17. Kapitel

Bea Bishop hat das Gefühl, in der Zeit zurückzureisen …

Vorsichtig ziehe ich das Rollo nach oben und blinzle in die frühmorgendliche Sonne. Ich blicke aus dem Fenster des Gästezimmers auf den Greenwich Park und warte, bis die Haustür zuschlägt und ich weiß, dass Milly und Jay zur Arbeit gegangen sind. Früher, als Milly und ich hier zusammengewohnt haben, ist dies mein Zimmer gewesen. Ich blicke hinaus auf die prallen Frühlingsblüten und das leuchtende Grün des Laubs. Oben auf dem Hügel erblicke ich die alte Sternwarte, das Royal Observatory, das über die Wipfel der Bäume hinweg gerade noch zu sehen ist. Ich bilde mir ein, ich könnte fast die berühmte Shepherd Gate Clock mit dem 24-Stunden-Ziffernblatt sehen. Mir scheint, als wäre in dem Moment, als ich von meiner Hochzeit davongelaufen bin, der Zeitball hinuntergefallen, und als würden sich seither die Zeiger langsam rückwärtsbewegen, genau wie mein Leben.

Seufzend hebe ich meinen Laptop vom Boden auf, springe aufs Bett, öffne Facebook und gebe Adams Namen in das Suchfeld ein. Als sein Gesicht auf meinem Bildschirm erscheint, zieht sich mein Herz zusammen. Ich sehe sein Bewerbungsfoto von vor fünf Jahren, als er als Kundenbetreuer bei Hudson & Grey angefangen hat. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug und ein makelloses weißes Hemd, an dem der oberste Knopf geöffnet ist, und er blickt direkt in die Kamera. Ich stütze mein Kinn in die Hand und starre auf seine dunklen, sorgfältig gestylten Haare. Er ist glatt rasiert und sieht durch und durch wie der erfolgreiche Geschäftsmann aus, den seine 512 Facebook-Freunde, seine Familie und seine Kollegen kennen und lieben. Aber ich weiß, dass das nicht Adam ist. Dieser seriöse »Anzug« ist nicht der Mann, neben dem ich sieben Jahre lang aufgewacht bin, der zärtlich und liebevoll war, der mich heftig zum Lachen bringen konnte, der auf Wunsch für mich nackt Karaoke sang, der keinen Rotwein verträgt, weil er dann sofort betrunken ist, und der tolle Fischstäbchen-Sandwichs machen kann. Der Mann, der mir, als wir uns kennenlernten, das Gefühl gab, ich sei das Wichtigste in seinem Leben. Der Mann, der mir immer das Gefühl gab, dass er mich überall hintragen könnte – nur, dass ich nicht wusste, wohin ich wollte.

Ich öffne mein E-Mail-Postfach und klicke auf »Neue Nachricht verfassen«. Ich habe das Bedürfnis, Adam zu schreiben und ihm mein Verhalten besser zu erklären, als ich es in der Kirche konnte. Das hat er verdient. Ich finde den Gedanken schrecklich, dass ich ihn verletzt habe, und will ihm zumindest etwas Klarheit verschaffen, damit er nach vorn schauen kann. Ich beginne zu tippen, und die Worte fließen ebenso frei aus mir heraus wie meine Gefühle.

Lieber Adam,

ich erwarte nicht, dass du mir auf diese Nachricht antwortest. Nach dem, was ich getan habe, wäre ich vielmehr nicht überrascht, wenn du sie sofort löschen würdest. Ich hoffe trotzdem, dass du die Kraft findest, sie zu lesen, weil ich dir noch mal sagen will, wie leid es mir tut. Das klingt so leer, nicht? Tut mir leid. Es kann einem leidtun, dass man jemanden angerempelt hat, dass man einen Anruf verpasst hat – aber wie können diese Worte wiedergeben, was ich empfinde, nachdem ich unsere Beziehung, unsere Zukunft zerstört habe?

