7. Kampf um die Seele

Im Sommer 2017 hatte Biden sich praktisch in den Ruhestand zurückgezogen, engagierte sich für die Krebsforschung und erzählte jedem, der es hören wollte, dass er Trump hätte schlagen können.

Nachdem im August White-Supremacy-Anhänger mit Fackeln durch Charlottesville, Virginia, gezogen waren, hörte Biden, wie Trump beifällig von »sehr feinen Leuten auf beiden Seiten« sprach. »Ich dachte, mein Gott, dieser Kerl ist noch viel schlimmer, als ich geglaubt hatte«, erzählte er mir. Er las das Buch Wie Demokratien sterben der beiden Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt und fand in den Schlagzeilen Belege für ihre Thesen: »Sehen Sie sich an, was passiert. Sehen Sie sich an, was gesagt wird. Nicht nur von ihm, sondern auch von seinen Anhängern und manchen seiner gewählten Kollegen.« Biden glaubte, dass Trump mit seinem Verhalten eine angestaute Wut anzapfte: »Es ist nicht einfach durch Trump passiert. Ich bin nicht einmal sicher, ob Trump es begreift.«

Viele von Bidens KonkurrentInnen bei den Vorwahlen – vor allem Bernie Sanders und Elizabeth Warren – traten in ihrem Wahlkampf offen für progressive Ziele ein: einen Green New Deal, Medicare for All (eine allgemeine gesetzliche Krankenversicherung), Abschaffung von Studiengebühren an staatlichen Hochschulen, Entkriminalisierung der Migration. Sie fanden weithin Unterstützung, vor allem unter jungen Leuten. Millennials und die Angehörigen der Generation Z sind auf dem besten Weg, bis zum Ende dieses Jahrzehnts die Mehrheit der amerikanischen Wahlberechtigten zu stellen. Im Jahr 2018 wurden zwanzig Millennials in den Kongress gewählt, darunter Alexandria Ocasio-Cortez, eine Unterstützerin von Sanders und demokratische Sozialistin, die einen einflussreichen gemäßigten Demokraten in der Bronx unangenehm überraschte.

Aber Biden war überzeugt, dass seine KollegInnen eine wichtige Lektion der Zwischenwahlen übersehen hatten: Im Repräsentantenhaus waren dreiundvierzig Sitze von Republikanern an Demokraten übergegangen, da manche ältere, gemäßigte Wähler Trumps Partei den Rücken gekehrt hatten. »Wir haben nicht gewonnen, weil wir den Gegner angegriffen haben, sondern weil wir die Probleme aufgegriffen haben, die dem zugrunde liegen, was dieser Gegner vertritt«, erklärte er mir. »Sie machten Wahlkampf gegen Obamacare, und plötzlich hörte man sie behaupten: ›Ich habe nicht gesagt, dass ich für eine Abschaffung bin.‹« Laut Samuel Popkin, einem altgedienten Meinungsforscher und Autor des Buches Crackup, das sich mit den Spaltungen innerhalb der Republikanischen Partei befasst, hatte Biden bei manchen unzufriedenen Trump-Wählern durchaus eine Chance. »In der Landwirtschaft gibt es annähernd die höchste Zahl von Insolvenzen seit dreißig Jahren«, sagte Popkin. Trump flog 2018 nach Wisconsin und versprach das »achte Weltwunder«: eine Fabrik des taiwanesischen Elektronikunternehmens Foxconn. »Foxconn hat in Wisconsin kaum etwas gebaut«, stellte Popkin fest.

Als er seine Kampagne plante, konzentrierte Biden sich auf Reformen, die weit hinter einer Revolution zurückblieben. Statt einer gesetzlichen Krankenversicherung für alle wollte er Obamacare ausweiten, indem er die Altersgrenze für Medicare (die staatliche Krankenversicherung für Senioren) von fünfundsechzig auf sechzig Jahre senkte und eine »freiwillige staatliche Krankenversicherung« einführte – eine Idee, die vor zehn Jahren als radikal galt, im Jahr 2019 jedoch konservativ war. Sein Wahlkampfteam führte Umfragen an, die belegten, dass die Mehrheit der potenziellen demokratischen Wählerinnen und Wähler bei den Vorwahlen sich als gemäßigt oder konservativ einstufte und mehr als die Hälfte über fünfzig Jahre alt waren. »Die junge Linke ist wichtig«, erklärte mir Anita Dunn, eine führende Beraterin Bidens. »Aber das gilt ebenso für ältere Weiße über fünfundsechzig Jahren, denn sie haben Donald Trump bei den letzten Wahlen zum Sieg verholfen.«

Bidens Kandidatur setzte auf die Annahme, dass das Pendel der Geschichte, wenn es von Trump wegschwingen sollte, eher in Richtung Erfahrung und behutsamer Reformen als in Richtung Jugend und progressiven Eifers ausschlagen würde. Er wollte die Amerikanerinnen und Amerikaner überzeugen, dass seine Erfahrungen mit einer Mittelschichtexistenz sowie persönlichen Verlusten und Leiden seine Defizite überwogen. Auf eine äußerst seltsame Weise hatte Trump Biden bereits seine potenzielle Stärke als Kandidat attestiert. Seit 2018 hatten Konservative wie Trumps persönlicher Anwalt Rudolph Giuliani die Aufmerksamkeit der Medien auf eine »mutmaßliche Ukraine-Verschwörung« gelenkt und Biden vorgeworfen, er habe für die Entlassung des ukrainischen Generalstaatsanwalts gesorgt, um Ermittlungen gegen Hunter und das Gasunternehmen Burisma zu verhindern. Im Juli 2019 bat Trump den Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, in einem mittlerweile berühmt gewordenen Telefonat, »uns einen Gefallen zu tun« und gegen die Bidens zu ermitteln. Nachdem der Inhalt dieses Telefongesprächs durch einen Whistleblower bekannt wurde, leitete das Repräsentantenhaus im Dezember ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump ein – damit war er der dritte Präsident der amerikanischen Geschichte, gegen den ein solches Verfahren durchgeführt wurde. Die republikanische Mehrheit im Senat sprach Trump, der sein Verhalten als »perfekt« bezeichnete, von den erhobenen Vorwürfen frei. Biden seinerseits war fassungslos über diese Episode, die, wie er hoffte, sowohl Trumps Schwäche als auch seine eigenen Chancen erkennen ließ. »Er war zu dem Schluss gekommen, dass er mich nicht als Gegenkandidaten haben wollte«, erklärte er mir.

