II
Die zweite Feder

Inhaltsverzeichnis

Ich heiße Mathilde und bin die Frau August Sonntags; mein Wahlspruch steht auf meinem Fingerhut, er lautet: Douce mais sauvage; – zu den Abscheulichkeiten, welche auf den vorstehenden Seiten zu lesen sind und welche ich in einem Winkel fand, den der Herr Pate für recht sicher hielt, habe ich noch etwas hinzuzufügen, und, bei meinem Fingerhut, was ich zu sagen habe, das werde ich sagen, und sollte auch ein Manuskript daraus werden, dickleibiger als der dickste Foliant in des Herrn Paten Bibliothek; der Herr Pate mag’s drucken und mich in Kupfer davor stechen lassen; ich bin fest überzeugt, daß ich nicht dümmer aus meinem Tüllhäubchen hervorsehe als alle die hagern oder feisten Tröpfe aus ihren Allongeperücken. Es hat schon manchem Mann seine Frau das gesagt, was er von zwanzig Universitäten und Fakultäten nicht erfahren hätte; und eine richtige Frau weiß sich zu taxieren, und wenn sie’s ihrem Herrn und Gebieter nicht merken läßt, so sollte er dankbar dafür sein und sich nicht überheben. Sie überheben sich aber alle, und eine arme Frau hat genug zu tun, bis sie wieder eine Form in die Sache bringt; – mein August hat sich erst gestern auf meinen neuen Hut gesetzt, und ich habe natürlich in der letzten Nacht sehr schlecht geschlafen.

Solch ein Mensch! Ich meine den Herrn Paten. So unausstehlich, als ob die Welt wirklich nur für ihn allein geschaffen wäre und er hundert Jahre über das Vergnügen an ihr hinausgelebt hätte; so unausstehlich, als ob er sie gepachtet hätte und nun durch jammerhafte Unliebenswürdigkeit den Pachtschilling herunterdrücken wolle. Unausstehlich! Unausstehlich! Und um so unausstehlicher, als ich, Mathilde Sonntag, den Mann bereits darüber weggebracht habe; – ich habe ihm meine Meinung gesagt.

Ich heiße Mathilde, und fast zwanzig Jahre lang hieß ich Mathilde Frühling; dann aber nahm mich August, und es war aus und zu Ende damit, und recht schade war’s; denn mein Name war mir lieb, und es ist mir merkwürdig, genau wie kurz nach Neujahr, gegangen, wo man auch immer die alte Jahreszahl schreibt und sich in die neue nicht recht finden kann. Ich habe mich aber drein gefunden, und August kann mit mir zufrieden sein.

Wir waren ebenfalls unserer genug in unserer Eltern Haus wie in dem »Spinnennest« mit dem schwarzen Mohren vor der Tür und der Königin von Saba gegenüber – ein ganzes Nest voll Mädchen und ein Junge, aber ein lustiges, hungriges Nest, Gott weiß es. Mein Papa ist der Rektor Frühling in demselben Hohennöthlingen, welches der Herr Pate Griesgram in seiner so sonnenhaften Jugend durch seine angenehme Gegenwart als Akzessist, Auskultator oder sonstige Schreibmaschinerie so hoch geehrt hatte. Man weiß aber von ihm, dem Herrn Paten Brummbär, nicht das geringste mehr; er hat nicht einmal Schulden hinterlassen, und ich kenne niemand, der ihn vermißte. Mein armer Papa hatte seine liebe Not, meine arme Mama die ihrige, wir Mädchen hatten die unsrige, und unserm Otto war auch sein Päcklein aufgehalst. Wir hatten eine freie Wohnung neben der Bürgerschule und einen Garten daneben, in welchem meine Mutter Kohl und Rüben, mein Vater aber Rosen, Georginen und Aurikeln zog; wenn der Herr Pate Grämelmeier bei meinem Papa hätte in die Schule gehen können, so wär’s ein Segen für ihn gewesen. Sie sind jedoch in einem Alter, wie man’s nennt; beim rechten Licht besehen, ist aber der Herr Pate sozusagen als sein eigener Großvater zur Welt gekommen, verhutzelt, verschrumpfelt, mit einem ellenlangen Zopf, in Filzpantoffeln, mit einer baumwollenen Nachtmütze, einem Stockschnupfen, einer langen Pfeife und einer Warze auf der Nase, welche noch das Hübscheste und Lustigste an ihm ist. Er hat dasselbe auf einer seiner lästerlichen Seiten ganz gut gesagt, und dafür allein kann ich ihm für jetzt mein Kompliment machen.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß es solch eine Mohren-, Spinneweb-und Brummwirtschaft in der Welt geben könne, wie der Herr Pate beschreibt. Du liebster Gott, und wenn man auch allen Sonnenschein wegstreicht, so gibt es doch noch den Mond und die hübschen Sterne und die Lampe am Winterabend; – es ist soviel schönes Licht in der Welt, und der Herr Pate sollte sich recht aus dem Herzen schämen, und seine ganze Menschenfresserfamilie sollte sich mit ihm schämen. Du liebster Gott, und nachher geben sie dir die Schuld, wenn sie sich selber hinters Licht geführt haben. Es ist eigentlich zu lächerlich, als daß man sich darüber ärgern könnte; ich tue es aber doch.