Vom ersten Moment an, als wir uns kennengelernt haben, hast du mich glücklicher gemacht, als ich es je für möglich gehalten habe. Glücklicher, als ich es verdient habe. Aber das ist immer das Problem gewesen. Ich glaube nicht, dass ich dich verdiene. Du bist ein großartiger, liebevoller, netter, aufmerksamer Mann. Du bist so aufgeräumt, so fähig, und du hast mir immer das Gefühl gegeben, bei dir sicher zu sein und von dir geliebt zu werden. Ich habe es geliebt, von dir geliebt zu werden – und von dir umsorgt zu werden. Du hast mir das Gefühl gegeben, dass, solange ich bei dir war, alles andere egal war. Sieben wundervolle Jahre lang hast du dafür gesorgt, dass ich mir nie um etwas Sorgen machen musste. Doch als ich in der Kirche auf den Altar zugeschritten bin, ist mir klar geworden, dass es nicht richtig ist, sich einfach an jemanden dranzuhängen, der einen klaren Weg vor sich hat. Wir haben nur ein Leben, Adam, eine Chance, es richtig zu machen, und ich habe mich zu lange hinter dir versteckt. Du hast meine Gegenwart so perfekt gemacht, dass ich mich nicht mit meiner Vergangenheit auseinandergesetzt habe – oder damit, wer ich künftig sein will. Jetzt weiß ich, dass ich Verantwortung dafür übernehmen muss, wer ich bin und wer ich sein will, bevor ich mich an jemanden binden kann.

Ich weiß, ich darf dich nicht bitten, auf mich zu warten, aber du sollst wissen, dass deine Liebe mich besser, stärker und glücklicher gemacht hat, als ich es je ohne sie hätte sein können. Und darum wird ein Stück von meinem Herzen immer dir gehören.

Küsse, Bea

Schluchzend drücke ich auf Senden. Ich weiß nicht, ob ich das Richtige getan habe, und ich fühle Sehnsucht, während mein Blick noch einen Moment länger auf Adams Foto ruht. Was er wohl denkt? Ich wünschte, er wäre öfters auf Facebook, aber sein Profil und sein Status sind unverändert, seit er seinen Beziehungsstatus in »verlobt« geändert und ein Status-Update geschrieben hat, in dem stand: »Bea Bishop hat endlich Ja gesagt!« Kein Macho-Gehabe, keine geschmacklosen Witze zum Thema Ring überstreifen. Die Kommentare darunter sind alle voller Freude – von den Menschen, die Adam lieben. Die uns zusammen geliebt haben.

Und dann klicke ich auf meine Timeline. Ich scrolle immer weiter zurück und lasse mein Leben vor meinen Augen vorbeilaufen, bis ich endlich da bin.

17. September 2006

Meine erste Statusmeldung. Ich erinnere mich noch gut daran, weil ich in jener Woche hier bei Milly eingezogen bin. Milly hatte mir versichert, das soziale Netzwerk Facebook sei die größte Errungenschaft für unsere Generation. Natürlich habe ich ewig gebraucht, um zu entscheiden, was zum Teufel ich als meinen ersten Status poste. Nachdem ich fast eine Stunde gegrübelt hatte, tippte ich:

Bea Bishop hat’s jetzt auch.

Nachdem ich das gepostet hatte, brach Milly vor Lachen zusammen, weil sie meinte, es würde sich anhören, als spräche ich von meiner Periode. Ich versuchte, es zu löschen, konnte aber nicht herausfinden, wie das geht, und Milly wollte mir nicht helfen – sie meinte, es sei zu lustig, um es zu ändern.

Am selben Abend lernte ich Adam kennen.

Ich blicke auf meine Seite mit der ersten Statusmeldung. Das Datum, meine Erinnerung an die erste Begegnung mit Adam und die Tatsache, dass ich jetzt wieder in dieser Wohnung zurück bin, sind ab jetzt unauflöslich miteinander verbunden.

Ich blicke auf das Update, das ich an dem Morgen gepostet habe, nachdem ich Adam zum ersten Mal begegnet war:

Bea Bischop hatte gerade den besten Abend ihres Lebens – mit Milly Singh.

Darunter stehen drei Kommentare:

Milly Singh: Mir hat deiner nicht so gefallen. Groß, dunkel, gut aussehend, klug … Bäh!