Im Frühjahr 2019, kurz bevor Biden seine Kandidatur bekanntgab, hatte er einen heftigen Zusammenstoß mit seiner Vergangenheit – und der zwischen den Generationen wachsenden Kluft in den jeweiligen Empfindlichkeiten. Lucy Flores, eine ehemalige Parlamentsabgeordnete im Bundesstaat Nevada, schilderte in einem Artikel eine Begegnung mit Biden bei einer Wahlkampfveranstaltung 2014 in Las Vegas. Dabei habe er an ihrem Haar gerochen, sie an den Schultern gepackt und ihr einen »dicken, langen Kuss auf den Hinterkopf« gegeben, schrieb sie. Seit Jahren hatten Journalisten und Journalistinnen über Bidens ungebetene Zuneigungsbekundungen geschrieben – dass er seine Stirn an die von Frauen (und gelegentlich Männern) legte, seine Nase an ihren rieb, Leuten etwas ins Ohr flüsterte. Flores, eine Demokratin, schilderte, dass sie »Wut« und »Ärger« empfand. Allerdings hielt sie Bidens Verhalten nicht für sexuell – und unterschied es von den Vorwürfen sexueller Übergriffe und Verfehlungen, die mehr als zwanzig Frauen in den letzten Jahren gegen Trump erhoben haben. (Trump hat diese Vorwürfe zurückgewiesen.) Flores fand jedoch, Bidens Art zeuge von »einem Mangel an Empathie für die Frauen und jungen Mädchen, in deren persönliche Distanzzone er eindringt«. Biden, der stolz darauf war, dass er bei unmittelbaren Wählerkontakten gern auf Tuchfühlung zu Menschen ging, erwiderte in einer Erklärung: »Nicht ein einziges Mal – nie – hatte ich das Gefühl, mich unangemessen zu verhalten. Wenn behauptet wird, ich hätte es getan, werde ich respektvoll zuhören. Aber es war nie meine Absicht.«

Mindestens sechs Frauen brachten ähnliche Anschuldigungen vor. Andere verteidigten ihn jedoch und vertraten die Ansicht, es wäre ein Akt von irregeleitetem moralischem Absolutismus, Biden von einer Kandidatur gegen Trump auszuschließen, der sich damit brüstete, Frauen zwischen die Beine zu fassen. In einem Tweet schrieb Biden: »Ich habe gehört, was diese Frauen sagen. Für mich ging es in der Politik immer darum, Beziehungen zu knüpfen, aber ich werde in Zukunft mehr darauf achten, die persönliche Distanzzone zu respektieren.« Genderfragen flammten im Laufe der Wahlkampagne erneut auf, als Tara Reade, eine ehemalige Mitarbeiterin, Biden vorwarf, er habe sie vor siebenundzwanzig Jahren sexuell genötigt. Sie erklärte, er habe sie auf einem Flur im Senatsgebäude gegen eine Wand gedrückt, begrapscht und mit den Fingern penetriert. Biden wies die Anschuldigungen nachdrücklich zurück. »Das ist nie, niemals passiert«, beteuerte er im Fernsehsender MSNBC. Reporter, die Reades Schilderung untersuchten, stießen darin auf Unstimmigkeiten, und der potenzielle Skandal verebbte. Nicht für alle Demokraten war die Sache mit dieser Erklärung aus der Welt. Immerhin wollte Biden der Fahnenträger einer Partei werden, in der aufkommende progressive Kräfte nicht nur sexuellen Missbrauch und Belästigung verurteilten, sondern auch die Machtungleichgewichte, die das Fortbestehen dieser Probleme ermöglichten.

In einem ersten Wahlkampfvideo umriss Biden sein Anliegen als einen »Kampf um die Seele dieser Nation«: »Wenn wir Donald Trump acht Jahre im Weißen Haus zugestehen, wird er den Charakter dieser Nation für immer grundlegend verändern. Wer wir sind. Und ich kann nicht abseitsstehen und zusehen, wie das passiert.« Einige Stunden nachdem Biden seine Kandidatur angekündigt hatte, wurde er mit neuen Schlagzeilen konfrontiert, als wollten sie die Fülle der Fragen unterstreichen, die man ihm zu seiner Bilanz stellen würde. Diese Schlagzeilen betrafen seinen Umgang mit Anita Hills Vorwürfen der sexuellen Belästigung gegen Clarence Thomas, die 1991 während der Senatsanhörungen zu dessen Nominierung zum Richter am Obersten Gerichtshof bekannt geworden waren. Biden hatte Hill erst kürzlich angerufen und ihr sein Bedauern über seine damalige Haltung ausgedrückt, was sie allerdings nicht zufriedengestellt hatte. »Ich werde erst zufrieden sein, wenn ich weiß, dass es echte Veränderungen, echte Verantwortlichkeit und echten Willen gibt«, erklärte sie einem Reporter.