Ach, wenn ich hier sitze in dem Getümmel, zwischen den grauen Mauern, im Rauch und Staub, und denke an meines Vaters Haus und wie ich noch vor so kurzer, kurzer Zeit saß, im Garten zwischen meiner Mutter Kohlköpfen und meines Vaters Rosenstöcken, eine richtige Jungfer im Grünen: so wird’s mir ganz weh ums Herz, und ich möchte gradaus heulen, wenn es nicht so dumm wäre und August mich nicht für eine so kluge Frau hielte. Man muß eben seinen guten Ruf aufrechtzuerhalten suchen, und so halte ich an mich, wenngleich jeder Spatz, der vor meinem Fenster mir von Hohennöthlingen vorzwitschert, mich bedauert. Ich will nun auch gleich über alle allzu hübschen herzbrechenden Erinnerungen weggehen und beschreiben, wie es kam, daß August Sonntag und ich einander bekamen. Es ging natürlich ganz natürlich zu, und wenn mir nicht zuviel anders dazwischenkommt, so werde ich die große und grausame Mordgeschichte mit Gottes Hülfe zu Ende bringen.

In einer Familie, in welcher viele Mädchen sind, weiß man von Rechts wegen ziemlich genau Bescheid von allen Vorgängen und dem, was man spricht in der Stadt und auf zwei Meilen in der Runde. Und was man selbst nicht einholt, das bringen einem die Freundinnen ins Haus; es könnte sonst auch niemand aushalten, und es wäre manchmal herzlich langweilig, vorzüglich im Winter, in den heißen Hundstagen, im Herbst und um Ostern, wenn’s schlechtes Wetter ist und die Sonne nicht über den Zaun kann. Man wächst sozusagen in alle Geschichten hinein; erst spielt man mit seiner Puppe, wird für ein dummes Ding gehalten und hört zu, wenn die Tante Friederike, die großen Schwestern oder die andern jungen Damen erzählen, und man nimmt es sehr übel, wenn man mit der Puppe aus der Tür geschoben und in den Garten oder auf die Gasse hinausgeschickt wird. Man setzt sich im letztern Fall auf die grüne Bank oder die Treppenstufe, unterhält sich schmollend mit der Docke und nimmt sich vor, wenn am Abend der Vetter Richard kommen wird, um der Schwester Anna das Garn zu halten, recht naseweis und unartig zu sein. Wenn man seinen Racheplan nicht vergißt bis zum Abendessen, so führt man ihn aus, und der Papa lächelt hinter der Zeitung, die Mama weiß nicht, was sie sagen soll, die Schwestern kichern, und Anna wird rot und böse und verlegen und möchte uns am liebsten am Kopf nehmen; der Vetter aber, der eigentlich gar kein Vetter ist, sondern nur so genannt wird, weiß gar nicht, was er mit sich anfangen soll; er möchte etwas sagen, kommt aber nur zu einem lächerlichen Husten – alles wird lächerlich an ihm; und wenn man nun ins Bett geschickt wird, so geht man mit Triumph ab, man hat es tüchtig gezeigt, daß man doch nicht das »dumme Ding« ist, für welches man gehalten wird. Wer eine Meinung haben will, der muß sie sich früh bilden, und ich habe meine Meinung.