Bea Bishop: Und darum sind wir beste Freundinnen – bei Männern haben wir einen komplett unterschiedlichen Geschmack! Clever, gerissen und cool passt zu dir. Apropos, wann siehst du Jay wieder?

Milly Singh: Jetzt! ;–)

Ich finde es noch immer toll, dass ich an jenem Abend überhaupt ausgegangen bin. Ich hatte zu Hause bleiben wollen, aber trotz meines Protestes schleifte Milly mich mit in die Greenwich Tavern. Der Pub lag gegenüber dem Greenwich Park und hatte einen reizenden kleinen Hof mit weiß getünchten Wänden, die mit bunten Tulpen bemalt waren.

»Das ist nicht weit, Bea. Irgendwann musst du wieder raus. Du bist fast dreiundzwanzig. Du kannst dich nicht für immer vor der Welt verstecken. Das ist nicht gesund …«

Sie hatte mir versprochen, nicht von meiner Seite zu weichen, ließ mich dann jedoch allein, um uns an der Bar etwas zu trinken zu besorgen. Und so saß ich dort und versuchte, meine Panikattacke unter Kontrolle zu bringen und in meinem dunklen Tunnel, in dem ich gefangen war, zu atmen. Ich versuchte, mir einzureden, dass alles okay war. Dass ich das schaffen konnte. Ich befand mich nur in einem Pub, keine große Sache. Doch immer wieder stiegen Wellen der Angst und Übelkeit in mir auf. Ich verdiente es nicht auszugehen, sagte ich mir. Nicht nach dem, was passiert war. Welches Recht hatte ich, mir ein neues Leben aufzubauen?

Obwohl ich derart mit mir beschäftigt war, bemerkte ich Adam sofort – es war schwer, ihn nicht zu bemerken. Es war ein lauer Septemberabend, und er trug ein kurzärmeliges weißes Hemd, das seine pechschwarzen Haare betonte. Als er sich die Locken zurückstrich, die ihm in die Augen fielen, betrachtete ich unwillkürlich die gebräunten Muskeln an seinen Armen und war vorübergehend von seiner Uhr geblendet, die in der Abendsonne glänzte. Da blickte er zu mir, und silberne Funken blitzten in seinen Augen auf. Er schenkte mir ein süßes schiefes Lächeln, das irgendwie nicht zu seinem extrem guten Aussehen passte und mir einen Einblick in seine Seele zu gewähren schien. Sofort bekam ich heftiges Herzklopfen, wandte den Blick ab und tat, als würde ich intensiv etwas in meiner Tasche suchen. Als ich wieder aufsah, stand er direkt vor meinem Tisch. Ich konnte kaum atmen. Geschweige denn sprechen.

»Hallo«, sagte er schlicht.

Ich antwortete nicht.

»Darf ich dich auf …?«

»Kein Interesse«, entgegnete ich knapp, als ich schließlich meine Stimme wiederfand.

Er wirkte zunächst verblüfft, dann erschien ein breites, unwiderstehliches Lächeln auf seinem Gesicht, das sich zu einem Lachen auswuchs und mich ebenfalls zum Lachen brachte. Doch dann fasste ich mich wieder, faltete spröde die Hände auf dem Tisch und wandte den Blick ab.

In dem Moment kehrte Milly in Begleitung eines kleinen Mannes von der Bar zurück, mit dem sie sich lachend unterhielt. Er hatte wuscheliges rotes Haar, trug eine dunkel gerahmte Brille, Kapuzenpulli und Jeans und wirkte etwas deplatziert neben Milly in ihrem businessmäßigen Designerkostüm und mit dem seidenglatten, schimmernden Haar.

»Bea! Das musst du dir anhören! Dieser Mann hat mich gerade vor einer schrecklichen Anmache gerettet …« Sie schnurrte das Wort »Mann«, und Jay errötete heftig. »Oh, hallo!« Als sie Adam bemerkte, der sich an unserem Tisch herumdrückte, schien sie überrascht. Sie blickte erst zu mir, dann zu ihm und hob peinlicherweise deutlich sichtbar den Daumen. Dann beugte sie sich zu mir, raunte »Bea Bishop hat’s jetzt auch!« und stellte mir anschließend Jay vor.