Biden begann den Nominierungswahlkampf als Favorit, wirkte aber unkonzentriert und aus dem Tritt. Während einer Debatte vermasselte er die Aufforderung, dem Wahlkampfteam unter der Telefonnummer »3 ‌03 ‌30« eine Textnachricht zu senden, und erklärte stattdessen: »Gehen Sie auf Joe 3 ‌03 ‌30«. Statt Spenden brachte dieser Aufruf lediglich einen Abend lang Twitter-Memes wie »Wie geht's euch, Kids?«. In Debatten setzte er sich kaum zur Wehr und beendete seine Redebeiträge manchmal mit der unglücklichen Formulierung: »Meine Zeit ist abgelaufen.« Spender kehrten ihm den Rücken. Bis Februar gab Bidens Wahlkampagne in einem Monat weniger Geld aus als sein Rivale Michael Bloomberg an einem durchschnittlichen Tag. Kate Bedingfield, die Kommunikationschefin seines Wahlkampfteams, hatte Mühe, die Aufmerksamkeit auf Bidens politische Vorstellungen zu lenken. »Ich sage das Wort ›machbar‹, und es wird mit der Begründung belächelt: ›Das ist nicht ehrgeizig‹«, erzählte sie mir.

Zuweilen wirkte Biden, als reiche sein fehlender Bezug zum Zeitgeist weit über seine wackeligen Debattenauftritte und sein Desinteresse an sozialen Medien hinaus. Im Juni 2019 tischte er bei einer Fundraising-Veranstaltung eine Anekdote auf, die er seit Jahren über seine Zusammenarbeit mit den Senatoren Herman Talmadge aus Georgia und James Eastland aus Mississippi, beide Befürworter der Segregation, erzählte: »Es gab kaum etwas, worin wir einer Meinung waren. Aber wir brachten etwas zustande. Wir brachten es fertig. Wenn du dir heute die andere Seite anschaust, dann bist du der Feind.« Er fügte hinzu, Eastland »nannte mich nie ›Junge‹. Er sagte immer ›Sohn‹ zu mir.«

Einer seiner Rivalen, Senator Cory Booker aus New Jersey, verurteilte diese Äußerung umgehend: »Man macht keine Witze darüber, Schwarze Männer ›Junge‹ zu nennen.« Wie Booker mir erklärte, ärgerte ihn nicht, dass Biden mit Befürwortern der Segregation zusammengearbeitet hatte. »Ich arbeite über die Parteigrenzen hinweg mit Leuten zusammen, die abscheuliche Ansichten haben und Denkmäler der Konföderierten verteidigen.« Das Problem sei, sich gedankenlos damit zu brüsten. »Ich dachte, dass Joe Biden in dem Augenblick nicht begriffen hat, wie demütigend es für Leute wie meinen Vater war, wenn sie bei der Arbeit mit ›Junge‹ angesprochen wurden.« Er bewunderte Biden, was es freilich nur noch schlimmer machte: »Es war einer dieser Momente, den viele Schwarze Menschen erleben, wo du einfach denkst: ›Du?‹« Booker verließ gerade ein CNN-Studio, als Biden anrief, um sich zu entschuldigen. »Er war bereit, mir ein hohes Maß an Verletzlichkeit zu zeigen und seine Unvollkommenheiten auf den Tisch zu legen«, erinnerte sich Booker. »Ich bin schon lange in der Politik – ich weiß, wann ich massiv bearbeitet werde. Ich habe gesehen, dass er sich verändert hat und bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen.«

Bei den Vorwahlen landete Biden in Iowa abgeschlagen auf dem vierten und in New Hampshire auf dem fünften Platz. Sein Wahlkampfteam überschlug schon, wie viel Geld es brauchen würde, um die Mitarbeiter zu bezahlen, falls es den Wahlkampf einstellen sollte. Biden nahm eine Umbesetzung in seinem Stab vor, machte Anita Dunn zur Chefin des Wahlkampfteams und versprach öffentlich, die erste Schwarze Frau als Richterin in den Obersten Gerichtshof zu bringen. Seine Umfragewerte rührten sich kaum vom Fleck. Wenn es überhaupt noch eine Hoffnung gab, im Rennen zu bleiben, dann beruhte sie auf South Carolina, wo Schwarze Wähler etwa sechzig Prozent der Wahlberechtigten bei den Vorwahlen der Demokraten stellen.

Dafür war niemand wichtiger als sein alter Freund James E. Clyburn, der hochrangigste afroamerikanische Kongressabgeordnete und Grande der Demokratischen Partei von South Carolina. Während der Bürgerrechtsbewegung gehörte er zusammen mit John Lewis zu den ersten Führungsspitzen des Student Nonviolent Coordinating Committee. Clyburn vertrat einige ausgesprochen progressive Positionen zur Armutsbekämpfung und zum Ausbau kommunaler Gesundheitszentren, war aber davon überzeugt, dass die Partei an der Mitte festhalten sollte. Diskutierte er mit jungen Leuten über Politik, führte er gern an, dass das Pendel von rechts nach links und wieder zurück schwingt, dabei aber »immer die Mitte passiert«. Wenn jüngere Schwarze Aktivisten mit seinem Kurs der Mitte unzufrieden waren – etwa als er im Juni 2020 twitterte, »Nein zur Streichung von Finanzmitteln für die Polizei« –, verwies Clyburn gern auf eine Sammlung von Hunderten Schildkrötenfiguren in seinem Büro, die für seinen Glauben an langsamen, aber stetigen Fortschritt standen.