Der Vetter Richard, der gar kein Vetter war, hat richtig meine Schwester Anna geheiratet, und wir stehen uns sehr gut miteinander, und er weiß, daß er mir dankbar sein muß, denn ich habe das Meinige dazu getan, ihm zu dem Seinigen zu verhelfen. Er war so gutmütig, so verlegen, so grenzenlos blöde, daß es ein Elend und Jammer war; und obgleich er damals über fünfundzwanzig Jahre zählte und ich nur zehn, so hätte ich mich doch geschämt, so dumm zu sein wie er.

Fünf Jahre waren der Vetter Richard und die Schwester Anna miteinander verlobt. Als sie heirateten, war ich fünfzehn Jahre alt, und über das, was ich in den fünf Jahren gelernt habe, könnte ich ein Buch schreiben, zwanzigmal dickleibiger als mein jetziges Wirtschaftsbuch.

Sie hatten sich so lieb! Es war so rührend! Es war soviel Seele darin, und es war so spaßhaft, wenn sie sich gezankt hatten und jeder aufs erste gute Wort vom andern wartete.

Manchmal war’s freilich auch so langweilig, daß es nicht zum Aushalten war; der Vetter Richard hatte Zeiten, in welchen er gar nicht interessant war, Zeiten, in welchen man ihn nur als einen »guten Menschen« ertragen konnte. Ich könnte von Abenden erzählen, an welchen die ganze Familie Frühling wie ein Licht nach länglichem, bänglichem Aufflackern ausging, bis aufs Liebespaar, welches unbegreiflicherweise im Winkel wach und munter blieb und sich um nichts kümmerte als um sich selber.

Daß mein Papa sich noch nicht zu Tode gegähnt hat, ist wirklich ein Wunder. Dreimal mußte er diese Verlobungsperiode durchmachen, und vielleicht steht ihm das Glück noch ein halb dutzendmal bevor. Richard und Ännchen, Karl und Theodore und ich und August haben uns arg an ihm versündigt, und mein einziger Trost ist nur, daß wir ihm zu so manchem guten Schläfchen in der Sofaecke verholfen haben. Wenn das junge Volk meiner Schwestern im Brautstand unterhaltender ist und die zukünftigen Herren Verlobten nicht so einseitig langweilig sind, soll’s mich freuen; ich habe aber meine gelinden Zweifel in dieser Hinsicht.

Ännchen ist eine Brünette und verständig, Theodore ist eine schmachtende Blondine, ich bin so schwarz wie möglich und nicht so vernünftig, als ich sein sollte; aber so schlecht und schlimm, als mich Marie und Helene Weinlich, im Eckhaus gegenüber, machten, bin ich doch nicht – Gott und August sind meine Zeugen. Ich weiß auch gar nicht, wie ich auf die Fräulein Weinlich komme; ich wollte nur sagen, daß mein lieber Papa zu der Freude, die er an seinen hübschen und anständigen drei ältesten Töchtern hatte, noch das Vergnügen haben konnte, seine Brautleute aus dem Grunde nach allen ihren Arten und Eigenschaften zu studieren.

Es ist keine Kleinigkeit, als fünfzehnjähriger Backfisch eine Schwester zu verheiraten, es ist eine merkwürdig feierliche, zitterige, tränenhafte, geheimnisvolle, närrische Sache, und wer es nicht selbst durchgemacht hat, der glaubt es nicht, und was die Männer anbetrifft, so sollten sie sich schämen, zu lachen und die Achseln zu zucken über Dinge, die sie nicht im mindesten verstehen und über welche sie sich ein Urteil anmaßen wie über alles Sonstige, was zwischen Himmel und Erde zu finden ist oder passieren kann.

Man ist gar kein Mensch mehr am Polterabend. Erst hat man ein Jahr lang genäht, gestickt, gestrickt, gehäkelt wie toll und blind, um alles in Ordnung zu bringen, was sein muß; dann hat man zwischen Lachen und Weinen der Braut am Brautkleid geholfen und hat dazu die große Wäsche gehabt; dann hat man Kuchen gebacken und Torten und alles mögliche, hat Kränze gewunden für die Türpfosten und ist treppauf und -ab gejagt worden, die Leiter hinauf und hinunter, und der Bräutigam hat einem das letzte Stückchen gesunden Menschenverstandes, das man noch gerettet hatte, durch seine Zudringlichkeit ausdrangsaliert, und dann ist man fertig. So fertig und so weich, daß man die Anna nicht ansehen kann, ohne in das helle Schluchzen auszubrechen, so fertig, daß es einer ganz einerlei ist, was man über eine denkt und was der Papa und der Bruder Studio, der von der Universität zur Feierlichkeit und zum großen Essen gekommen ist und zum erstenmal einen Bart mitbringt und natürlich eine noch viel bessere Meinung von sich hat, als er von Hause mitnahm, zu einer sagen.

