenschaftlichen Rede unterstützt hatte, ging Biden hinter der Bühne zu ihr, sank vor Dankbarkeit auf die Knie und küsste ihr die Hand. Enthusiastisch unterstützte er ihre Ernennung zur Außenministerin. Im Kabinett vertraten sie völlig entgegengesetzte Ansichten zu amerikanischen Militäreinsätzen. Sie befürwortete eine Truppenaufstockung in Afghanistan, einen Einsatz zum Sturz Gaddafis und das Kommandounternehmen gegen bin Laden, während er sich gegen alle drei Vorhaben aussprach. Dennoch trafen sie sich regelmäßig dienstags ohne Mitarbeiter zum Frühstück in seiner offiziellen Residenz. Er ließ es sich nie nehmen, sie am Auto abzuholen und an ein sonniges Plätzchen auf der Veranda zu führen – »stets ganz Gentleman«, wie sie in Entscheidungen, ihren Erinnerungen an ihre Jahre als Außenministerin, schrieb. Manchmal beendete er ihre Telefonate mit den Worten: »Ich liebe dich, Darling.«

Clintons Vorsprung war nicht zu überschätzen. Seit zwölf Jahren in Folge war sie laut Gallup-Umfragen die meistbewunderte Frau der Vereinigten Staaten. (2014 rangierte Michelle Obama hinter Oprah Winfrey auf Platz drei, gleichauf mit Sarah Palin.) Bereits mehr als zwei Jahre vor der Wahl hatte ein politisches Aktionskomitee für Hillary 8,3 Millionen Dollar Wahlkampfspenden eingesammelt. Biden verfügte über keinerlei Fundraising-Infrastruktur. Peter Beinart schätzte Clintons Schlagkraft 2014 in The Atlantic folgendermaßen ein: »Joe Bidens voraussichtliche Präsidentschaftskandidatur läuft Gefahr, ein Witz zu werden.« Er bedauerte diese Entwicklung, weil der Kontrast zwischen Biden und Clinton seiner Ansicht nach eine produktive Debatte über die Richtung der Demokratischen Partei entfachen könne, etwa in Fragen wie jener nach »Amerikas Rolle in der Welt«.

Ed Rendell, ein demokratischer Parteigrande, ehemaliger Gouverneur von Pennsylvania und Freund Bidens, unterstützte Clinton. In jenem Frühjahr fragte ich ihn, was Biden gegen Clinton ins Feld führen könnte. »Nichts, denn seine politischen und finanziellen Unterstützer sind alle für Hillary«, erwiderte er. »Sie würden ihm antworten: ›Joe, ich mag dich, ich glaube, du wärst ein guter Präsident, aber Hillary ist dran.‹ Joe steht zufällig der Geschichte im Weg.« Wäre Clinton nicht mit im Rennen, könnte Biden durchaus mehr Unterstützung unter Demokraten finden, als auf Anhieb ersichtlich sei, meinte Rendell. »Würde Hillary am Dienstag aussteigen, würde ich Joe am Mittwoch anrufen und sagen: ›Ich mache, was immer du willst.‹ Und ich denke, dass sechzig bis siebzig Prozent der Hillary-Leute es ebenso empfinden.«

