»Die Leute sagen zu mir: ›Was haben Sie vor, wenn Sie gewählt werden?‹« Joe Biden breitete die Arme aus und beantwortete die Frage selbst: »Es hängt davon ab, was zum Teufel ich vorfinde. Das ist kein Witz. Ich versuche nicht, oberschlau zu sein. Die Dinge könnten noch sehr viel schlimmer werden.«
Als der Herbst begann, breitete sich das Virus weiter erbarmungslos aus. Kaum ein Land auf der Welt bewältigte die Pandemie schlechter als die Vereinigten Staaten. Mittlerweile war die Zahl der nachweislich Infizierten auf über sechs Millionen gestiegen, und die Rate der Neuinfektionen sank kaum. Im August waren die täglichen Opferzahlen mehr als doppelt so hoch wie an einem durchschnittlichen Julitag. Ein Impfstoff war immer noch Monate entfernt.
Unter diesen Umständen bereitete sich Bidens Wahlkampforganisation auf einen sehr speziellen Regierungswechsel vor, beginnend mit einer Amtseinführung unter den Bedingungen des Social Distancing. (»Man braucht dafür keine Menschenmenge«, sagte Biden.) Mit Präsidialverordnungen würde Biden fast augenblicklich Schritte unternehmen können, um das Land in die WHO und das Pariser Klimaschutzabkommen zurückzuführen und die von Trump verhängten Einreisebeschränkungen für Bürger muslimischer Länder aufzuheben.
Einstweilen entwarfen Bidens Strategen einen ungewöhnlich ehrgeizigen Zeitplan für eine Reihe von Gesetzesvorhaben. »Die Strategie sieht so aus: Schnell handeln, kühn handeln«, erklärte mir Jake Sullivan, einer von Bidens maßgeblichen politischen Beratern. »Wir dürfen nicht den Irrtum begehen zu glauben, die Vorhaben müssten einer klassischen politischen Kalkulation entsprechend gereiht werden, denn dies sind alles andere als normale Zeiten.« Unter normalen Umständen versucht ein Präsident in den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit, mit dem Wahlsieg im Rücken rasch wichtige Gesetze durchzubringen, bevor die Kongressmehrheit bei den Halbzeitwahlen wieder auf die Opposition übergehen kann. »Biden denkt nicht in einem Zeitrahmen von zwei Jahren, sondern in einem Zeitrahmen von wenigen Monaten«, führte Sullivan aus.
Bei allen Lobeshymnen Bidens auf Franklin D. Roosevelt sind die politischen Bedingungen heute ganz anders als damals. Zu Roosevelts Zeiten waren die Fronten im Kongress nicht annähernd so verhärtet wie heute; die Unversöhnlichkeit der politischen Lager kann jeden Versuch umwälzender Veränderungen im Gesundheitswesen, in Bezug auf den Klimawandel und andere Fragen zunichtemachen. Um das zu vermeiden, haben Biden und seine Berater Strategien entworfen, die von freundlichem Einvernehmen und Charmeoffensiven bis zu einer Politik der »verbrannten Erde« reichen, wie es einer von Bidens Strategen ausdrückte.
Die Vorgehensweise einer Regierung Biden würde davon abhängen, welche Partei die Kongressmehrheit erringen würde. Sollte es den Republikanern gelingen, die Kontrolle über den Senat zu verteidigen, so hielt es Biden für möglich, einige wenige moderate Mitglieder der Oppositionspartei für Vereinbarungen über populäre Vorhaben wie Infrastrukturinvestitionen zu gewinnen. Die Parteilinken verspotteten diesen Glauben als naiv, aber Biden und seine Berater waren überzeugt, dass sie wie bei der parteiinternen Vorwahl recht behalten würden. »Die herkömmliche Einschätzung war, dass Biden nicht gewinnen könne: Alle, die bei den Primaries wählen, sind jung und progressiv, und er ist alt und verknöchert«, sagte mir einer seiner Assistenten. »Und siehe da: Nicht einmal wir hätten für möglich gehalten, dass es Biden derart schnell gelingen würde, diese Partei zu einen.«
Unabhängig davon, welche Partei den Kongress kontrollieren würde, Biden würde wahrscheinlich bestimmten progressiven Vorhaben Vorrang einräumen – darunter die Anhebung des Mindestlohns und entschlossene Maßnahmen gegen den Klimawandel –, während er Vorschläge, welche die Gesellschaft stärker polarisieren – die Entkriminalisierung des illegalen Grenzübertritts, die Ausweitung der kostenlosen Medicare-Krankenversicherung auf illegale Einwanderer –, hintanstellen würde.
Einige Analysten glaubten, dass es Biden dank seines Rufs als Zentrist leichter fallen würde, Veränderungen durchzusetzen, die Teile der Gesellschaft als sehr bedrohlich empfänden, wenn sie von einem doktrinären Linken vorangetrieben würden. Der progressive Meinungsforscher Sean McElwee stellte in einer Studie fest, dass Wechselwähler Maßnahmen gegen den Klimawandel eher unterstützen würden, wenn man diese als Werkzeug zur Schaffung guter Arbeitsplätze und zur Senkung der Energiekosten verkaufte, anstatt sie als moralische Verpflichtung gegenüber den kommenden Generationen darzustellen.