Der Papa ist wie ausgewechselt, und sogar die Mama muß sagen, daß sie ihn gar nicht mehr begreift, und er sollte es doch besser wissen und dem albernen Jungen, dem Otto, nicht mit einem solchen schlechten Beispiel vorangehen. Es zeigt sich aber wieder, daß kein Mann weiß, was sich schickt, und daß es das beste ist, an solchem Tage zu tun, als ob sie gar nicht in der Welt seien, und höchstens den Bräutigam ein wenig im Auge zu behalten, da dieser doch wenigstens etwas gerührt ist und für ein paar Stunden einen Begriff davon bekommt, wie viele Umstände seinetwegen gemacht werden und daß er im Grunde sehr Ursach habe, sehr dankbar und fromm und gut zu sein. Ich muß meinem August auch nachsagen, daß er wußte, was sich gehört; doch das gehört nicht hierher, da ich noch bei Annas Hochzeit bin, wo ich erst fünfzehn Jahre alt war und noch nicht für voll gerechnet wurde, welches eine Redensart ist, die damals der Bruder Otto samt seinem Bart von der Universität heimbrachte und welche er mir natürlich nicht ersparte.

Daß man in der Kirche seiner Gefühle nicht Herr ist und die Rede des Pastors, der ‘s Brautpaar zusammengibt, durch Rührung stört, ist eine so natürliche und bekannte Geschichte, daß es wahrhaftig nicht noch immer der Mühe verlohnt, darüber zu lachen, wie alle Herren nachher beim Wein tun. Man sollte uns doch endlich unsere Batisttaschentücher in Frieden zum Trocknen aufhängen lassen; man sollte doch endlich einsehen, daß es unmöglich ist, an dieser Stelle noch geistreich sein zu können!

Zu Theodores Trauung, welche zwei Jahre nach Annas erstem Kinde stattfand, nahm ich zwei Taschentücher mit in die Kirche; und dann – kam ich an die Reihe, und es ist ewig schade, daß die Tante Friederike nicht Papst geworden ist; denn ein infallibeleres Frauenzimmer gibt’s nicht, und sie hatte es vorausgesagt; an Helene und Marie Weinlich, im Eckhause gegenüber, kann ich aber nur mit Lachen denken; denn von dem, was sie vorhergesagt hatten, ging gar nichts in Erfüllung, und eigentlich war’s ein Glück; denn es war gar nichts Hübsches und wäre für mich in der Tat recht unangenehm gewesen, wenn Gott es so gewollt hätte.

Auf Theodores Hochzeit hatte August das Glück, meine Bekanntschaft zu machen, und ich machte die seinige, und etwas Besonderes fand ich nicht an ihm; aber er tanzte recht schlecht und sah für einen jungen Arzt ohne Praxis recht anständig aus. Er wurde eingeladen, als Universitätsfreund des Schwagers Karl, er stattete vorher eine Visite ab, während welcher er ungemein wenig sagte; Karl versicherte uns, er sei ein »vortrefflicher Kerl«, ein »höchst anständiges und gescheites Haus«; aber Geld habe er nicht, denn sein Väterliches und Mütterliches habe sein Vater durchgebracht oder im Bankerott verloren, und seine Praxis sei bis jetzt noch nicht weit her. »Er ist noch zu jung zum Damenarzt, und ohne das geht es nicht«, sagte der Schwager Karl.

Beim Hochzeitsmahl nun saß der junge Doktor der Medizin nicht fern von mir, so daß ich ihn ziemlich genau beobachten konnte; sein Appetit und sein Durst waren gut, doch nicht ausschweifend. Er wurde sehr gesprächig gegen seine Nachbarinnen und stieß nur einmal ein Weinglas um; nach dem Essen wünschte er mir eine gesegnete Mahlzeit, und da wir zwei Geigen und eine Klarinette bestellt hatten, so forderte er mich zum Tanz auf, und ich konnte ihm leider den dritten Walzer nicht abschlagen.