Wahlkampagnen nehmen oft einen unvorhersehbaren Verlauf, und in jenem Sommer machte Clinton einige ungeschickte Bemerkungen über ihre Vermögensverhältnisse. Sie sagte, als ihre Familie aus dem Weißen Haus auszog, sei sie »völlig pleite« gewesen, und sie und Bill Clinton seien nicht »wirklich wohlhabend«, obwohl sie durch das Land reiste und bezahlte Vorträge hielt. Biden hingegen sagte neuerdings Dinge, die geeignet waren, ihn als eine progressivere Alternative à la Elizabeth Warren zu positionieren. »Ich stimme grundsätzlich nicht mit der seit den Clinton-Jahren vorherrschenden Einschätzung überein, laut der die Konzentration von wirtschaftlichem Wohlstand Wachstum generiert«, sagte er mir. Die Mittelschicht »wird geschröpft«, fand er: »Ich glaube, wir brauchen nach und nach einen deutlichen Wandel sowohl in der Haushalts- als auch in der Steuerpolitik.« Diese Ansicht wolle er »im Weißen Haus stärker einbringen«. Es klang für mich nach abgedroschenen Phrasen, deshalb schrieb ich damals nichts darüber. Das war ein Fehler. Denn Biden beschrieb damit eine sich abzeichnende Spaltung in der Demokratischen Partei über die Frage, inwieweit die Partei die Frustrationen der – vor allem weißen – Wähler aus der Arbeiterschaft aufgreifen müsse, von denen sich manche Bernie Sanders zuwandten – und andere Donald Trump.

Biden fuhr fort: »Ich will ganz offen zu Ihnen sein: Mir fällt nur eine einzige Entscheidung in meinen Jahren im Senat ein, die ich bereut habe – und damals habe ich aus Loyalität dafür gestimmt und ahnte nicht, dass es so schlimm ausgehen würde – und das war Glass-Steagall.« Das Glass-Steagall-Gesetz, das eine Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken vorschrieb, wurde 1999 aufgehoben, ein Schritt, der die Entstehung der Finanzkrise von 2007/08 erleichterte. (Im Laufe der Jahre hat Biden sein Abstimmungsverhalten zu weiteren Entscheidungen bereut, unter anderem seine Unterstützung der Invasion im Irak und härterer Strafen für den Besitz von Kokain.)

In der Öffentlichkeit steckte er eine populistische Haltung zu Wirtschaftsfragen ab, die ihn deutlich links von Clinton positionierte. Bereits Monate bevor Bernie Sanders in das Rennen um die Präsidentschaftskandidatur einstieg, präsentierte sich Biden auf eine Weise, die ihm im Fall einer Kandidatur nützen konnte. Gewerkschaftern erzählte er, Ken Langone, der Milliardär und Mitbegründer der Baumarktkette Home Depot, habe sich über die Kritik von Papst Franziskus an der Einkommensungleichheit beschwert. »Als praktizierender Katholik sage ich dazu: Vergib mir, Vater, denn er hat gesündigt.« Mitglieder der Gewerkschaft United Auto Workers warnte er, Konservative hätten eine »konzertierte, lautstarke, gut organisierte, gut finanzierte, wohlüberlegte Kampagne gestartet, um »einen Krieg gegen die organisierte Arbeiterschaft zu führen«.

Während Clinton weitere Fragen nach ihrem Einkommen abwehrte, erklärte Biden seinem Publikum in Washington, er trage zwar einen »mäßig teuren Anzug«, besitze aber »keine einzige Aktie oder Anleihe«. (Um genau zu sein, hielt seine Familie Wertpapiere auf den Namen seiner Frau.) Dieses Herunterspielen des eigenen Wohlstands bezeichnete Jon Stewart im Fernsehsender Comedy Central als »den guten alten Wettbewerb darum, wer der Ärmste ist« (»a good old-fashioned Poor-Off«).

Je mehr Biden an jenem Tag in seinem Büro über einen möglichen Wahlkampf sprach, umso lebhafter wurde er bei der Aussicht, als Wirtschaftspopulist anzutreten. Er stand vom Sofa auf und suchte etwas auf seinem Schreibtisch. Vor Kurzem hatte er seine Rede vom Parteitag 2008 hervorgekramt und erstaunt festgestellt, wie viele Probleme noch ungelöst waren. Er fand sie in den Stapeln, stand mitten in seinem Büro und blätterte die Seiten durch. »Damals habe ich unter anderem gesagt: ›Ich kandidiere für Polizisten, Feuerwehrleute, Krankenschwestern, Lehrer und Fließbandarbeiter.‹« Er berichtete, Leute würden ihn fragen: »›Biden, warum redest du ständig über Einkommensungleichheit und das alles?‹ Dann schaue ich mir wieder meine Rede an: Das ist genau der Grund, warum ich angetreten bin!« Noch immer stehend, starrte er mich, breit grinsend, an. »Wir reden nicht genug über Einkommensungleichheit. Wir reden nicht genug darüber, wie man in Gottes Namen über weitere 5,7 Billionen Dollar Steuersenkungen diskutieren kann, um Himmels willen. Wie können wir weiter behaupten, zwanzig Prozent Steuern auf Zinserträge seien gerecht? Warum zum Teufel reden wir nicht über Erwerbseinkommen im Gegensatz zu Vermögenseinkommen?«