In diesem Licht verglichen Mitglieder von Bidens innerem Kreis ihn mit Lyndon B. Johnson, der seine jahrzehntelange Erfahrung im Repräsentantenhaus und im Senat genutzt hatte, um mehr progressive Meilensteine zu setzen als John F. Kennedy, der ein Symbol der Dynamik und der Machtübernahme einer neuen Generationen gewesen war. »LBJ war nicht der politisch bewussteste, coolste, hippeste Demokrat, aber seit FDR hat kein Präsident so viele progressive Gesetzesvorhaben zur Förderung der sozialen Gerechtigkeit durchgesetzt wie er«, sagte Bidens Berater Ron Klain dazu. »Dafür gibt es zwei Gründe: In seinem Kielwasser wurden im Jahr 1964 viele demokratische Kandidaten in den Kongress gespült, so dass er dort eine stabile Mehrheit hatte. Und er wusste, wie er den Senat zum Funktionieren bringen konnte.«
Mike Donilon, der Biden mit Unterbrechungen dreißig Jahre lang beraten hat, erklärte mir, Biden teile das übliche Argument nicht, laut dem der Graben zwischen Republikanern und Demokraten mittlerweile derart tief sei, dass selbst Verhandlungen über grundlegende Dinge unmöglich seien: »Es mag den Anschein haben, als gehörten wir verschiedenen Lagern an, aber so sollten wir nicht an die Präsidentschaft herangehen. Man muss das Gespräch mit der anderen Seite suchen. Man muss tatsächlich versuchen zuzuhören. Man geht nicht mit der Einstellung in Verhandlungen: ›Ich vertraue dieser Person nicht. Ich habe nichts mit ihr gemein.‹« Laut Donilon ist Biden der Meinung, dass die Politiker in Washington oft vollkommen falsch an Verhandlungen herangehen: »Alle kommen sofort auf den schwierigsten Punkt zu sprechen. Sie sagen: ›Wir müssen dieses Problem lösen, bevor wir über irgendetwas anderes sprechen können.‹ Und da es nicht gelöst wird, wird auch kein anderes Problem gelöst.« Biden wolle einen anderen Weg einschlagen: »Das bedeutet nicht, dass wir Prinzipien opfern, aber man muss zumindest mit den Leuten sprechen.« Donilon weiß, dass die Leute in der Partei das für naiv halten. »Vielleicht wird er gegen eine Wand laufen, obwohl ich tatsächlich glaube, dass das Bedürfnis des Landes [nach Signalen für Entgegenkommen und Kompromissbereitschaft] groß sein wird. Die Demokraten sagten lange Zeit über Biden: ›Er lebt in einer anderen Welt. Diese Welt existiert nicht mehr.‹ Ich habe das Gefühl, dass das Land tatsächlich den Punkt erreichen wird, an dem es den Kompromiss will.«
In Bidens und Donilsons Hoffnung auf Ausgleich kam auch eine umsichtige Haltung vor den Wahlen zum Ausdruck – die Notwendigkeit, moderate und enttäuschte Republikaner anzulocken. Die brutalere Realität war, dass die Demokraten selbst dann, wenn sie drei zusätzliche Senatssitze und damit die Kontrolle über beide Kammern des Kongresses erringen sollten, möglicherweise auf rohen politischen Machteinsatz würden zurückgreifen müssen. Beispielsweise konnten die Demokraten das als »Budget Reconciliation« bezeichnete Verfahren anwenden, um Gesetze mit einer einfachen Mehrheit im Senat zu verabschieden. Diese Taktik wandten Trump und die Republikaner 2017 im Kongress an, um ihre Steuerreform durchzusetzen. Viele frustrierte Demokraten wollen unbedingt einen radikaleren Schritt wagen und den Filibuster abschaffen, jene traditionelle Regelung im Senat, die Fortschritte bei der Verabschiedung von Gesetzesvorlagen verhindert, indem sie eine »Supermehrheit« von sechzig der hundert Senatsstimmen erforderlich macht, um eine Verschleppung der Debatte durch endlose Reden im Plenarsaal zu umgehen. Dass sich Obama im Juli 2020 ebenfalls für eine Abschaffung des Filibusters aussprach, war ein Hinweis darauf, dass sich sogar Personen aus dem demokratischen Establishment nach einschneidenden Veränderungen sehnten; sein Argument lautete, dass dies den Demokraten erlauben würde, das Wahlrecht umzukrempeln und alle Bürger automatisch ins Wählerregister aufzunehmen, den Wahltag zu einem nationalen Feiertag zu machen, Washington, D. C., und Puerto Rico ebenfalls Senatoren und Wahlmänner zuzugestehen und die Neuziehung der Grenzen von Wahlbezirken zum Vorteil der einen oder anderen Partei zu unterbinden.
Als ich mich im Juli mit Obama unterhielt, bekräftigte er seine Überzeugung, dass sich die Demokraten fruchtlose Bemühungen um überparteiliche Einigungen nicht länger leisten könnten: »Alle Demokraten sollten sich mit der Erkenntnis abfinden, dass sich die Republikanische Partei entschlossen hat, ihre Vorgehensweise in einer Art zu ändern, die es schwierig macht, dass die Demokratie richtig funktioniert. Und Teil dieses zynischen Vorgehens ist ihre Erkenntnis, dass sich unsere Wähler eher zurückziehen als ihre, wenn die Demokratie nicht richtig funktioniert, wenn die Gesetzgebung blockiert wird, wenn ein erbittertes Parteiengezänk und politische Spaltung herrschen. Und es stört sie nicht unbedingt, wenn die Regierung zum Stillstand kommt.«
Biden fiel durch eine konservativere Haltung auf. Er war nicht bereit, Obamas Forderung nach einer Abschaffung des Filibuster zu unterstützen – dies war der wichtigste taktische Reibungspunkt zwischen ihnen. Die Demokraten, erklärte Biden vorsichtig, sollten sich mit einer Beseitigung oder Änderung der Filibuster-Regel »beschäftigen« – allerdings nur, wenn sich die Republikaner als »aufsässig« erwiesen. Als die Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg im September starb, schien die Möglichkeit einer Annäherung der beiden Parteien in noch größere Ferne zu rücken.