Er tanzte sogar unbeschreiblich schlecht und setzte sich und mich gegen Ende des Vergnügens platt auf den Boden, wovon die Gesellschaft mehr Aufhebens machte, als nötig war. Ich ärgerte mich furchtbar; denn es ist keinem Menschen angenehm, wenn er ohne seine Schuld lächerlich gemacht wird, und wäre ich mit einer zerschlagenen Nase oder sonst einer Kopfverletzung aufgestanden und die Gesellschaft hätte mich bedauern müssen, so hätt ich mir nichts daraus gemacht; ich stand aber bloß mit einem großen Loch im Kleide auf, und so war es entsetzlich!

Erst nach zehn Minuten war ich meiner Gefühle so weit Meisterin, daß ich es über mich vermochte, mich nach dem Urheber des Ärgernisses umzusehen. Ich wollte ihn mit einem Blick, einem Tuttifrutti aus Haß, Zorn und Verachtung regulieren; als ich ihn aber in einem Winkel gefunden hatte, mußte ich doch lachen, und dann tat er mir leid. Die Rose war gebrochen, ehe der Sturm sie geknickt hatte; der Herr Doktor hingen nur noch am Stiel, und ich sagte zu meinem Bruder, der zu Theodores Trauung wiederum als Student, aber im letzten Halbjahr seiner Studentenschaft, gekommen war:

»Schicke ihn mir doch mal.«

Bruder Studio grinste, ging und brachte den Sünder, und ich zeigte mich als ein gutes Mädchen und meinen Charakter im hellsten Licht, und es kostete mich weniger Mühe, als ich mir fünf Minuten vorher noch eingebildet hatte. Ich sagte ihm meine Meinung, das heißt, ich tröstete ihn, und er war mir dankbar; aber nachdem er einige Zeit nach der Hochzeit den gewöhnlichen Anstandsbesuch abgestattet hatte, ließ er sich nicht wieder blicken und verschwand aus meinem Gesichtskreise, um nur dann und wann auf der Straße vor mir aufzutauchen. Bei solchen angenehmen Begegnungen grüßte er mich mit einer zitterhaften Höflichkeit und einem Erröten, welche ihm sehr gut ließen. Ich werde niemals und keinesfalls schriftlich gestehen, daß ich selbst errötete und mein Knicks bei solchen Gelegenheiten befangener gewesen sei als sonst; aber das kann ich sagen, daß ich den Jüngling für bescheidener und anständiger hielt als all das andere närrische Volk seines Alters, dessen sich die Stadt rühmte, deren Straßen und sonstige Gelegenheiten es unsicher machte.

So ging wieder ein Sommer meines jungen Lebens hin, und dann wurde es Herbst, und eines Tages im Herbst, als ich nähend am Fenster saß, kam ein Kerl, der einen Handwagen mit allerhand Hausgerät hinter sich herzog, und hielt gegenüber vor dem Eckhause, und beide Fräulein Weinlich beugten sich so weit als möglich aus dem Fenster, und ihre Mutter hätte sich schämen sollen, daß sie es litt. Auf dem Handwagen befand sich ein Büchergestell, zwei nicht sehr umfangreiche Koffer, allerlei Pfeifen-und Rapierkram, und hinter ihm her zog zu meiner allerhöchsten Verwunderung der Herr Doktor Sonntag, mit Recht verfolgt von verschiedenen Straßenjungen; denn er trug unter dem einen Arm einen Totenschädel und sonstiges Knochenwerk, welches er auch füglich im andern Logis hätte zurücklassen können, und unter dem andern ein Ding, welches aussah wie ein ausgestopftes Kind, aber keines war, sondern gottlob nur ein ausgestopfter Affe. Je länger die zwei Fräulein Weinlich die Hälse ausreckten, desto mehr zog ich mich ins Zimmer zurück, obgleich es nicht nötig war, da der Herr Doktor nicht einen Blick nach unsern Fenstern hinüberwarf. Er war mit andern Dingen beschäftigt und hatte genug mit sich selber zu tun. Der Kerl, welcher den Wagen gezogen hatte, war nicht mit seinem Trinkgeld zufrieden und gebärdete sich in Worten und Gesten unverschämt. Zwei Gläser fielen vom Karren herab, eins mit eingemachten Schlangen und eins mit eingemachten Fröschen, Kröten und Eidechsen. Die Straßenjugend war natürlich entzückt darüber und sprang und jauchzte, und aus jedem Fenster der Nachbarschaft blickte bald ein albern-neugieriges Gesicht. Mein gutes Herz und mein Anstandsgefühl empörten sich in mir; aber was sollte ich machen; ich konnte ihm doch seine Scherben und Scheusale nicht auflesen! Ich hielt es nicht aus, sondern lief in den Garten, nahm alle meine jüngern Geschwister mit und fing an, mit Eifer Bohnen abzupflücken, und kam erst dann zu meinem Nähzeug zurück, als der Jammer vorüber, die Straße gekehrt und der Herr Doktor bei den Fräulein Weinlich eingezogen war. Ob mir letzteres lieb war oder nicht, konnte ich damals nicht ganz genau sagen; heute jedoch bin ich überzeugt, daß ich mit dem Ding ganz zufrieden war; – man sieht aber aus der Ferne alles richtiger und verständiger an.