Nur knapp eine Woche vor den Vorwahlen besuchten Clyburn und Biden einen Empfang an Bord der USS Yorktown, eines ausgemusterten Flugzeugträgers, der als Museumsschiff im Hafen von Charleston liegt. Biden war hinter Sanders auf den zweiten Platz vorgerückt. Clyburn zog sich mit Biden in einen Raum zurück, in dem sie ungestört waren, und riet ihm unverblümt, er müsse den Ton verschärfen. »Deine Reden sind senatorenhaft«, sagte er ihm. »So gewinnst du keine Wahl.« Er riet ihm: »Du musst so an die Sache rangehen wie mein Vater, der fundamentalistische Prediger, es Sonntagmorgens tat. Er führte immer Dreiergruppen an. Hier geht es nicht um Vater, Sohn und den Heiligen Geist. Hier geht es um ›dich, deine Familie und deine Gemeinschaft‹.«

In seiner Eindringlichkeit spiegelte sich ein entschiedener Pragmatismus wider. In New York oder Silicon Valley mochte Biden niemanden begeistern, aber in South Carolina, wo ein White-Supremacy-Anhänger unmittelbar nach Trumps Bekanntgabe seiner Kandidatur Schwarze Mitglieder einer Pfarrgemeinde ermordet hatte, wog die gespenstische Aussicht auf vier weitere Jahre Trump schwerer als jeder inhaltliche politische Disput. Am 26. Februar 2020 hielt Clyburn eine emotionale Rede zur Unterstützung Bidens: »Ich habe Angst um meine Töchter und ihre Zukunft und um ihre Kinder und deren Zukunft.« Mit Biden an seiner Seite erklärte er: »Wir kennen Joe. Aber vor allem kennt Joe uns.«

Biden gewann die Vorwahlen in South Carolina mit einem Vorsprung von 29 Prozentpunkten. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit zogen seine Rivalen ihre Kandidatur zurück und unterstützten ihn. Die Beteiligung an den Vorwahlen stieg enorm (um nahezu fünfzig Prozent in Texas und um hundert Prozent in Virginia), auch bei nicht parteigebundenen Wählern mit Hochschulabschluss, die in den Vororten lebten, und bei Republikanern, die früher Kandidaten wie Mitt Romney unterstützt hatten. Am Super Tuesday gewann Biden in zehn von vierzehn Bundesstaaten. Sanders hielt seine Kandidatur noch etwas länger aufrecht, aber das Rennen war praktisch entschieden.

Innerhalb von nur drei Tagen war Biden, der schon in Vergessenheit zu geraten drohte, zum Sieg gestürmt. Die Wende kam so abrupt, dass sie Verblüffung und Misstrauen weckte, besonders unter jungen Beobachtern, die davon ausgegangen waren, dass seine Kandidatur zum Scheitern verurteilt sei. Selbst als er in den Umfragen vorn lag, hatten sie seinen Wahlkampf monatelang anhand von in den sozialen Medien beliebten Videoclips seiner Patzer und von Artikeln über seine farblosen Bekenntnisse zur politischen Mitte verfolgt. Rechte wie linke Gegner hatten Ausschnitte verbreitet, die einen sich verhaspelnden Biden zeigten, um ihn als abgehalfterten senilen Alten hinzustellen. (Datenanalysen zeigten, dass es Jill Stein, der ehemaligen Kandidatin der Green Party, die über eine MillionTwitter-Follower hatte, zeitweise gelang, den Hashtag #BidenCognitiveDecline trenden zu lassen.) Selbst Beobachter, die keinen dieser Angriffe in den sozialen Medien mitbekamen, hatten oft den Eindruck, dass Biden von spritzigeren, redegewandteren jüngeren Rivalen und Rivalinnen wie Pete Buttigieg, Kamala Harris und Amy Klobuchar ausgestochen wurde.

Diese Kritik war nie völlig unbegründet. Schließlich war Biden tatsächlich mehr als doppelt so alt wie Buttigieg und zu Beginn des Wahlkampfs nach drei Jahren im Privatleben politisch außer Form. Aber in der breiten Öffentlichkeit hatte diese Kritik an Biden nie sonderliches Gewicht. Menschen, die ihn seit Jahren hatten reden hören, fanden, dass er sich keineswegs mehr verhaspelte als früher. Linksgerichtete jüngere Journalisten konnte er zwar nicht beeindrucken, aber sie waren auch nicht die Kohorte, die demokratische Präsidentschaftskandidaten krönte.

Aus rein politischer Sicht verdankte Biden seinen Erfolg nicht nur der Unterstützung Clyburns, sondern auch der Elizabeth Warrens, die Michael Bloomberg bald aus dem Rennen warf, indem sie ihm seine abfälligen Bemerkungen über Frauen vorhielt. Bloomberg hatte sich erst spät zur Kandidatur mit einem bunten Angebot an die politische Mitte entschlossen, aber nie einen Weg gefunden, mit der Kritik von Warren und anderen umzugehen, die etwas dagegen hatten, dass ein Milliardär Unsummen investierte, um den Nominierungsprozess auf den Kopf zu stellen. Ungeachtet dieser Faktoren erklärte Ron Klain, es sei falsch, die Wende zu Bidens Gunsten als Zufallstreffer zu deuten – »als ob er das alles nur mit Glück erreicht hätte«. Wenn Biden es ablehnte, seine Debattengegner schonungslos zu zerreißen, sei das »Strategie«. »Wenn der einzige Weg, die Nominierung zu bekommen, darin bestünde, all die anderen zu vernichten, würde er eine Partei erben, die ohnehin nicht gewinnen würde.«

Nun machte es sich für Biden bezahlt, dass er jahrelang gute Beziehungen zu anderen prominenten Demokratinnen und Demokraten gepflegt hatte. Ich fragte Amy Klobuchar, warum sie so rasch ihre Unterstützung für Biden bekannt gegeben habe. Sie hatten immer wieder miteinander zu tun gehabt, und Klobuchar erinnerte sich an einige besondere Momente: wie Biden sie beglückwünscht hatte, nachdem sie – entsprechend nervös – in ihrem ersten Jahr im Senat eine Rede gehalten hatte; wie er einen Freund von ihr angerufen hatte, um ihm nach einem Todesfall in der Familie zu kondolieren. »Es gibt sehr viele Leute, die Joe Biden sehr gernhaben und ihn gut kennen«, sagte Klobuchar zu mir. »Wir hatten den Auftrag, Donald Trump zu schlagen – wie konnte ich also die Macht und Unterstützung nutzen, die ich genoss? Anstatt noch eine weitere Debatte zu verplempern, schlug ich mich entschlossen auf seine Seite. Jemand fragte mich: ›Hast du ihm irgendwelche Zugeständnisse abgerungen?‹, und ich sagte nur: ›Willst du mich auf den Arm nehmen? Natürlich nicht!‹«