Nach Jill Bidens Zählung hatte sie dreizehn Wahlkampagnen für ihren Mann und ihren Stiefsohn Beau mitgemacht. Andere hatten mir erzählt, manchen in Bidens Familie widerstrebe es, sich auf einen weiteren Wahlkampf einzulassen. Auf meine Frage, ob sie glaube, dass ihr Mann erneut kandidieren werde, antwortete sie ohne das geringste Zögern, sie würden abwarten, »wie die Dinge sich entwickeln«, fügte allerdings hinzu, das Leben in einem politischen Amt ließe wenig Zeit, über die Zukunft zu sprechen. Am Abend zuvor hätten sie eine Reihe von Veranstaltungen besucht. »Danach gingen wir nach oben und holten unsere Briefing-Bücher heraus. Man muss sich auf den nächsten Tag vorbereiten. Das ist eine Lebensweise. Das ist etwas, was einen nie loslässt. Es ist nicht bloß ein Job; es ist kein Job, zu dem du gehst, um abends wieder nach Hause zu kommen. Du lebst ihn, du atmest ihn.«

Als ich in jenem Sommer Obama interviewte, erwähnte ich, dass er Clintons Qualitäten als potenzielle Präsidentin gelobt habe, und fragte ihn, wie er Bidens Aussichten einschätze. »Ich denke, Joe wäre ein hervorragender Präsident«, antwortete Obama. »Er hat den Job aus nächster Nähe erlebt und weiß, was damit verbunden ist. Er weiß das wirklich Wichtige vom weniger Wichtigen zu unterscheiden. Ich glaube, er kann sehr gut mit Menschen umgehen. Er hat Spaß an Politik, und er hat gute Beziehungen zum Kongress, die ihm sehr nützen würden.« Ich hatte Obama in einer eher rastlosen Phase getroffen. Nach sechs Jahren der Abgeschiedenheit im Weißen Haus verglich er sich mit einem Tier, das in einen Käfig eingesperrt war. Einige Stunden nach unserem Gespräch tauchte er überraschend bei Starbucks auf und sagte zu den Reportern: »Der Bär ist los.« Ganz in diesem Sinne konnte er seine Verwunderung nicht verhehlen, dass zwei seiner Freunde sich auf einen weiteren Präsidentschaftswahlkampf einlassen wollten. »Ich meine, sowohl Joe als auch Hillary haben in ihrem Leben schon unendlich viel erreicht. Die Frage ist, wollen sie sich in dieser Phase ihres Lebens wirklich dem ziemlich unwürdigen Prozess aussetzen, noch einmal zu kandidieren?«

Obama kam wieder auf Biden zu sprechen. »Du brauchst dieses Feuer in dir, und das ist eine Frage, die nur Joe beantworten kann.« Er fügte hinzu: »Vorerst bin ich sehr dankbar, dass er nicht zugelassen hat, dass diese Frage unsere Beziehung und seine Arbeit als Vizepräsident beeinträchtigt. Er ist auch weiter überaus loyal. Er übernimmt weiterhin wichtige Aufgaben, die ihm vielleicht keinen sonderlichen politischen Vorteil bringen.«