Eine der besonders heiklen Herausforderungen, mit denen Biden im Fall eines Wahlsiegs konfrontiert sein würde, war der Umgang mit Donald Trump. Der Privatmann Trump würde politische und rechtliche Probleme verursachen. Noch vor der Wahl hatte er seinen Anhängern zugerufen, er könne nur durch »Wahlfälschung« unterliegen; nun dachten die Demokraten über die nahe Zukunft nach und beschäftigten sich mit der Möglichkeit, Trump könnte Unruhen schüren. Bidens Berater hatten keine andere Wahl, als Szenarien zu diskutieren, die früher einmal als lächerliche Hirngespinste abgetan worden wären: »Jemand stellte die Möglichkeit in den Raum, dass er sich einfach im Lincoln-Schlafzimmer ans Bett kettet und weigert, das Weiße Haus zu verlassen«, erzählte mir ein hochrangiger Mitarbeiter Bidens. In der Praxis erwarteten sie, dass die rechtsstaatlichen Institutionen jeden Versuch Trumps unterbinden würden, sich im Westflügel festzusetzen. »Die Verfassung schreibt vor, dass der neugewählte Präsident am 20. Januar die Regierungsgeschäfte und damit alle Machtwerkzeuge übernimmt«, erklärte der Mitarbeiter. Dies war ein unmissverständlicher Hinweis auf die Rolle von Streit- und Sicherheitskräften. Eine näherliegende Frage lautete, wie eine Regierung Biden auf Druck von einer anderen Sorte reagieren würde: auf die Forderung – die bereits vor dem Wahltag laut wurde –, die Vorgängerregierung für Korruption, Fahrlässigkeit und Missmanagement zur Rechenschaft zu ziehen.
Der Princeton-Historiker Kevin Kruse forderte Biden auf, den Umgang der Regierung Trump mit der Covid-19-Pandemie unter die Lupe zu nehmen und sich dabei am Beispiel der Pecora-Kommission des Senats zu orientieren, die seinerzeit die Ursachen des Börsenkrachs von 1929 untersucht hatte. Die nach ihrem Vorsitzenden Ferdinand Pecora benannte Untersuchungskommission hatte verbreitete Korruption an der Spitze einiger der angesehensten Institutionen der Vereinigten Staaten aufgedeckt: Bankmanager hatten sich versteckte Bonuszahlungen zugestanden und bevorzugten Klienten, die auf geheimen Listen standen, Aktien unter dem Marktwert zugeschanzt. Diese Enthüllungen sicherten Roosevelt die Unterstützung der Öffentlichkeit für umfassende wirtschaftliche und politische Reformen im Rahmen des New Deal, darunter die Einrichtung der Börsenaufsichtsbehörde SEC. Kruse erklärte: »Hier haben wir einen Präzedenzfall. Wenn etwas vollkommen falsch läuft, vor allem wenn Tausende Amerikaner sterben, wird traditionell eine große Untersuchung wie jene zu den Ursachen des 11. September 2001 eingeleitet.«
Kruse hoffte, eine Covid-19-Kommission werde auch zu einer umfassenderen Untersuchung der, wie er es ausdrückte, Korruption und Fahrlässigkeit in den Trump-Jahren führen. »Das politisch durchzusetzen wird schwieriger, weil viele einen Versuch, Trump zur Rechenschaft zu ziehen, zweifellos als politische Rache betrachten werden.« Die Regierung Obama ordnete keine strafrechtliche Verfolgung derer an, die Ramschkredite oder Derivative in Umlauf gebracht hatten oder von der CIA als Folterer eingesetzt worden waren; der Hauptgrund dafür war, dass Obama, wie er zu jener Zeit sagte, den Blick »lieber in die Zukunft als in die Vergangenheit« richtete. Kruse hält das für einen Fehler: »Wann immer wir das tun, wann immer wir die grundlegende Rechenschaftspflicht mit unbegründeter Rachsucht verwechseln, müssen wir später unausweichlich einen Preis dafür bezahlen. Wenn Personen, die man hätte zur Rechenschaft ziehen müssen, vom Haken gelassen werden, nehmen sie später oft wieder einflussreiche Positionen im öffentlichen Leben ein und fühlen sich durch das Wissen ermutigt, dass sie in der Vergangenheit mit Fehlverhalten davongekommen sind. Wenn man die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft zieht, untergräbt dies lediglich den Glauben in unsere Institutionen, denn die Leute können mit Recht sagen: ›Ich musste wegen eines geringfügigen Vergehens ins Gefängnis. Diese Leute haben sehr viel Schlimmeres getan und sind damit davongekommen.‹«
Biden lehnte Forderungen ab, er solle einzelne Personen strafrechtlich belangen – »Das ist Sache der Fachleute im Justizministerium« –, aber nachdem Trump den Generalinspekteur, der beaufsichtigen sollte, ob die 2,2 Billionen Dollar, die der Kongress im März für die Überwindung der Pandemie bereitgestellt hatte, richtig verwendet wurden, gefeuert hatte, versprach Biden, seinerseits einen Generalinspekteur einzusetzen, der das Förderprogramm prüfen werde: »Wir werden jeden Dollar finden, der nicht richtig verwendet wurde, wir werden uns das Geld zurückholen und wir werden die Übeltäter bestrafen.« Der Leiter der Untersuchung könnte dem Justizministerium mögliches kriminelles Verhalten melden. Biden wollte dies als Warnung an die Adresse all jener verstanden wissen, »die von den korrupten Geschenken Präsident Trumps und seiner Regierung profitieren«.