»Bea, das ist Jay. Jay, das ist Bea. Und wer bist du, wenn ich fragen darf?«, wandte sie sich an Adam.

»Das kann ich beantworten«, erwiderte Jay und steckte grinsend die Hände in die Hosentaschen. »Das ist Adam, mein schrecklich attraktiver, erfolgreicher bester Freund, der alles, was ich tue, in den Schatten stellt. Das ärgert mich zwar maßlos, aber ich brauche ihn, weil sich gezeigt hat, dass sein krankhaft gutes Aussehen die Macht besitzt, den Fluch der Rothaarigen zu brechen.« Milly und ich blickten einander an und lachten, und Jay fuhr übertrieben bescheiden fort: »Als ich anfangs mit ihm ausgegangen bin, haben die Mädchen tatsächlich mit mir geredet! Vielleicht wollten sie nur an ihn herankommen, aber seitdem habe ich ihn nicht mehr aus den Augen gelassen. Schlau, was?«

»Ich hab mit dir geredet, ohne ihn gesehen zu haben«, bemerkte Milly.

Adam setzte sich neben mich auf die Bank und stupste mich an, während Milly und Jay begannen, sich vertraulich miteinander zu unterhalten. Es war, als wären sie in einem Paralleluniversum verschwunden, in dem niemand außer ihnen existierte. Da Milly das Großstadtleben gewohnt war und zudem gut aussieht, ist sie Männern gegenüber nie sonderlich schüchtern gewesen. Aber noch nie hatte ich sie mit einem Mann so entspannt, so locker erlebt wie an jenem Abend mit Jay.

»Tja, das ist jetzt ein bisschen peinlich«, sagte Adam. Meine Haut prickelte, als sein Bein meins berührte.

»Mhmm«, erwiderte ich. Ich trank einen Schluck Wein, wandte ihm den Rücken zu und durchwühlte erneut meine Tasche.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Adam. Ich sah ihn irritiert an. »Ich meine, suchst du etwas?«, führte er mit einem Lächeln aus, und ich weiß noch, dass ich das Gefühl hatte, gerade meine Zukunft gesehen zu haben. Eine andere, deutlich bessere Zukunft als die, die ich mir bis dahin vorgestellt hatte.

Ich sah plötzlich diese andere Zukunft vor mir, weil ich von einem überwältigend intensiven Gefühl erfasst wurde, dass sich hier gerade eine bessere, sicherere, glücklichere Alternative bot – trotz all meiner Ängste und obwohl ich mir geschworen hatte, mich nie wieder zu verlieben, nicht meinem Herzen zu folgen, mich vor Verletzungen zu schützen und ein Leben ohne Risiken zu führen. Ein Leben, das keine Entscheidungen erforderte. Ich musste nur meinen Mut zusammennehmen und mich trauen …

»Schon gut.« Ich lächelte schüchtern. »Hab’s schon gefunden.« Ich hielt einen Stift hoch, meinte aber eigentlich nicht ihn.

Dann fing Adam eine lockere Unterhaltung an, und ich hörte ihm gern zu. Er war ehrlich und lustig. Er versuchte nicht, mich zu beeindrucken, sondern zeigte mir sein wahres Ich. Nach und nach öffnete ich mich ebenfalls. Ich erzählte ihm nicht von meinem Zusammenbruch – oder was mit Kieran passiert war –, ich wollte ihn nicht verschrecken. Doch ich berichtete ihm, dass mein Leben im letzten Jahr plötzlich eine andere Wendung genommen und es mich nach London verschlagen hatte. In eine Stadt, von der ich nie gedacht hatte, dass ich hier einmal wohnen würde.

»Ich finde es gut, dass du den Mut dazu hattest«, sagte er bewundernd, als ich zu Ende erzählt hatte. »Ich wusste immer genau, was ich als Nächstes tun würde. Auf welche Uni ich gehe, mit wem ich zusammen sein werde – zusammen war. Es ist, als sei alles akribisch geplant, bevor ich überhaupt eine Chance habe, mir eine Meinung zu bilden.« Er wirkte niedergeschlagen, wehmütig.