Nach einer weniger hochtrabenden Lesart der Vorwahlen profitierte Biden von der Angst sowohl vor Donald Trump als auch vor Bernie Sanders. Sobald klar wurde, dass Biden nur noch einen Rivalen hatte, war die Aussicht auf eine Nominierung von Sanders den Gemäßigten – zu denen einige andere Kandidaten, ältere Schwarze Wähler in Bundesstaaten wie South Carolina und Großspender gehörten – derart unsympathisch, dass sie sich durchrangen, Biden zu unterstützen. Er siegte aber auch, weil er jegliches Lagerdenken ablehnte. Selbst wenn seine Rivalen behaupteten, er sei zu alt, zu konziliant und durch seine Bilanz zu vorbelastet, widerstand er der Versuchung, in seinen Wahlwerbespots zum Gegenangriff überzugehen. Seine Berater waren überzeugt, dass Biden sich gegen die »Zweifel der chattering class«, also der linksliberalen Intellektuellen und Medienleute, durchsetzen könnte, wie seine Kommunikationschefin Kate Bedingfield es formulierte: »Wir werden nicht den ganzen Tag mit dem Versuch zubringen, den neuesten Twitter-Krieg zu gewinnen.«

Am 1. Juni 2020, eine Woche nach dem Mord an George Floyd, ging ich in Washington zu einer Demonstration vor dem Weißen Haus. Nach einigen Nächten voller Unruhen hatte sich die Lage etwas beruhigt, und aus den Protesten war ein Sit-in geworden. Demonstranten wechselten sich an einem Megafon ab.

Unter den selbstgemachten Plakaten fiel mir ein erstaunlich gut gemaltes Porträt von Floyd auf, das Kandyce Baker in Händen hielt. Die einunddreißigjährige Verwaltungsangestellte einer Universität war aus Frederick in Maryland hergekommen. »Ich musste etwas tun«, erzählte sie mir. Sie hatte der Tod von Ahmaud Arbery zutiefst erschüttert, der im Februar von drei weißen Männern verfolgt und erschossen worden war, als er beim Joggen durch einen Vorort im Süden Georgias lief. Als Marathonläuferin und Schwarze Frau passierte Baker häufig Viertel, in denen sie sich nicht willkommen fühlte. Ich fragte sie nach der Präsidentschaftswahl. »Leider werde ich Biden wählen«, antwortete sie. »Mein Kandidat war Bernie Sanders. Ich habe kein Vertrauen, dass die Probleme Schwarzer Menschen für Joe Biden im Vordergrund stehen werden. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Probleme der Millennials für ihn im Vordergrund stehen werden, wenn es um Studienkredite geht. Daher bin ich etwas besorgt.«

Baker würde zur Wahl gehen, aber ihre Besorgnis rückte das Risiko ins Licht, dass andere potenzielle junge Wähler möglicherweise zu Hause bleiben würden. Für Biden könnte die Ablehnung seitens junger afro- und lateinamerikanischer Wähler ein Desaster bedeuten. Als Hillary Clinton 2016 kandidierte, ging die Wahlbeteiligung der schwarzen Bevölkerung erstmals in zwanzig Jahren zurück, und dieser Rückgang erwies sich mancherorts wie in Milwaukee als entscheidend. »Ich werde ihn wählen, weil ich Trump nicht im Amt lassen kann«, sagte Baker. »Das ist buchstäblich der einzige Grund.«

Einige Stunden nach meiner Begegnung mit Baker wimmelte es auf der Kreuzung, auf der wir uns unterhalten hatten, von Polizisten, die Knüppel schwangen und Tränengas einsetzten. Sie waren da, um die Demonstranten aus dem Weg zu räumen, damit Trump vom Weißen Haus über die Straße gehen und mit einer Bibel in der Hand vor der St. John's Episcopal Church für Fotos posieren konnte. Dieser Aufzug wurde so weithin kritisiert, dass General Mark Milley, der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, sich später öffentlich für seine Teilnahme entschuldigte. Anscheinend trug der Vorfall dazu bei, die Stimmung im Land abrupt kippen zu lassen. Innerhalb von Tagen änderte die National Football League ihre Haltung zu Spielern, die während der Nationalhymne knieten. Bei Buchhändlern im ganzen Land gingen unzählige Bestellungen von Büchern über Rassismus und die Geschichte Schwarzer Menschen ein. Mississippi entfernte das Symbol der Konföderierten von seiner Flagge.

Biden nutzte den Moment. Am 4. Juli drängte er die Zuhörer in einer Rede, »den systemischen Rassismus« im amerikanischen Leben »an der Wurzel zu packen«. Er schloss sich den Forderungen an, der Polizei Würgegriffe zu verbieten, bundesweite Richtlinien für den Gewalteinsatz festzulegen und die »bedingte Immunität« einzuschränken, die Staatsbeamte vor Bürgerrechtsklagen auf Bundesebene schützt. Bidens Haltung begeisterte viele Progressive, empörte aber manche Polizisten. Jahrelang hatte er gute Beziehungen zur Lobbygruppe National Association of Police Organizations unterhalten, aber nun beklagte ihr Geschäftsführer Bill Johnson, Biden sei »früher einmal ein verlässlicher guter Freund« gewesen.