»Wissen Sie, als ich ihn kürzlich zur Amtseinführung Poroschenkos in die Ukraine geschickt habe, und er ist da, eine weltbekannte Persönlichkeit, die die Leute kennen, und er verkörpert die Bedeutung, die wir der ukrainischen Wahl beimessen«, erklärte Obama weiter. »Und Regierungschefs können ihm unmittelbar vermitteln, was sie von unserem Vorgehen halten. Aber das ist nicht unbedingt etwas, was ihm in Iowa hilft.«

Als ich Biden fragte, wonach er entscheiden werde, ob er für die Präsidentschaft kandidiert, hakte er die Faktoren ab: die Motivation (»Glaubst du wirklich, dass du Dinge ändern kannst, die dir leidenschaftlich am Herzen liegen?«), die Chancen (»Kannst du gewinnen?«), die Organisation (»Kann ich eine Milliarde Dollar auftreiben?«), die Familie (»Wenn Jill nicht glücklich wäre – es klingt albern –, dann wäre ich auch nicht glücklich«).

Auf meine Frage, wie er reagieren würde, wenn Gegner behaupten sollten, er sei zu alt, um Präsident zu werden, antwortete er: »Ich finde es durchaus legitim, dass Leute das ansprechen. Und ich werden einfach sagen: ›Schaut mich an. Entscheidet selbst.‹« Dann führte er weiter aus: »Meine Einschätzung von Leuten, sei es im Sport, in der Leitung eines Unternehmens oder im öffentlichen Leben, hängt davon ab, wie viel Leidenschaft sie noch haben. Wie engagiert sie die Aufgabe anpacken. Ich meine, wirklich anpacken.« Er klopfte auf einen hölzernen Beistelltisch neben dem Sofa. »Ich weiß aus Erfahrung, dass ich krank werden könnte. Ich könnte Krebs oder einen Herzinfarkt bekommen. Das ist ein weiterer Grund, weshalb mein Vater immer sagte: ›Streite nie mit deiner Frau über etwas, was erst in über einem Jahr passieren wird.‹«

In dieser Phase änderte sich Bidens Privatleben in einem Maße, von dem die Öffentlichkeit damals nichts ahnte und das seine verbleibenden Jahre im Weißen Haus überschatten sollte. Im Sommer 2013 hatte sein Sohn Beau (Joseph Robinette Biden III), Justizminister von Delaware und Vater zweier Kinder, die Diagnose erhalten, dass er an einem Glioblastom, einem bösartigen Hirntumor litt. Vater und Sohn standen sich ungewöhnlich nah, Beau war ein Vertrauter und Protegé und hatte schon als Teenager eine wichtige Rolle im politischen Leben seines Vaters gespielt. Während seiner Reden stand er oft so dicht bei ihm, dass er ihm Ratschläge zuflüstern konnte. Richard Ben Cramer erinnerte sich in What It Takes an ein Vorkommnis während Bidens scheiternder Bewerbung 1987. Das Publikum war so still, schreibt Cramer, dass man »Wollhosen auf den Kunstledersesseln knistern hörte«. Als die Zuhörer nach und nach abzogen, redete Biden immer noch weiter, »bis Beau gegen Ende auf seine Schuhe starrte und murmelte: ›Dad … hör auf.‹« Jahrelang erzählte der Vater seinen Freunden, Beau habe »all meine besten Eigenschaften und keine meiner schlechten«.

Nach der Diagnose musste Beau sich einer Operation und zermürbenden experimentellen Behandlungen unterziehen. In einem äußerst persönlichen Buch über diese Jahre, Promise Me, Dad, erinnerte sich Biden, dass er Obama erzählte, er habe vor, eine zweite Hypothek aufzunehmen, um die wachsenden Behandlungskosten zu tragen. »Tu das nicht«, sagte Obama. »Ich gebe dir das Geld. Ich habe es. Du kannst es mir zurückzahlen, wann du willst.« (Biden kam nie auf das Angebot zurück.)