»Na ja, ich würde mir eine solche Sicherheit in meinem Leben wünschen«, erwiderte ich. »Ich würde schrecklich gern wissen, was als Nächstes passiert.«

Wir blickten einander an, und ich hatte das Gefühl, dass wir in jenem Augenblick den Schweif desselben Kometen ergriffen. Einen, den man nur einmal in seinem Leben sieht. Dann, als wäre uns die Bedeutung des Moments plötzlich bewusst geworden, kippten wir unsere Getränke hinunter und blickten zu Milly und Jay hinüber. Die beiden unterhielten sich weiterhin intensiv miteinander und steckten wie Eicheln an einem Ast die Köpfe zusammen. Erneut wandten wir uns einander zu und sprachen darüber, dass der Pub gleich schließen würde. Und als wir kurz darauf wieder zu Milly und Jay sahen, küssten sie sich und befanden sich praktisch in der Horizontalen.

Es überraschte mich nicht. Wenn Milly weiß, was sie will, nimmt sie es sich … Uni, Männer, Jobs, Wohnungen. Im Bruchteil einer Sekunde trifft sie lebenswichtige Entscheidungen – nicht ohne jedoch in dem Moment jede einzelne Möglichkeit erwogen zu haben und genau zu wissen, wo sie am besten investiert. Darum ist sie so unglaublich gut in ihrem Job. Ich hingegen habe immer gewartet, bis ich mir absolut sicher bei etwas war.

Adam und ich verabschiedeten uns etwas ungelenk voneinander. Doch er fragte mich, ob er mich wiedersehen könnte, worauf ich mit einem ausweichenden »Vielleicht« antwortete, weil ich mich noch nicht einmal dazu entschließen konnte. Obwohl es mir Spaß gemacht hatte, mich mit ihm zu unterhalten, und ich mich in den wenigen Stunden mit ihm mehr wie ich selbst gefühlt hatte als seit Monaten. Obwohl ich Adam sofort mochte und mich zu ihm hingezogen fühlte – vielleicht mehr als je zuvor zu einem Mann –, hielt mich etwas zurück. Ich konnte einfach nicht die Angst davor überwinden, was passieren könnte, wenn ich mich auf ihn einließ.

Mein Magen knurrt. Widerwillig löse ich mich vom Computer und tappe nach unten, wobei mich das Geräusch meiner Füße auf den nackten Holzdielen an das Ticken einer Uhr erinnert. Ich gehe in die Küche, öffne den Kühlschrank, werfe einen Blick hinein … und sehe diverse Champagnerflaschen ordentlich nebeneinander aufgereiht, doch nichts Anständiges zu essen. Es hat sich nichts geändert. So war es auch, als wir damals zusammenwohnten. Milly war immer zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, um Essen einzukaufen, und ich hatte kein großes Interesse am Essen. Ich hole eine wilde Mischung von Snacks aus dem Kühlschrank: eine Dose Guacamole, ein paar Oliven und etwas Blauschimmelkäse. Im Schrank finde ich Cracker. Ich stapele alles übereinander, hole Messer und Teller aus der Schublade und nehme es mit nach oben.

Ich werfe mich aufs Bett, tauche einen Cracker in die Guacamole und beiße ab, während ich zu meinem nächsten Posting scrolle. Es war eine Woche nach unserer ersten Verabredung. Adam hatte mich zu einem Picknick im Rosengarten des Greenwich Parks abgeholt.

Bea Bishop hatte gerade das beste Date aller Zeiten.

Ich schließe die Augen und verliere mich in der Erinnerung, wie wir damals Frisbee gespielt haben und Adam mir imponieren wollte. Ich war davon überzeugt, dass er extra so hoch sprang, um mir seinen gebräunten, trainierten Bauch vorzuführen, wenn das T-Shirt dabei nach oben rutschte. Ich hingegen wurde daran erinnert, warum ich jede Sportart außer Laufen mied. Als ich das Frisbee warf, blieb es prompt in einem Baum hängen.

»Ich hole es«, sagte Adam, doch ich hielt ihn zurück.