Als ich mit Pete Buttigieg über die Möglichkeit sprach, Trump zur Rechenschaft zu ziehen, erklärte er, würde Biden – ähnlich wie Gerald Ford, als er 1974 seinen Vorgänger Richard Nixon begnadigte – den Versuch unternehmen, dieses betrübliche Kapitel zu schließen, würden junge Amerikaner dies nicht unbedingt als noblen Akt der Erneuerung betrachten: »Der Vorschlag einer Untersuchungskommission scheint mir wirklich interessant. Doch was immer geschieht, es muss so gestaltet werden, dass es für die Republikanische Partei möglich ist, den Trumpismus hinter sich zu lassen und aufzuarbeiten, wie es möglich war, dass sie in seine Fänge geriet. Es darf keine parteiliche Siegerjustiz werden. Es muss um nationale Heilung, um Werte und um Normen gehen.«
Die Kritik, die Obama-Administration habe nicht genug getan, um ihre Vorgängerregierung zur Verantwortung zu ziehen, wurde überraschenderweise sogar von einigen der damals an der Regierung beteiligten Personen geteilt. Einer von Obamas Mitarbeitern erzählte mir: »Obamas erste Jahre im Weißen Haus haben gezeigt, dass es keinen Sinn hat, darauf zu verzichten, alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Natürlich sollte es keine politisch motivierte Strafverfolgung geben, aber wenn rechtliche Gründe dafür vorliegen, sollte das zugelassen werden. Wir haben weder bei den Republikanern noch bei der Wirtschaft Punkte gesammelt, indem wir auf strafrechtliche Maßnahmen verzichteten, und vergaben so wahrscheinlich die Chance, die Schuld an der wirtschaftlichen Katastrophe und der miserablen Sicherheitslage, die Obama erbte, denen zuzuweisen, denen sie gebührte.«
In den ersten hundert Tagen im Weißen Haus würde sich Biden bei dem Versuch, seine Agenda zu definieren, nicht nur mit Gegnern aus dem rechten Lager auseinandersetzen müssen, sondern wahrscheinlich auch auf Widerstand in seiner eigenen Partei stoßen. Im August richtete die Klimaschutzorganisation Sunrise Movement einen Tweet an das »demokratische Establishment« und versprach, auch nach Trumps Ausscheiden aus dem Weißen Haus hartnäckige Kritik an der Politik der Regierung zu üben: »Biden ist nur ein Werkzeug, um Trump aus dem Weißen Haus zu entfernen. Macht euch auf vier Jahre Dauerbeschuss durch eine Generation wütender junger Leute gefasst.« Um mir ein Bild davon zu machen, welche Methoden Biden einsetzen konnte, um die unterschiedlichen Fraktionen in seiner Partei von den Zentristen bis zum Ocasio-Cortez-Flügel unter Kontrolle zu bringen, traf ich mich in Washington zu einem sozial distanzierten Interview mit Michael Kazin, einem Historiker und Mitherausgeber der linken Vierteljahresschrift Dissent. Wir nahmen an gegenüberliegenden Seiten eines Picknicktischs Platz wie Spione in einem Roman aus der Zeit des Kalten Kriegs.
»Obama weckte Erwartungen bei den Leuten«, erklärte mir Kazin. »Die Linken – wenn ich mir diese übermäßig pauschale Kategorisierung erlauben darf – würden sagen: ›Uns gefiel das, was er zu tun versprach, dann jedoch nicht tat.‹ Die Frage ist, inwieweit das Obamas Fehler war, wie viel auf strukturelle Einschränkungen zurückzuführen war und inwieweit es am Zeitpunkt und an den zur Rettung der Wirtschaft nötigen Maßnahmen lag. Teilweise hatte es auch damit zu tun, dass er an überparteiliche Lösungen glaubte. Ich denke, er überschätzte seine Fähigkeit, die Menschen mit seiner Persönlichkeit und seiner Rhetorik zu überzeugen.«
Zu meiner Überraschung erklärte Kazin, die jungen Progressiven würden Teile von Bidens Agenda bereitwilliger unterstützen, als ihrer aggressiven Rhetorik zu entnehmen sei. »Viele Linke, insbesondere junge Linke, glauben, die Demokratische Partei müsse vollkommen umgekrempelt und von Ocasio-Cortez und Leuten wie ihr übernommen werden. Aber wenn sie strategisch denken, ist ihnen klar, dass das Land noch nicht so weit ist. Sie bemühen sich, linken Demokraten zum Wahlsieg zu verhelfen, die versuchen werden, Medicare für alle, eine kostenlose Hochschulbildung, mehr sozialen Wohnungsbau, eine Reform oder sogar Auflösung der Polizei durchzusetzen. Das sind allesamt notwendige radikale Reformen, aber es sind immer noch Reformen.« Kazin sprach einen Artikel in Dissent an, in dem eine Wahlpflicht ähnlich wie in Australien gefordert worden war. »Dazu wird es nicht kommen, aber es wäre natürlich großartig.« Die Auseinandersetzung mit solchen Ideen gehört zur Arbeit einer loyalen Opposition. »Sehen Sie, wir sind ein radikales Magazin. Wir müssen über solche Dinge sprechen. Ich glaube auch nicht, dass wir die Finanzierung der Polizei einstellen werden, aber ich bin dafür, dass wir darüber sprechen.«
Um die Linken in einer Koalition zu halten, würde Biden nach Einschätzung Kazins die Vorhaben verwirklichen müssen, den Mindestlohn zu verdoppeln und die gewerkschaftliche Organisierung zu erleichtern. »Das wird wahrscheinlich nicht alles auf einen Schlag passieren. Aber die Gewerkschaften, selbst jene, die Bernie unterstützten, stehen jetzt überwiegend hinter Biden, weil sie erkannt haben, dass dies wirklich funktionieren könnte«, sagte Kazin. »Er versteht etwas, das Obama aus irgendeinem Grund nicht verstand: Die Gewerkschaften sind ein unverzichtbarer Bestandteil der demokratischen Basis. Mit mehr Gewerkschaftsmitgliedern werden die Demokraten bei Wahlen besser abschneiden. Man sieht das bei den weißen Wählern: Weiße Gewerkschaftsmitglieder wählten Hillary Clinton, während der Großteil der weißen Nichtgewerkschaftsmitglieder Trump wählte. Der Unterschied ist gewaltig.« Vor allem werde Biden, wenn er das Versprechen einer von Roosevelt inspirierten Politik einlösen wolle, den Glauben der Amerikaner jeder politischen Ausrichtung wiederherstellen müssen, dass der Staat in der Lage sei, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. »Der Staat funktionierte in den dreißiger Jahren. Der Staat funktionierte im Zweiten Weltkrieg. Deshalb glaubten die Leute an die Politik, und deshalb wählten sie entweder liberale Demokraten oder gemäßigte Republikaner.« Mittlerweile hätten sie dieses Vertrauen verloren. »Man muss die Menschen überzeugen, dass die Regierung tatsächlich in der Lage ist, zu tun, was sie versprochen hat. Die Linken nehmen einfach an: ›Die Leute werden Medicare für alle lieben!‹ Ja natürlich. Aber nur, wenn es funktioniert.«