Gelegentlich gab es Momente trügerischer Hoffnung. Während eines unserer Interviews ging er hinaus, um ein Telefonat anzunehmen, und kam strahlend und mit funkelnden Augen zurück. »Ich habe gerade sehr gute Neuigkeiten aus der Familie erfahren«, sagte er. Ich fragte, ob er eine Pause machen wolle.

»O nein, es ist nur – ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut es mir geht.«

Hinterher erzählte mir einer seiner Mitarbeiter, dass die gute Nachricht die Fortschritte in Beaus Behandlung betraf. Aber der Optimismus war von kurzer Dauer. Am 30. Mai 2015 starb Beau im Alter von sechsundvierzig Jahren. An jenem Abend schrieb Biden in sein Tagebuch: »Es ist passiert. Mein Gott, mein Junge. Mein wunderbarer Junge.«

Der Schmerz schnitt besonders tief in die Kultur der Familie Biden ein, eines Clans, der stolz auf seinen starken Zusammenhalt war. Manchmal sprach Biden von den Seinen in anthropologischen Begriffen – »wir Bidens«, sagte er. (»Wir Bidens haben eine starke Persönlichkeit, und wir leben eng beieinander«, heißt es in einem seiner Bücher.) Als ich einmal zu einem Interview in sein Büro kam, wirkte er gedankenversunken. Es war eine ereignisreiche Woche, und ich wollte mit ihm über den Irak, die Ukraine und andere Dramen sprechen. Doch als ich ihn fragte, worüber er an seinem Schreibtisch nachgedacht habe, strahlte er: »Über eine Erstkommunion, Mann!« Sie sollte am bevorstehenden Wochenende in Delaware stattfinden, und Biden hatte vor, nach Hause zu fahren. »Wenn ich mich umsehe bei meiner Schwester und bei vielen Kollegen und jüngeren Kollegen mit Kindern, die das College verlassen, sind sie in der ganzen Welt verstreut. Ich habe wirklich Glück gehabt. Wenn wir zu Hause sind, treffen wir uns jeden Sonntag zum Essen. So ist das schon seit fünfundzwanzig Jahren.«

Als die Nachricht von Beaus Tod bekannt wurde, würdigte Obama dessen »erfülltes Leben; ein Leben, das Bedeutung hatte«. An Joe und Jill gewandt, fügte er hinzu: »Die Bidens haben mehr Familie, als sie ahnen.« Da war etwas dran. Selbst als die Familie Biden in die Reihen der Privilegierten aufrückte, machten ihre Tragödien, ihr Streben und ihr unglaublicher Optimismus sie nahbarer als andere amerikanische Clans wie die Kennedys, die Clintons oder die Obamas.

Zu den Würdigungen der Bidens gehörte auch die Äußerung von Senator Harry Reid: »Es gibt einen Song, ›A Man of Constant Sorrow‹, und wenn er je auf einen Menschen zutraf, dann ist es sicher unser Freund Joe Biden.« Diese Bemerkung war durchaus mitfühlend gemeint, aber Menschen, die Biden nahestanden, fanden diesen Vergleich nicht ganz treffend. So ungewöhnlich viel Kummer die Bidens auch erlebt hatten, war er doch nie ein konstantes Merkmal. Bidens Freund Ted Kaufman sagte mir: »Wenn Sie mich fragen, wer der unglücklichste Mensch ist, den ich persönlich kenne und dem einfach furchtbare Dinge passieren, dann würde ich sagen, Joe Biden. Und wenn Sie mich fragen, wer der glücklichste Mensch ist, den ich persönlich kenne und dem Dinge passieren, die einfach absolut unglaublich sind, würde ich sagen, Joe Biden.«