In der nächsten Zeit passierte nun nichts Erwähnenswertes; die alten Häuser der Gasse waren trotz des Ereignisses stehengeblieben; totgedrückt, zerquetscht und zertreten wurde glücklicherweise niemand infolge der großen Praxis des Herrn Doktors; wir spannen uns gemütlich in den Winter, und Helene und Marie Weinlich machten große Fortschritte in Hinsicht auf Geziertheit, Naseweisheit, und es wurde ihnen von ihren Verehrern eine Nachtmusik gebracht, welche der ganzen Stadt den halben Winter hindurch Stoff zur Unterhaltung gab und welche ich ihnen gönnte. Die über alle Schilderung komischen, lächerlichen Airs, welche sich die beiden lieben Dämchen am andern Morgen der Welt und meinem armen Fensterchen gegenüber gaben, hätten mich schon allein mit dem jähen musikalischen Schrecken und sonstigen nächtlichen Spektakel und Nichtwiedereinschlafenkönnen versöhnen können.

Doch meine Feder reißt mich, da ich einmal in diese Gegend gekommen bin, unwiderstehlich fort und bringt mich in aller Hast zu dem Ereignis, welches jetzt eintrat und mich von innen und außen so unvermutet und vollständig über den Haufen warf, daß ich heutigen Tages darüber noch nicht zu mir selber gekommen bin. Wenn es August nicht auch noch immer wie ein Traum ist, so müssen die Männer in der Tat aus anderm Stoff geformt sein als wir armen Frauenzimmer, was ich sonst nicht glaube.

Es war in der Woche vor Weihnachten, und es war ziemlich spät in der Nacht, und Papa und Mama waren zu einer großen Abendgesellschaft gebeten, und ich hatte die Kleinen zu Bett gebracht und benutzte die ruhige Stunde, um an die Schwester Anna zu schreiben, und konnte damit nicht fertig werden, da ich sehr viel weiß, wenn ich einmal angefangen habe. Nun war Lottchen, unser Kleinstes, den ganzen Tag durch nicht recht wohl gewesen, deshalb hatte ich die Tür zwischen der Schlafkammer der Kinder und der Stube, in welcher ich bei der Lampe saß, offengelassen, um gut Obacht zu haben und in jedem Augenblick zur Hand sein zu können. Den Glockenschlag hatte ich völlig überhört, draußen regnete es, doch nicht zu arg; ich war eben bei der sechsten Nachschrift, in welcher ich der guten Anna mitteilte, daß, alles in allem genommen, bei uns noch alles beim alten sei, als ich plötzlich zum Tode erschreckt vom Stuhl in die Höhe fuhr. Ich kannte den Husten in der Kammer leider ganz genau, denn ein Schwesterchen ist mir dran gestorben – es war nicht damit zu spaßen. In einem Sprung war ich neben dem Bettchen des Kindes, ich legte ihm die zitternde Hand auf die heiße Stirn, ich horchte auf das angstvolle Atmen und Röcheln in seiner armen kleinen Brust. Die andern Mädchen saßen auch schon aufrecht in ihren Betten oder waren bereits herausgesprungen, doch alle so schlaftrunken und verwirrt, daß nichts mit ihnen anzufangen war. Ich sprang die Trepp hinauf zur Kammer des Dienstmädchens, um dasselbe nach den Eltern und dem Doktor auszuschicken, doch konnte ich es nicht ermuntern. – Alles drehte sich um mich her. Ich beugte mich wieder über das Lottchen; – was sollte ich tun? Was sollte ich tun? In meiner höchsten Not schickte mir der liebe Gott die Idee, über die Straße zum Herrn Sonntag zu laufen, und es war mir ein Segen vom Himmel, als ich vorerst ans Fenster lief und die Lampe gegenüber noch brennen sah. Nun bedachte ich mich keinen Augenblick; es gab nichts in der Welt, was mich hätte aufhalten können. Ich war in der Gasse – der kalte Regen schlug mir ins Gesicht –, ich war drüben vor dem Haus der Fräulein Weinlich, und als ich nicht sogleich den Glockenzug fand, schrie ich aus Leibeskräften, allen mädchenhaften dummen Anstandsbegriffen zum Trotz, »Herr Doktor! Herr Doktor! Herr Doktor Sonntag!« zum dritten Stock hinauf.