Obama teilte diese Einschätzung. Er sagte voraus, die Progressiven würden ein gewisses Maß an Flexibilität akzeptieren, sofern das Resultate bringe: »Ich glaube nicht, dass sie auf konkrete Punkte auf der Checkliste der politischen Maßnahmen schauen werden«, erklärte er. »Sie wollen sehen, dass der Präsident in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass die Funktionsweise der Maschinerie der Regierung dem entspricht, woran wir glauben und was uns am Herzen liegt. Er soll ihnen zeigen, dass er, wenn die Mehrheit der Amerikaner Maßnahmen gegen den Klimawandel will, tatsächlich solche Maßnahmen vorantreiben kann und dass diese nicht verstümmelt werden, wenn sie durch den Senat oder das Repräsentantenhaus gebracht werden müssen.«
Eine der Methoden, die Biden anwenden könnte, um sich die Unterstützung der Linken zu sichern, besteht darin, wichtige Posten in seiner Administration mit Progressiven zu besetzen. Ein hochrangiger Sanders-Berater sagte mir: »Wenn man sich die Obama-Jahre ansieht, so stellt man, offen gesagt, fest, dass es in seiner Regierung nicht allzu viele progressive Stimmen gab. Wo war die interne Stimme, die sagte: ›Hey, Sie schließen zu viele Kompromisse. Sie müssen sich gegen diese Bastarde wehren.‹« Er schlug vor, jemanden wie ihn in eine Biden-Regierung aufzunehmen: »Ich könnte seinem Mitarbeiterstab angehören. Wenn er einen klar abgegrenzten Flügel der Demokratischen Partei – das Establishment – vertritt, dann sind diejenigen, die die Macht haben, tatsächlich verpflichtet zu sagen: ›In Ordnung, was ist nötig, um denen die Hand zu reichen, die verloren haben?‹«
Biden machte einige Gesten in dieser Richtung. Jahrelang hatte er sich auf eine kleine Gruppe von Beratern gestützt, darunter Donilon, Klain und Kaufman – Leute, die in den Augen des Magazins Politico »ganz ähnlich wie Biden« waren: Sie waren »alt und weiß und besaßen langjährige Erfahrung in den Kämpfen der Demokratischen Partei aus einer vergangenen Ära«. Aber diese Darstellung ließ Personen wie Symone Sanders außer Acht, eine 1989 geborene ehemalige Mitarbeiterin von Bernie Sanders, die zu den einflussreichsten Schwarzen Beraterinnen in Bidens Wahlkampforganisation zählte. Biden hat verstanden, dass er die Bedürfnisse des Landes nur erfüllen kann, indem er die Mischung von Personen und Erfahrungen in seiner Umgebung deutlich erweitert: »Ich glaube, es ist wirklich wichtig – wirklich, wirklich wichtig –, dass die Zusammensetzung meiner Regierung der des Landes entspricht«, sagte er mir. Er will als jemand in Erinnerung bleiben, der »eine Vielzahl wirklich talentierter Menschen mitbrachte, die ansonsten keine Chance bekommen hätten oder nicht so ins Rampenlicht hätten treten können«.
Mir fiel immer wieder auf, dass gemäßigte Demokraten dazu neigten, den ideologischen Graben in der Partei als ein beherrschbares Maß an Meinungsverschiedenheiten zu betrachten. Als ich im Gespräch mit Klobuchar, der gemäßigten Demokratin aus Minnesota, die Vermutung äußerte, es werde Biden möglicherweise schwerfallen, sich dauerhaft die Unterstützung der Parteilinken zu sichern, antwortete sie: »Das glaube ich nicht.« Der wirkliche Graben verlief in ihren Augen zwischen Anhängern und Gegnern Trumps. »Die Kluft zwischen den Fraktionen innerhalb unserer Partei ist nicht annähernd so groß«, sagte sie. »Nehmen Sie nur die Gesetzesvorlage über die Reform der Polizei im Repräsentantenhaus und im Senat: Eine Reihe von Gemäßigten im Repräsentantenhaus und aus ländlichen Gebieten unterstützten diese Vorlage.«
Bei allem rhetorischen Säbelrasseln des Sunrise Movement auf Twitter sieht diese Bewegung nach Aussage von Varshini Prakash durchaus eine Chance in einer Biden-Präsidentschaft: »Wir müssen diesen Mann ins Weiße Haus bringen und die Spähre der Strategiedebatten verlassen, um Macht auszuüben. In diesem Land sind zu geeigneter Zeit und am richtigen Ort unter gemäßigten Präsidenten progressive Vorhaben verwirklicht worden. Die Umweltschutzbehörde EPA wurde unter Nixon eingerichtet! Das Interstate-Autobahnnetz wurde unter Eisenhower errichtet.« Sie lachte: »Entscheidend ist, dass man weder selbstgefällig noch rechthaberisch wird. Man muss eine starke Position in der Mitte finden.«
Während Trump im Sommer in den Umfragen absackte, kam Biden auf Werte, die seit der Einführung der modernen Meinungsforschung noch kein Herausforderer des Amtsinhabers erreicht hatte. Selbst nachdem Trump das Weiße Haus als Kulisse für Wahlveranstaltungen genutzt hatte, blieb der übliche Sprung in den Umfragen aus. Biden wiederholte ein ums andere Mal, er wolle »das Land einen«. Aber was bedeutete das in der Praxis? War das Streben nach Einheit nicht ein Rezept für politische Lähmung?