Jahrzehntelang hatte Biden ein gespaltenes Verhältnis dazu, dass er in der Öffentlichkeit mit Leid und Kummer in Verbindung gebracht wurde. Noch lange nach dem Autounfall sprach er nur selten darüber; er hatte Sorge, wie die Leute reagieren würden; und Verletzlichkeit widersprach dem raubeinigen Stil seiner Generation. Aber nach dem Tod seines Sohnes bemerkten Mitarbeiter eine Veränderung. »Die ganze Erfahrung mit Beau tötete das Arrogante ab«, erzählte mir ein früherer Kollege. »Es war fast körperlich greifbar. Man sah es an der Art, wie er dastand. Er war nicht mehr der ehemalige College-Football-Spieler. Er wurde zu diesem demutsvollen, zielstrebigen Mann.«

Im Herbst 2015 war Biden zu Gast in Stephen Colberts Late Show. Die beiden hatten manche Erfahrungen gemeinsam: Als Colbert noch ein Kind war, starben sein Vater und zwei seiner Brüder bei einem Flugzeugabsturz. Vor der Aufzeichnung der Sendung trafen sie sich allein im Backstage-Bereich. »Es war eines der intensivsten und bewegendsten Gespräche, die ich, glaube ich, je hatte«, erzählte mir Colbert. Während des Interviews sprach Biden über die Trauer um seinen Sohn und rang dabei um Fassung. Aufgrund seiner eigenen Erfahrung glaubte Colbert, dass Biden seinen Schmerz bewusst öffentlich zeigte. »Nur wenige wollen sich mit Leid auseinandersetzen, und zwar nicht nur mit ihrem eigenen Leid, sondern auch mit dem anderer«, sagte er mir. »Ich glaube, es herrscht so ein Gefühl, dass Schmerz ansteckend ist. Das hat Joe Biden nicht. Er zeigt die Einsamkeit des Schmerzes, und dadurch fühlst du dich weniger allein. Trotz all seiner Eigenschaften amerikanischer Männer der Jahrhundertmitte ist er nicht mit dem Fluch behaftet, keinerlei Schwäche oder Verletzung zeigen zu können.«

Dass Biden mit Schmerz und Widerstandskraft in Verbindung gebracht wird, bedeutet, dass für ihn einige der Regeln außer Kraft gesetzt sind, die sonst für den unmittelbaren Kontakt von Politikern und Wählern gelten. »Leute gehen auf ihn zu, und das Einzige, worüber sie reden wollen, ist: ›Wie kann ich das durchstehen?‹«, erzählte sein Chefstratege Mike Donilon. Wenn Biden und Obama auf einer Veranstaltung ein Bad in der Menge nahmen, brauchte Biden häufig so lange, dass die Mitarbeiter den Soundtrack noch einmal von vorn abspielen mussten. Reporter und Funktionäre witzelten, das sei Bidens uralte Masche, für Fotos zu lange herumzutrödeln und über sein Baseballteam, die Philadelphia Phillies, zu quatschen. Menschen, die mit ihm zusammengearbeitet haben, sehen es anders: »Die Musik dröhnt, Leute schreien, um ein Selfie mit ihm zu machen, jemand aus seinem Stab drängt ihn weiter, und er bleibt einfach stehen«, erzählte Donilon. »Er steht da und redet mit diesem Menschen.«

In den Jahren, als Biden sich um Beau kümmerte, dem es zusehends schlechter ging, steckte sein Sohn Hunter in einer Krise anderer Art. Jahrzehntelang hatte Hunter mit Drogen- und Alkoholabhängigkeit zu kämpfen gehabt, was er einmal als »einen endlosen Tunnel« bezeichnete. Im Februar 2014 wurde er aus der Navy Reserve entlassen, nachdem ein Kokaintest positiv ausgefallen war. Seine Ehe scheiterte, und später hatte er eine kurze Beziehung mit Beaus Witwe. Unterdessen lancierten Republikaner, die Joe Bidens Kandidatur untergraben wollten, ohne jegliche Belege die Behauptung, er habe seine Macht ausgenutzt, um Hunter bei dessen Geschäften in China und in der Ukraine zu helfen. Im Laufe der Jahre hatte Hunter bei einer Bank, einer Lobbyfirma und einem Hedgefonds gearbeitet, aber sein Vater hatte Abstand gehalten, um jeglichen Vorwurf eines Interessenkonflikts zu vermeiden.