Biden machte in den Umfragen einen Sprung nach vorn, hütete sich aber – wie immer –, nicht zu weit nach links zu driften. Solange Trump mit seinem Wahlkampf, den viele als offen rassistisch wahrnahmen, die liberalen Gemüter erhitzte, würde Biden es nicht riskieren, moderate Wähler abzuschrecken. Schon jetzt warb Trump mit einem Wahlkampfspot, in dem ein Telefon in einem leeren, dunklen Polizeirevier klingelte. Eine Stimme sagte: »Wenn Sie anrufen, um eine Vergewaltigung zu melden, drücken Sie die eins.« Der Spot endete mit Trumps neuem Slogan: »In Joe Bidens Amerika werden Sie nicht sicher sein.«

Wie die meisten etablierten Demokraten lehnte auch Biden es ab, der Polizei »die Mittel zu streichen«, ein Sammelbegriff für eine ganze Palette von Vorschlägen, die von der Abschaffung von Polizeidezernaten bis zur Umschichtung von Geldern in psychologische und psychiatrische Gesundheitsversorgung, Bildungswesen und Sozialdienste reichten. Allerdings fand er, die Polizei solle nur Bundesmittel erhalten, wenn sie »Grundstandards des Anstands und der Ehrenhaftigkeit« erfülle, und er schlug vor, dreihundert Millionen Dollar zu investieren, um die jahrzehntealte Idee des »Community Policing« wiederzubeleben, bei der vor allem die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und den Gemeinden vor Ort im Mittelpunkt steht. David Kennedy, ein Professor am John Jay College of Criminal Justice, hoffte jedoch, wie er mir sagte, Biden werde einen neueren Ansatz der Gewaltprävention verfolgen, der sich nicht auf Gemeinden konzentriert, sondern auf jene Personen, die ein besonders hohes Risiko aufwiesen, in bewaffnete Auseinandersetzungen zu geraten. Bundesweit umgesetzt, könne ein solches Programm »die Waffengewalt, die verheerend für amerikanische Minderheitengemeinschaften ist, halbieren, hätte allerdings nicht die nachteiligen Auswirkungen der herkömmlichen Polizeiarbeit«.

Als ich mit Biden über die Aussichten auf einen echten Wandel – bei Haftstrafen, Polizeiarbeit und tief verwurzeltem Rassismus – sprach, zog er einen Vergleich zur Bürgerrechtsbewegung und dem für seine Grausamkeit berühmt-berüchtigten Polizeichef von Birmingham, Alabama, Bull Connor. »Als ich noch ein Schüler an der High School war, hetzte Bull Connor seine Hunde mit Feuerwehrschläuchen auf ältere Schwarze Frauen, die im Sonntagskleid zur Kirche gingen, und auf kleine Kinder und riss ihnen buchstäblich die Haut vom Leib. Er dachte, er würde der Bürgerrechtsbewegung damit einen Pfahl ins Herz treiben.« Stattdessen stärkten die Bilder der Gewalt nur die Unterstützung für Martin Luther King Jr. und zwangen weiße Politiker in Washington, Maßnahmen zu ergreifen, die schließlich zum Wahlrechtsgesetz von 1965 führten. Nach Bidens Ansicht erleben weiße Menschen in Amerika derzeit ein ähnliches Erwachen, ausgelöst durch die entsetzlichen, von Handys eingefangenen Bilder der Polizeigewalt. Er hielt sein Handy hoch und sagte: »Dieses Mobiltelefon hat vieles verändert. Zu sehen, wie Floyds Gesicht auf den Boden gedrückt und seine Nase zerquetscht wurde, ich meine, es war so plastisch, dass man denkt: ›Meine Güte. Das passiert heute noch immer?‹«

Ein solches aufkeimendes Erwachen sah er auch in der Covid-19-Krise. »Menschen, die zu Hause bleiben konnten, merkten: Ich kann nur in den Drugstore und wieder hinaus kommen, wenn jemand die Regale auffüllt. Das gilt auch im Lebensmittelladen. Oder für den Postboten. Oder die Person, die dafür sorgt, dass ich die Lebensmittel bekomme. Oder die Rettungskräfte. Und sie schauen nach draußen, und sie sehen es.« Als das Virus sich ausbreitete, wurden die Auswirkungen persönlich spürbar. »Sie kennen jemanden, der sein Leben verloren hat. Sie kennen jemanden, der Covid-19 hatte. Denn in den ersten beiden Monaten war es irgendwie so: ›Na ja, schon, es ist furchtbar, aber ich kenne keinen.‹«

Das turbulente Jahr 2020 brachte nach Bidens Auskunft einen tief in seinem Bewusstsein verankerten Mythos ins Wanken. Jahrelang hatte er eine Anekdote über den Morgen von Obamas Amtseinführung erzählt: »Ich rief meine beiden Söhne und meine Tochter an und sagte: ›Kinder, sagt mir nicht, dass Dinge sich nicht ändern können.‹« Er beugte sich in seinem Sessel vor und erzählte mir, dass Trump den Fehler in dieser Geschichte aufgedeckt habe. »Ich muss beschämt zugeben, dass ich dachte, man könnte den Hass besiegen. Das kann man nicht. Er versteckt sich nur. Er verkriecht sich unter den Felsen, und wenn jemand mit Autorität ihm Nahrung gibt, kommt er brüllend wieder heraus. Und mir ist klar geworden, dass die Äußerungen eines Präsidenten, selbst eines lausigen Präsidenten, eine Rolle spielen. Sie können in den Krieg führen, sie können Frieden bringen, sie können die Börsenkurse steigen und fallen lassen. Aber sie können auch dem Hass Nahrung geben.«

Im Verlauf eines Präsidentschaftswahlkampfs tendiert ein Demokrat gewöhnlich während der Vorwahlen nach links und rückt während der allgemeinen Wahlen nach rechts. Bei Biden war es umgekehrt. Die Ergebnisse der Wählerbefragungen waren eine deutliche Warnung: Selbst in Bundesstaaten, in denen er gewonnen hatte, bevorzugten viele Wähler bei Themen wie Wirtschaft und Gesundheitswesen die ehrgeizigeren Pläne von Sanders und Warren.