Die Aussicht auf Einheit half, Obama ins Weiße Haus zu bringen. Aber der Gehalt des Konzepts hat sich geändert. »Die Obama-Wähler, diese unschuldigen Amerikaner, sind erwachsen geworden«, erklärt Maurice Mitchell von der Working Families Party. »Sie sind zynischer geworden. Sie sind härter geworden. Sie stellen mehr Fragen, sie wollen mehr Daten. Die Leute wollen wissen, wie die politischen Maßnahmen im Detail aussehen sollen. Sie gehen online, lesen die Pläne und prüfen sie sorgfältig. Biden muss also klar sagen, was er vorhat: ›Wenn wir die Mehrheit im Senat erringen, werden diese und jene Dinge geschehen. Und mein Kabinett wird so aussehen, und diese Entscheidungen aus der Trump-Zeit werden wir rückgängig machen.‹ Es genügt nicht, seine Vorhaben in groben Zügen zu beschreiben.«
Als ich Obama im Sommer 2020 nach seinen Erwartungen fragte, hielt er sich gerade in seinem Haus auf der Insel Martha's Vineyard auf, wo er an seinen Präsidentenmemoiren arbeitete. Sobald Sanders aufgegeben hatte, sprach Obama sich für Biden als Kandidaten aus, und er leistete einzelne, genau getimte Beiträge zu Bidens Wahlkampf – er nahm an der Seite des Kandidaten an einer im Fernsehen übertragenen Gesprächsrunde und an einer per Videokonferenz durchgeführten Spendenveranstaltung teil. Er und Biden telefonierten regelmäßig miteinander, ohne die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese Gespräche zu lenken. Schließlich hätte Trump eine Regierung Biden nur allzu gerne als verdeckte Rückkehr zu den Obama-Jahren dargestellt. Obama hatte bei der Beerdigung von John Lewis mit einer mitreißenden Rede aufhorchen lassen und die bedrängten Demokraten an eine weitgehend vergessene Zeit der Zuversicht erinnert.
Ich fragte ihn nach der Jugend, die enttäuscht darüber war, dass es das demokratische Establishment nicht geschafft hatte, größere Fortschritte zu erzielen. Er sprach das Beispiel der Gesundheitsreform an: »Joe und ich waren uns der Einschränkungen und Grenzen schmerzhaft bewusst. Aber das war alles, was wir damals durchsetzen konnten, und mehr als zwanzig Millionen Menschen erhielten eine Krankenversicherung. Missouri hat vor kurzem Medicaid ausgeweitet, womit wahrscheinlich mehrere hunderttausend Menschen zusätzlich in die Versicherung geholt werden. Und jetzt besteht die Chance, das System sehr viel besser zu machen. Daher denke ich, dass eine Antwort an die jüngere Generation lautet: Ja, ihr solltet mehr Druck machen! Denn so wird der Fortschritt vorangetrieben.«
Obama reagiert empfindlich auf den Vorwurf, seine Regierung sei übermäßig kompromissbereit gewesen: »Meine gesetzgeberischen Vorhaben, Joes gesetzgeberische Vorhaben waren mindestens so kühn und aggressiv wie viele der Vorhaben, die sich die Jugend jetzt auf die Fahnen geschrieben hat«, sagte er. »Wenn man Joe und mich fragt, was wir bedauern oder welche Lehren wir aus meiner Regierungszeit gezogen haben, so werden wir nicht antworten, dass wir nicht mutig genug waren. Wir bedauern, dass wir weiterhin glaubten, die Republikaner im Kongress seien fähig, sich an die Spielregeln zu halten, und würden bereit sein, zu verhandeln und Kompromisse zu schließen.«
Als Obama im Jahr 2012 für eine zweite Amtszeit kandidierte, hoffte er, dass ein Sieg einen entgegenkommenderen Kongress hervorbringen würde. »Vielleicht sinkt das Fieber«, sagte er damals, »denn in der Republikanischen Partei gibt es eine starke Tradition des Common Sense.« Diese Hoffnung war lange verflogen: »Wenn ich mit jungen Leuten spreche, sage ich zu ihnen: ›Seht her, unsere Vorschläge für den Klimaschutz waren sehr aggressiv – wir konnten sie nur nicht durchsetzen‹«, erklärte er mir. »Und das lag nicht an Einflüsterungen von Lobbyisten und Unternehmen, die große Spender waren! Es lag daran, dass wir keine sechzig Stimmen im Senat hatten. Und dasselbe gilt für die öffentliche Option in der Krankenversicherung und für die Reform des Einwanderungsrechts.« Obama fuhr fort: »Die Republikanische Partei hat mit ihrem Verhalten die klassische Praxis von Verhandlung und Kompromiss diskreditiert, die zu der Zeit, als Joe Senator wurde, im Kongress üblich war. Und er hat wahrscheinlich eine Weile gebraucht, um sich davon zu lösen, denn ich denke, er hat Erfahrung darin, Vorhaben durchzusetzen. Und ich denke, es schmerzt ihn, mit ansehen zu müssen, was aus Institutionen wie dem Senat geworden ist.«
Biden wiederholt oft, die Vereinigten Staaten könnten »ohne Konsens nicht funktionieren«. Aber wenn er einen harmonischen Kongress beschwört, haben viele jüngere Amerikaner den Eindruck, er hänge Trugbildern nach oder, schlimmer noch, als sei er nicht willens, schwierige Kämpfe auszutragen. Im Jahr 2019 musste er einigen Spott über sich ergehen lassen, nachdem er erklärt hatte, die Kongressabgeordneten würden nach Trumps Ausscheiden eine »Erleuchtung« erleben. Aber in seinen Augen hängen die Aussichten auf einen überparteilichen Konsens von der Höhe des Siegs ab: »Wenn wir siegen und fünf oder sechs zusätzliche Sitze im Senat erobern, glaube ich, dass es tatsächlich eine Erleuchtung geben wird«, sagte er mir, »denn dann braucht man nur noch drei, vier oder fünf Republikaner, die etwas vom Licht gesehen haben. Ich glaube, ein Verschwinden Trumps wird eine sehr große Wirkung haben. Die Rachsucht, die Kleinlichkeit, die Bereitschaft, zu seinem eigenen Schaden Leute mit seinem Hass zu verfolgen wie im Fall von Sessions.« (Trump half dabei, seinen früheren Justizminister Jeff Sessions in Alabama in den republikanischen Primaries für die Senatskandidatur zu Fall zu bringen.)