Ob nun der junge Mensch da oben die Ohren mit Wolle, Watte oder Wachs verstopft hatte oder ob er so tief in seine medizinischen Studien, seine ausgestopften Affen, seine Kröten, Schlangen und seine Totengebeine vertieft war, daß er deshalb nicht hörte, konnte ich nicht wissen; aber das weiß ich, daß er mich vergeblich rufen ließ und daß in diesem Augenblick Madame Weinlich und Helene und Marie aus derselben Gesellschaft heimkehrten, in welcher sich mein Papa und meine Mama befanden, und daß sie mich naß, außer Atem und außer mir vor ihrer Tür fanden und nachher eine Geschichte daraus machten, die nicht wahr war. Sie verlangten höchstwahrscheinlich, daß ich ihnen aufs genaueste auseinandersetze, weshalb ich da in solchem Wetter und zu solcher Stunde stehe und den Doktor Sonntag zu sprechen wünsche, und als ich mich nicht damit aufhielt, hielten sie es nicht für ihre Pflicht, bei der Wahrheit zu bleiben, sondern stellten mich, meine Angst und Aufregung, meine nassen Zöpfe und Kleider, mein Geschrei und Suchen nach dem Glockenzug als sehr lächerlich hin.

Aber nun schien innerhalb des Hauses jemand die Treppe hinunterzufallen, und so war’s auch. Herr August Sonntag polterte herab. Er hatte nicht studiert oder Affen ausgestopft; er war über Knigges »Umgang mit Menschen« eingeschlafen, hoffentlich nicht, um sich dadurch auf einen nähern Umgang mit mir vorzubereiten, wurde auch, wie ich zu seinem Lobe sagen muß, sehr wach und lebendig, als er mich erblickte.

Hals über Kopf stürzte er mit mir über die Gasse zum Lottchen, und wir ließen die Familie Weinlich in dem Regen und der Verwunderung stehen, ohne uns weiter nach ihr umzusehen. Dann kam auch mein Papa und meine Mama, wir setzten dem Lottchen Blutegel, August lief mit dem Rezept, welches er geschrieben hatte, selbst nach der Apotheke, und als unser Hausarzt am andern Morgen kam, lobte er den jungen Kollegen recht und erklärte ihn für einen braven, geschickten und bescheidenen jungen Menschen, und ich tat dasselbe; es war auch nicht mehr als billig.

Wenn wir nach dieser Geschichte den Herrn Nachbar und Helfer in der Not nicht zu unserm Weihnachtsbaum eingeladen hätten, so hätten wir verdient, daß uns sämtliche Landpartien des folgenden Jahres verregnet wären, und so schickten wir unser Lottchen denn hinüber, den Doktor zu holen und ihm anzuzeigen, daß eine Weigerung unter keiner Bedingung angenommen werde. Er weigerte sich jedoch auch gar nicht; aber selbst das Kind hatte bemerkt, daß er wieder sehr verlegen geworden war.