Innerhalb von Wochen griff Biden Warrens Vorhaben auf, die Verschuldung von Studenten zu verringern und das Insolvenzsystem umzukrempeln – was bedeutete, Teile eines Gesetzes aufzuheben, das er selbst mit verabschiedet hatte. Er übernahm eine begrenzte Version von Sanders' Plan, die Studiengebühren an Hochschulen abzuschaffen, und gab seinen Widerstand gegen die Finanzierung von Abtreibungen mit Bundesmitteln auf. Nahezu genau ein Jahr nachdem er verunsicherten moderaten Wählern versprochen hatte, dass sich »nichts grundlegend ändern« werde, erklärte er nun, Amerika brauche »einige revolutionäre institutionelle Veränderungen«.

Als klar wurde, dass Biden sich die Nominierung sichern würde, erklärte Sanders seine Unterstützung – und zwar wesentlich schneller, als er es 2016 bei Hillary Clinton getan hatte. »Ich habe zu Joe Biden ein besseres Verhältnis, als ich es zu Hillary Clinton hatte«, erklärte er freimütig. Um ihre Wahlprogramme zusammenzuführen, bildeten sie Arbeitsgruppen zu Strafrecht, Wirtschaft, Bildung, Gesundheitsversorgung, Einwanderung und Klimawandel. Diese Arbeitsgruppen waren ein wichtiger Test, ob der linke Flügel und die Mitte der Partei miteinander auskommen konnten. Beide Seiten waren vorsichtig. Biden erzählte mir: »Ich musste sicher sein, dass Bernie es ernst meinte, dass er daraus keinen ideologischen Dschihad machen würde. Ich sagte: ›Bernie, wenn du mich in diesen Arbeitsgruppen dazu bringen willst, dass ich für Medicare für alle eintrete … darauf wird es nicht hinauslaufen.‹ Aber ich räumte ein: ›Ich bin offen. Ich höre dich, ich höre dir zu.‹«

Biden rekrutierte Alexandria Ocasio-Cortez, damit sie zusammen mit dem ehemaligen Außenminister John Kerry die Klima-Arbeitsgruppe leitete. Zu den weiteren Mitgliedern gehörte auch Varshini Prakash vom Sunrise Movement, die Bidens Klimapläne während der Vorwahlen als ungenügend eingestuft hatte. Beim ersten Arbeitstreffen bat Kerry Prakash, den Anfang zu machen. Der Sanders-Flügel wollte bis 2030 erreichen, dass ausschließlich saubere Energie verwendet würde; sie einigten sich schließlich auf 2035. Der größte ungelöste Streitpunkt betraf das Fracking. Biden ist gegen die Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen auf bundeseigenen Ländereien und Gewässern, fordert aber im Gegensatz zu Sanders kein völliges Fracking-Verbot. »Es war nicht so, dass ich mit Bernies Green New Deal in der Hand da rausgehen würde, und das habe ich auch nicht erwartet«, erzählte Prakash. »Aber tatsächlich war es viel partnerschaftlicher, als ich gedacht hatte.«

Sean McElwee, ein einflussreicher Aktivist und Mitbegründer des gemeinnützigen Thinktanks Data for Progress, kritisierte Biden zu Beginn seines Wahlkampfs scharf. Aber bis zum Juli änderte er seine Ansicht: »Ich glaube, viele Leute, die auf die Demokratische Partei scheißen, haben nicht viel Zeit damit verbracht, mit Mainstream-Vertretern im Ökosystem der Demokratischen Partei zu sprechen«, erzählte er mir. »In Wirklichkeit ist dieses Ökosystem sehr liberal. Ich finde, die Leute sollten einfach mal einen Schritt zurücktreten und sich ansehen, was Biden gemacht hat. AOC [Alexandria Ocasio-Cortez] mag ich sehr. Sie hat in den Vorwahlen gesagt, sie würde nicht für ihn stimmen und dass sie in einem anderen Land in einer anderen Partei wäre als er. Er hätte darauf reagieren können, indem er sowas sagt wie: ›Fuck you.‹ Stattdessen hat er sowas gesagt wie: ›Wie wär's, wenn du kommst und meine Klimapolitik entwirfst?‹«

An einem Nachmittag im Juli 2020 saß Biden in einer Vorschule in New Castle, Delaware, und bereitete sich auf eine Rede über die Wirtschaft vor. Wegen des Coronavirus waren die Schulen seit Monaten geschlossen, und auf dem Schulhof hatte man die Schaukeln so weit hochgewickelt, dass sie außer Reichweite waren. Drinnen hielt Biden eine Art Wahlkampfveranstaltung ab, die Ähnlichkeit mit einer Szene aus einem avantgardistischen Theaterstück hatte: keine Menschenmassen, kein Bad in der Menge. Aus der Verstärkeranlage sangen Alicia Keys und Beyoncé für ein paar Reporter mit Mundschutzmasken, die über ihren Laptops in weiß markierten Kreisen saßen.

Der wirtschaftliche Shutdown bewirkte ein »Maß an Leid, das schwer in Worte zu fassen ist«, wie Jerome Powell, der Präsident der Federal Reserve, es formuliert hatte. Vierzig Prozent der amerikanischen Geringverdiener, die noch im Februar in einem Beschäftigungsverhältnis gewesen waren, hatten ihre Arbeit im März und Anfang April verloren. Zwölf Jahre nach der Finanzkrise hatte das Virus den von der amerikanischen Konzernwelt propagierten Mythos der Eigenverantwortung einmal mehr als falsch entlarvt. Einige der größten Beträge aus dem Rettungspaket des Kongresses, das für Kleinbetriebe gedacht war, flossen stattdessen in den Finanzsektor. Millionen Dollar an Nothilfe gingen an »Familienbetriebe«, bei denen es sich um private Investmentunternehmen handelte, die das Vermögen von Hedgefonds-Milliardären und anderen reichen Privatpersonen verwalteten.