Ein hochrangiger Mitarbeiter der Regierung Obama, mit dem ich mich im Sommer 2020 unterhielt, befürchtete, sein Optimismus könne Biden teuer zu stehen kommen: »Sieht er seine Rolle darin, die Never Trumpers an Bord zu holen und einen überparteilichen Konsens herzustellen? Ich weiß aus Erfahrung, dass das eine Falle ist. Wir liefen geradewegs hinein. Deine eigenen Leute verlieren die Zuversicht, die Republikaner rechnen es dir nie an, du vergeudest viel Zeit – und am Ende bekommst du es mit der Tea Party zu tun.«
Im August traf Biden angesichts einer der wichtigsten Prüfungen in seinem Wahlkampf eine aufschlussreiche Wahl: Er machte die Senatorin Kamala Harris aus Kalifornien zu seiner Kandidatin für die Vizepräsidentschaft. Er gab ethnischer Vielfalt Vorrang vor ideologischer Vielfalt. Harris würde die erste Schwarze, die erste Person südasiatischer Herkunft und die erste Frau sein, die dieses Amt bekleidete. Wie Biden selbst war sie keine Kandidatin der Linken. Ihr Abstimmungsverhalten im Senat machte sie zu einem der progressivsten Mitglieder der Kammer, aber den Linken missfielen ihre Entscheidungen als Bezirksstaatsanwältin in San Francisco und als Justizministerin von Kalifornien, denn sie hatte mit einigen Polizeireformen gezögert und die Schulverweigerung aggressiv bekämpft.
Als sie bei der Bekanntgabe ihrer Kandidatur an Bidens Seite stand, legte Harris große Kampflust an den Tag. Über Trumps Wirtschaftspolitik sagte sie: »Wie alles andere, was er geerbt hat, hat er die Wirtschaft geradewegs gegen die Wand gefahren.« Sie gab ihm die Schuld daran, dass »alle achtzig Sekunden ein Amerikaner an Covid-19 stirbt.« Trump und seine Stellvertreter hatten Mühe, sich auf eine Angriffsstrategie zu einigen; sie machten sich über Harris' Stimme und ihren Namen lustig, und er bezeichnete sie in einer Pressekonferenz als »die böseste, schrecklichste, respektloseste, liberalste Person im US-Senat«.
Nachdem Harris zur Kandidatin gekürt worden war, rief ich die Universitätsadministratorin Kandyce Baker an, die ich bei der Black-Lives-Matter-Demonstration kennengelernt hatte und die von sich selbst gesagt hatte, sie unterstütze »bedauerlicherweise« Biden. Bidens Entscheidung für eine Schwarze Frau hatte Baker angenehm überrascht, aber sie hatte Zweifel bezüglich des politischen Kalküls: »Ich finde es durchaus in Ordnung, dass Kandidaten ihre Haltung ändern oder eingestehen: ›Also gut, das war im Jahr 2015, aber heute habe ich mehr Informationen.‹ Aber Kamala muss erklären, was passiert ist. Es genügt nicht, einfach zu sagen, dass man sich weiterentwickelt hat.«
Als Harris Ende August eine Rede auf dem Demokratischen Parteitag hielt, bot sie eher aufmunternde Worte als Erklärungen an: »Die neue Generation inspiriert mich. Ihr treibt uns an, die Ideale unserer Nation zu verwirklichen.« Harris begann, für sich eine Rolle in einer potenziellen Regierung Biden zu suchen. Es war kaum anzunehmen, dass sie als Bindeglied zum Kongress dienen konnte wie seinerzeit Biden für Obama, denn diese Beziehungen würde Biden selbst pflegen. Stattdessen hatte sie das Potenzial, als öffentliche Ansprechpartnerin für jüngere, diversere Gruppen zu dienen und eine überzeugende Botschafterin für die Werte seiner Regierung in der Auseinandersetzung mit dem Trumpismus zu sein, beginnend mit einer Debatte mit Vizepräsident Mike Pence. Biden war stolz darauf, ein loyaler Vizepräsident gewesen zu sein, und Harris würde ihrem neuen Status als Kronprinzessin der Partei gerecht werden müssen, ohne ihren Chef vor den Kopf zu stoßen.
Der Parteitag fand wie so vieles in diesen Tagen nur auf Bildschirmen statt, aber die Einschränkungen unterstrichen das Gefühl der Dringlichkeit. Obama appellierte an die Amerikaner und insbesondere an die Jugend, sich nicht dem Zynismus und der Apathie zu ergeben: »So siecht eine Demokratie dahin, bis sie keine Demokratie mehr ist, und das dürfen wir nicht zulassen.« In seiner Deutung begründete der Individualismus keinen Anspruch, sondern eine Pflicht: »Lasst nicht zu, dass sie euch eure Macht wegnehmen.«
All das war ein Vorspiel für Bidens nüchternen Appell, das Land solle sich auf moralischen Anstand und Vernunft besinnen und über diese »dunkle Jahreszeit« trauern. In einer Rede, in der er Trump nicht einmal namentlich nannte, erklärte Biden, die Amerikaner seien keine Gefangenen der Irrtümer der Vergangenheit und der Gegenwart: »Ich werde auf das Beste in uns zurückgreifen, nicht auf das Schlechteste«, erklärte er, um dann Ella Baker zu zitieren, eine Ikone der Bürgerrechtsbewegung: »Gebt den Menschen eine Lampe, und sie werden einen Weg finden.«
Der Reihe nach schilderten normale Bürger ihre alltägliche Not. Die 39-jährige Kristin Urquiza aus Arizona erzählte die Geschichte ihres Vaters Mark Anthony Urquiza, der Trump gewählt, die Behauptungen des Präsidenten über die Pandemie geglaubt hatte und auf einer Intensivstation allein gestorben war. »Eine Krankenschwester hielt seine Hand.« Brayden Harrington, ein dreizehnjähriger Junge aus New Hampshire, dankte Biden dafür, dass er ihm gesagt hatte, sie gehörten beide »demselben Club an – wir stottern«. Der offizielle Namensaufruf, normalerweise ein eher banales Ritual in der Kongresshalle, wurde als Videoparade inszeniert, in der die Vielfalt und Weitläufigkeit des Landes von der Karibik bis nach North Dakota und Alaska gefeiert wurde. Diese Show wirkte sentimental, tröstlich und wie eine Ermunterung, passend zu einer Zeit, in der sich die Amerikaner an eine verstörende Erkenntnis gewöhnen müssen: Ein Politiker kann uns eine Lampe geben oder sie zumindest nicht abdunkeln, aber den Weg müssen wir selbst finden.