Es wurde jedoch schwieriger, diesen Abstand zu wahren. Im Frühjahr 2014, als Biden eine zentrale Rolle in der amerikanischen Ukraine-Politik spielte, wurde Hunter in den Verwaltungsrat von Burisma, dem größten Gasproduzenten des Landes, berufen. Sein Entschluss, diesen Posten anzunehmen, bereitete der Obama-Regierung Kopfschmerzen. Hunters Position habe zwar keinerlei Einfluss auf ihre Politik, mache aber einen schlechten Eindruck. Über mehrere Jahre hinweg war Hunter immer wieder wegen Drogenmissbrauchs in Behandlung, während er um seinen Bruder trauerte und seine Geschäfte betrieb. Nachdem er in Arizona einen Unfall mit einem Mietwagen verursacht hatte, fand ein Arbeiter darin eine Crackpfeife und auf dem Armaturenbrett Beau Bidens Dienstmarke als Justizminister. Hunter erzählte Adam Entous vom New Yorker, sein Vater habe nur ein einziges Mal mit ihm über Burisma gesprochen: »Dad sagte: ›Ich hoffe, du weißt, was du tust.‹ Und ich antwortete: ›Das weiß ich.‹« (Später entschuldigte sich Hunter bei ihm und erklärte öffentlich, es sei eine »Fehlentscheidung« gewesen, den Verwaltungsratsposten anzunehmen. Er schwor, nicht mehr für ausländische Unternehmen zu arbeiten, wenn sein Vater Präsident werden sollte.)

Noch während Biden mit Beaus Tod und mit Hunters Schwierigkeiten rang, wurden in Washington die Spekulationen über Bidens mögliche Präsidentschaftskandidatur lauter. Leute diskutierten, wie er in einem Rennen um die Nominierung der Demokratischen Partei gegen Hillary Clinton abschneiden würde. Nach der gängigen Einschätzung besaß sie mehrere Vorteile: Sie war fünf Jahre jünger, innerhalb der Partei sehr beliebt und verfügte über einen wachsenden Berg an Wahlkampfgeldern – ganz zu schweigen von der Aussicht, dass sie als erste US-Präsidentin Geschichte schreiben würde.

Es gab noch einen weiteren wichtigen Faktor: Für Biden zeigte sich immer deutlicher, dass Obama Hillary Clinton als seine natürliche Nachfolgerin ansah. Bis dahin hatte es nur subtile Anzeichen gegeben. Während eines Routine-Interviews in der CBS-Sendung This Morning hatten Biden und Obama 2014 nebeneinandergesessen, als der Reporter Major Garrett nach der Präsidentschaftswahl 2016 fragte. Obama lobte Biden überschwänglich als »großartigen Partner in allem, was ich tue«. Dann begann er, über jemand anderen zu sprechen: »Ich vermute, es wird noch andere potenzielle Kandidaten für 2016 geben, die großartige Freunde und Verbündete waren. Wir haben eine außerordentliche Außenministerin, die uns, mir und Joe, hervorragende Dienste leistet.« Biden schaute kurz weg und dann wieder mit gezwungenem Lächeln zum Präsidenten. Es war keine Stellungnahme für Hillary Clinton. Es war gar nichts – es sei denn, man wollte es so verstehen.