Biden trat ans Rednerpult und kündigte Investitionen in Höhe von 775 Milliarden US-Dollar in den Pflege- und Betreuungssektor an – Finanzmittel für ein allgemeines Vorschulangebot, häusliche Pflege für Senioren und bezahlte Elternzeit, wie sie in anderen entwickelten Ländern üblich ist. Der Plan richtete sich eindeutig an die Bedürfnisse von Amerikanern, die Mühe hatten, Arbeit und die Betreuung ihrer Kinder und häufig auch ihrer alternden Eltern unter einen Hut zu bringen. »Ich war fünf Jahre lang alleinerziehender Vater«, erzählte Biden den Reportern. »Obwohl ich wesentlich mehr Unterstützung hatte als viele andere, die gegenwärtig schwere Zeiten durchmachen, war es doch hart.« Der Plan sei »ein moralischer und wirtschaftlicher Imperativ«. Finanziert werden sollte er durch die Abschaffung der unter Trump eingeführten Steuervergünstigungen für Immobilieninvestoren. Ai-jen Poo, Direktorin der National Domestic Workers Alliance, die sich für die Interessen von Hausangestellten einsetzt, twitterte zu Bidens Vorschlag, erstmals seit zwanzig Jahren mache ein Präsidentschaftskandidat »Investitionen in den Pflege- und Betreuungssektor zu einer Kernstrategie seiner Wirtschaftsagenda. Nicht zu einer Nebensache, einem Nachsatz oder einem Sparteninteresse.« Ein Sprecher von Trumps Wahlkampfteam sagte als Reaktion auf diese Vorhaben, sie würden »Amerika durch eine sozialistische Politik umkrempeln«.

Die Ausführungen zum Pflege- und Betreuungsplan waren die letzten in einer Reihe von Reden, in denen Biden weitreichende wirtschaftliche Veränderungen forderte. Er hatte vor, 700 Milliarden Dollar für amerikanische Produkte und Forschung auszugeben, um Arbeitsplätze in den Bereichen Elektroautos, Künstliche Intelligenz und anderen Technologien zu schaffen, und zwar ohne die Zölle und die gefühlte Fremdenfeindlichkeit von Trumps »America First«-Politik. Er hatte einen zwei Billionen Dollar umfassenden Plan für saubere Energie und Infrastrukturprojekte verkündet, der bis 2035 für eine Senkung der Kohlendioxidemissionen von Kraftwerken auf null sorgen sollte.

Trotz Bidens rooseveltschem Eifer war nicht klar, wie weit er in den brisanten Fragen von Wohlstand, Steuern und Ausbeutung durch Großunternehmen gehen würde. Bei einem Fundraising-Event von Investoren und Führungskräften erklärte Biden: »Die amerikanische Konzernwelt muss sich verändern.« Dann schob er eine Bemerkung hinterher, die Progressive erboste: »Dazu sind keine Gesetze notwendig. Ich werde keine vorschlagen.« Als wir uns unterhielten, hakte ich nach, was er damit meinte. Keine Gesetze? »Das ist eigentlich nur die Kurzform«, sagte er. Seiner Ansicht nach habe Amerikas Konzern-Establishment die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen erkannt. Er führte den Business Roundtable an, eine Gruppe von Konzernchefs, die im vergangenen Jahr eine Abkehr von der vorherrschenden Fokussierung auf den Shareholder-Value, also den Aktienkurs von Unternehmen, verkündet hatte. »All diese Leute haben begriffen, dass sie ihr eigenes Saatgut aufessen.«

Dennoch werde er auf Gesetze drängen, erklärte er mir: auf eine von Elizabeth Warren vorgeschlagene Maßnahme, die es Unternehmen verbietet, Einnahmeüberschüsse für den Rückkauf ihrer Aktien zu verwenden, statt in Lohnerhöhungen oder Forschung zu investieren. »Sie müssen begreifen, dass sie Verantwortung tragen«, fand er. »Wie Barack schon in unserem Präsidentschaftswahlkampf gesagt hat: ›Ihr habt das nicht allein aufgebaut.‹ Dieses zwanzig Millionen Dollar teure Autobahnkreuz – wir haben uns für euch eingesetzt. Es hilft allen.« Er erzählte weiter: »Ich habe mit einer Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern gesprochen und ihnen gesagt: ›Welche Art von Gesetzen würde Konzernen mehr Verantwortung abfordern?‹ Das muss passieren.«

Ich spürte, dass Biden sich bemühte, möglichst wenig über seine Wirtschaftsvisionen zu sagen, was anscheinend weniger ein taktisches Ausweichmanöver war als vielmehr eine ideologische Unsicherheit. Er sah sich mit einer politisch und ökonomisch unglaublich komplexen Lage konfrontiert – als Kandidat einer Partei, die allmählich nach links rückte, aber unbedingt Gemäßigte und Republikaner gewinnen musste, die Angst vor einem solchen Linksruck hatten. Biden fühlte sich der Arbeiterklasse nicht nur aus sentimentalen Gründen verbunden und befürwortete einige linke technokratische Lösungsansätze, die ihr helfen würden. Aber er gab durch nichts zu erkennen, dass er sich auf einen erbitterten, kostspieligen Kampf vorbereitete, dem wirtschaftlichen Establishment seine Vorrangstellung zu nehmen. Maurice Mitchell von der Working Families Party sagte dazu: »Wir haben mit einem Rettungspaket nach dem anderen schon Billionen Dollar in die Wirtschaft gepumpt. Stützen wir die Systeme, die uns in diese Situation gebracht haben?«

Auf eine Weise, die niemand hatte vorhersehen können, entwickelte sich der Präsidentschaftswahlkampf 2020 zu einem Referendum nicht nur über Trumps moralische Eignung, sondern auch über die amerikanischen Machtstrukturen – ein System, das Biden in seinem fünfzigjährigen öffentlichen Leben mit entwickelt und verfeinert hatte. Als der Wahlkampf in seine letzte Phase eintrat, genügte das eng gesteckte Ziel, Trump abzulösen, nicht mehr. Biden erkannte allmählich das ganze Ausmaß einer Notlage, das noch weit größer war, als er gedacht hatte.