»Er hat seine Dintenflasche auf die Erde fallen lassen, – o solch ein Klecks!« sagte Lottchen, als ich sie vorsichtig in der Speisekammer ausfragte. –

Wir feierten ein so heiteres Fest, wie wir es uns nur wünschen konnten, und August, das heißt der Herr Doktor Sonntag, versetzte die ganze Familie Frühling in ein heiteres Erstaunen wegen der gesellschaftlichen Talente, die er an diesem ewig denkwürdigen Abend entwickelte. Daß der närrische Mensch aber auch jetzt fortfuhr, gegen mich den Schüchternen zu spielen, war, grade herausgesagt, lächerlich, zumal da mich die jüngern Schwestern, die jetzt auch anfingen, eine Rolle gegen mich zu spielen, mich deswegen arg anließen und wissen wollten, weshalb ich den armen guten Herrn Sonntag so abstoßend behandele. Es war die allerhöchste Zeit, daß wir uns verlobten, und dies taten wir zu Ostern, nicht beim Veilchenpflücken und nicht beim Suchen der Eier, die der Has’ legt, sondern beim Pflücken der neunerlei gesunden Kräuter, welche den ersten Kohl geben.

Wir gerieten uns über die neun Kräuter hinter der Hecke in die Haare; denn der Herr Doktor wollte verschiedene nicht als allzu gesund gelten lassen, und darüber kam’s heraus und wurde fertig. Wir kamen nach Hause und waren sehr rot und verlegen; und am Abend sprach ich mit meiner Mutter, meine Mutter sprach mit meinem Vater, und August sprach am andern Morgen mit meinem Vater und meiner Mutter und hat sicher sehr gestottert. Sie aber sprachen mit ihm, worauf ich gerufen wurde und jetzt gestehen will, daß ich noch niemals vorher in meinem Leben eine solche Angst ausgestanden hatte; aber die beiden Fräulein Weinlich wären doch fast in Stücke gefallen, als sie die Neuigkeit vernahmen.

Herr Jesus, es ist wirklich ein großes Wunder, daß ein armes Mädchen, welches doch nichts für sein gutes Herz kann, über so viele Unannehmlichkeiten wegkommt und zuletzt, wenn alles wieder seinen ruhigen Gang geht, es gar nicht anders haben will. Es ist wahrhaftig keine Kleinigkeit, sich zu verloben, und ein ganz ander Ding, als sich zu verlieben.

Aber ich hatte nun einmal getan, was ich nicht lassen konnte, und fügte mich in christlicher Ergebung in das Unvermeidliche. Ich hatte mein Teil fürs Leben und mußte mich drein finden, das Unangenehme zu dem Guten mit in den Kauf zu nehmen; ich war unbeschreiblich glücklich trotz aller Verwirrung und Tränen, trotz alles Rotwerdens und aller Fräulein Weinlich im ganzen Städtchen. Heißa, war’s nicht ein lustiger Spaß, daß der Schatz im Hause der Fräulein Weinlich wohnte und daß ich ihn daselbst, ohne den Anstand zu verletzen, besuchen durfte, wenn ich eine von meinen jüngern Schwestern als Ehrendame mit hinübernahm? Was für närrische Sprünge haben wir unter den einmarinierten Fröschen, den ausgestopften Ungeheuern und Gespenster-Skeletten ausgeführt! Es war ein so netter Frühling und Brautstand, wie man es sich nur wünschen mochte, und wo die andere Menschheit nichts sah und hörte, da wurde uns zum Tanze aufgespielt, weswegen man denn auch von uns behauptete, wir seien schrecklich langweilig und es sei eine Qual, den Tag in unserer Gesellschaft hinzubringen, worüber ich weiter oben, als von Annas und Theodores Brautzeit die Rede war, bereits meine Meinung gesagt habe, denn billig muß der Mensch sein.

Wie voll uns der Himmel nun aber auch von Geigen hing, mein guter Papa meinte, die Sache habe doch auch ihre bedenkliche, ihre nachdenkliche Seite, und das war die pekuniäre. Wir Brautleute hatten viel mehr Vertrauen als Geld, das war richtig, aber ob wir nicht dazu das Recht hatten, das steht zu fragen, und da eben das Kind schreit, so will ich August darüber das Wort geben, obgleich es mir schwer aufs Herz fällt, daß ich doch eigentlich über den Paten Hahnenberg und nicht über mich, Frau Mathilde Sonntag geb. Frühling, schreiben wollte. –