Wenn sie unter sich waren, sprach sich Obama »subtil dagegen aus – aus diversen Gründen«, schrieb Biden später. Ein harter interner Konkurrenzkampf würde die öffentliche Aufmerksamkeit im letzten Jahr ihrer Amtszeit von der Arbeit der Regierung ablenken. Zudem barg eine Kandidatur die Gefahr, die Partei in Flügel zu spalten, was einem republikanischen Gegner in die Hände spielen würde. Letztendlich, schrieb Biden leicht irritiert, war Obama »überzeugt, dass ich Hillary nicht schlagen könne«. Er fragte sich, ob Obama ihr bereits seine Unterstützung zugesagt hatte, aber er wollte nicht, dass es zwischen ihnen stünde. »Ich habe es verstanden und nie Einwände dagegen erhoben«, schrieb er. »Hier ging es um Baracks Vermächtnis, und ein beträchtlicher Teil dieses Vermächtnisses war noch nicht in Stein gemeißelt.«

Bidens Berater sahen es völlig anders. Sie führten Umfragen an, in denen Biden in der Wählergunst besser abschnitt als viele Kandidaten beider Parteien, einschließlich der beiden potenziellen republikanischen Spitzenkandidaten Jeb Bush und Marco Rubio. In New Hampshire lag Biden zwar weit hinter Hillary Clinton, aber in Schlüsselstaaten wie Florida, Ohio und Pennsylvania lag er vor ihr. Und bei Charaktereigenschaften wie Aufrichtigkeit und Empathie erzielte er hohe Werte. Bernie Sanders' überraschende Anfangserfolge deuteten darauf hin, dass Bidens Äußerungen zur Einkommensungleichheit und zur Wiederbelebung der Gewerkschaften Unterstützung finden würden, obgleich er schnell würde handeln müssen, um dieses Terrain für sich zu beanspruchen.

Im Herbst 2015 trauerte Biden noch immer um seinen Sohn und rang mit sich, ob er kandidieren sollte. Er hatte keine Wahlkampfspenden gesammelt, keine Mitarbeiter engagiert und in den Bundesstaaten keine Organisation aufgebaut. Bei einem Treffen mit seiner Familie und Beratern bemerkte Donilon den schmerzlichen Ausdruck in seiner Miene und sagte schließlich: »Ich denke nicht, dass du es tun solltest.« Donilon hatte zu den eifrigsten Befürwortern einer Kandidatur gehört. »Ich glaube, er hätte gewinnen können«, sagte er mir später. »An dem Abend in der Residenz des Vizepräsidenten habe ich ihn angesehen, und er wirkte auf mich wie von Schmerz erfüllt. Er konnte nicht antreten.«

Am nächsten Tag, am 21. Oktober 2015, verkündete Biden im Rosengarten des Weißen Hauses mit Jill und Obama an seiner Seite, dass er nicht für das Präsidentenamt kandidieren würde. Er versuchte, sich bestimmt zu geben, aber seine ambivalente Haltung war unverkennbar. »Ich werde zwar kein Kandidat sein, aber ich werde auch nicht schweigen«, sagte er. »Ich habe vor, mich laut und energisch zu Wort zu melden, um so weit, wie ich kann, Einfluss darauf zu nehmen, wo wir als Partei stehen und welche Richtung wir als Nation einschlagen müssen.« Er hatte nur ein paar Notizen für seine Ansprache. Nach seinen Maßstäben sprach er langsam und geduldig. Seine Äußerungen richteten sich nicht nur an die Öffentlichkeit, sondern auch an seine Kollegen in Washington. Er beschwor sie, »die spaltende Parteipolitik zu beenden, die unser Land zerreißt«. Und er warnte: »Vier weitere Jahre dieser offenen Kämpfe sind möglicherweise mehr, als unser Land aushalten kann.«

Es war anscheinend das Ende eines Traums, der fünfzig Jahre zurückreichte bis zu dem Tag, als er sich als Jugendlicher gegenüber Neilias Mutter gebrüstet hatte, er werde eines Tages Präsident werden. Er hatte seinen letzten Wahlkampf geführt, zumindest schien es so. Aber Bidens Leben hatte so oft kaum vorhersehbare Wendungen genommen, und die nächste sollte bald eintreten.