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Bei allen politischen und taktischen Herausforderungen, die Joe Biden im Fall eines Wahlsiegs erwarteten – China, Klimawandel, Künstliche Intelligenz, ganz zu schweigen von den drängenderen Krisen –, hatte es den Anschein, als würde das Wesen seiner Präsidentschaft von einer Reihe grundlegenderer Entscheidungen bestimmt werden. Bei der Suche nach Antworten auf Amerikas Sorgen würde Biden auf zwei divergente Stränge seiner Biografie zurückgreifen: auf die Mythen, auf denen seine Politik der Verantwortung fußt, und auf seine persönlichen Begegnungen mit dem Unglück. In Vom Ende des Gemeinwohls schreibt der politische Philosoph Michael Sandel von der Universität Harvard: »Selbst als die Ungleichheit riesige Ausmaße erreichte, hat die kulturelle Öffentlichkeit die Vorstellung verschärft, dass wir für unser Schicksal selbst verantwortlich sind und verdienen, was wir bekommen.« Wenn wir erfolgreich sind, verdanken wir es unseren eigenen Leistungen, wenn wir scheitern, können wir niemandem außer uns selbst die Schuld geben. Im Zeitalter von Pandemien und systemischer Ungerechtigkeit, erklärt Sandel, führe uns »ein reges Bewusstsein für die Zufälle unseres Geschicks« zu einer gewissen Demut: »Das hätte auch mir passieren können, wenn nicht die Gnade Gottes, der Zufall der Geburt oder das Mysterium des Schicksals mich davor bewahrt hätte.«
Biden, der ewige Wetterhahn, wettete darauf, dass die Amerikaner eine andere Art von Politik wollten. Er verstand, was in den Köpfen der Kongressmitglieder vorging – die Abwägungen, die Bemühungen, sich abzusichern, die Triangulation –, und er war überzeugt, dass zumindest einige Mitglieder der Opposition bereit sein würden, mit ihm zusammenzuarbeiten. Aber noch größeres Gewicht in seiner Vision von der Einigkeit hatte eine Kraft, die sich der Washingtoner Mechanik entzog: die Aussicht, den Menschen das Gefühl zu geben, jemand in der Hauptstadt höre ihnen zu.
Im unvergleichlich sonderbaren Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2020 versuchten Bidens Mitarbeiter jeden Tag, eine telefonische Verbindung zu einem normalen Bürger herzustellen. An einem Frühlingsnachmittag wurde er zu Mohammad Qazzaz in Dearborn, Michigan, durchgestellt. Quazzaz, der eine Kaffeerösterei betrieb, war drei Wochen zuvor positiv auf Covid-19 getestet worden. Als Biden anrief, befand er sich in Quarantäne und versuchte, seine Frau und seine zwei Kinder zu schützen.
Qazzaz, der den Anruf aufgezeichnet hatte und die Aufnahme für mich abspielte, hatte Biden erzählt, dass seine zweijährige Tochter nicht verstand, warum er nicht aus seinem Zimmer kam: »Sie ruft unentwegt: ›Papa, mach auf! Mach auf!‹« Als er seine Situation zu beschreiben versuchte, brach seine Stimme, und er versuchte sich zu sammeln: »Es tut mir leid, Herr Vizepräsident.«
»Machen Sie sich keine Gedanken«, antwortete Biden. »Ich denke, Ihr emotionaler Zustand ist vollkommen gerechtfertigt. Und wie meine Mutter sagen würde: Lassen Sie es heraus.«
Biden erzählte Quazzaz, dass seine Kinder ebenfalls einmal zu klein gewesen waren, eine Krise zu verstehen, die sich rund um sie entfaltete. »Ihre Situation ist ganz anders, aber ich ahne, was Sie durchmachen.« Biden schlug Qazzaz vor, durch die Tür ein einfaches Spiel mit seiner Tochter zu spielen: Er sollte sie auffordern, eine Zahl oder eine Farbe zu erraten. »Und erzählen Sie Ihr Geschichten darüber, wie es sein wird, wenn Daddy wieder gesund ist.« Die beiden unterhielten sich eine Weile über den Vater von Qazzaz, der aus Jerusalem eingewandert war. »Sie werden es überstehen«, sagte Biden. »Dieses Land ist, was es ist, weil wir eine Nation von Einwanderern sind.« Für den Anruf waren fünf Minuten eingeplant gewesen; die Unterhaltung dauerte zweiundzwanzig Minuten.
Als ich Bidens Gespräch mit Qazzaz hörte, kam mir Franklin D. Roosevelts berühmte Aussage in den Sinn: »Die Präsidentschaft ist nicht einfach ein Verwaltungsamt. […] Sie ist vor allem ein Ort der moralischen Führung.« Joe Bidens Leben war voll von Fehlern und Reue und furchtbaren persönlichen Verlusten. Und sollte er Präsident werden, würde er die Seele der Nation wohl kaum mit hehren Worten bewegen. Aber er war vielleicht der richtige Mann, um einem trauernden Volk tröstende und heilende Worte zu spenden.