»Auf keinen Fall!«, erwiderte ich. »Ich hab geworfen, dann kann ich ganz sicher auch dort hinaufklettern und es wieder herunterholen.«

»Okay, wenn du darauf bestehst.« Adam hob die Brauen, und ein Lächeln umspielte seine Lippen, während er mit seinen Händen eine Räuberleiter für mich bildete, von der aus ich den ersten Ast erreichen konnte.

»Gleich hab ich’s!«, sagte ich, als ich den Fuß auf den nächsten Ast stellte. »Nur noch ein ganz … kleines … Stückchen … höher.«

»Lass dir Zeit«, rief Adam von unten. »Der Ausblick von hier ist toll!«

Ich blickte hinunter und geriet gefährlich ins Wanken, als ich merkte, dass der fließende Rock, zu dem Milly mir geraten hatte, mehr freigab, als mir lieb war.

»Ziemlich frech!«, rief ich und lachte, als er erwiderte: »Das hab ich auch gerade gedacht!«

Ich zog mit einer Hand den Rock um meine Schenkel, streckte mich noch mal und holte dann das Frisbee herunter, wobei ich das Gleichgewicht verlor und rücklings in Adams Arme fiel. Ich war atemlos vor Aufregung, als er seine Stirn an meine lehnte.

»Ich bin wirklich eine Niete im Werfen«, murmelte ich.

»Kann sein, aber du bist ein unglaublicher Fang.«

Dann zog er mich auf den Boden hinab, drückte mich gegen den Baumstamm, bewegte quälend langsam die Lippen zu meinen und küsste mich zärtlich. Die Äste des Baums hingen bis auf den Boden und bildeten unsere eigene kleine geheime Höhle. Die Sommersonne schien durch die Zweige, sodass ich von außen ebenso glühte wie von innen. Es war ein Kuss, der Glück verhieß. Seltsam, wie sich die Dinge ändern können. Schnell scrolle ich zu einer späteren Statusmeldung.

Bea Bishop zieht mit einem Kerl zusammen!

In meinem Kopf spule ich zu dem Moment vor, in dem ich zugestimmt habe, mit Adam zusammenzuziehen. Damals waren wir schon zwei Jahre zusammen. In den Monaten davor hatte Adam ordentlich Dampf gemacht. Er schickte mir jeden Tag E-Mails von tollen, wundervoll gelegenen Wohnungen. Er versprach, uns eine Traumwohnung dort zu kaufen, wo immer ich wohnen wollte. Er bombardierte mich mit superkitschigen Bildern, die zeigten, wie toll das Zusammenwohnen sein konnte, von Paaren, die sich barfuß auf Sofas aneinanderkuschelten und gemeinsam lachten. Er brachte mich mit albernen Gedichten oder Links zu YouTube-Songs wie »You Gotta Move« von den Rolling Stones oder »Something in the Way She Moves« von den Beatles zum Lachen. Ja gesagt habe ich schließlich, als er mir eines Abends betrunken den gesamten Text von Lisa Stansfields »Live Together« am Telefon vorsang. Wie konnte eine Frau da Nein sagen? Am Ende wollte Adam nicht warten, bis wir eine neue Wohnung gefunden hatten, und mir war es unangenehm, dass er etwas für uns beide kaufen wollte, zu dem ich finanziell nichts beisteuern konnte. Aus irgendeinem Grund hatte ich weniger das Gefühl, von ihm ausgehalten zu werden, wenn ich in seine Wohnung zog und die Rechnungen mitbezahlte. Außerdem fühlte es sich weniger verbindlich an. Das Einzige, das mich an die Wohnung band, war ich selbst – und mich konnte ich jederzeit wieder entfernen.

Ich scrolle zu den nächsten Statusmeldungen. Aus allen spricht so viel Glück, so viel Liebe und Freude. Es ist schwer zu glauben, dass ich mit Adam je etwas anderes als glücklich war. Doch als ich weiterlese, erinnere ich mich an die Beklemmung, die langsam in mir wuchs, je ernster unsere Beziehung wurde. Ich wusste, dass Adam heiraten wollte, und hatte eine Heidenangst, dass er mir einen Antrag machen würde, weil ich einfach nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Großen Entscheidungen war ich seit Jahren aus dem Weg gegangen, indem ich sie entweder gar nicht getroffen hatte, oder Loni, Cal oder Milly für mich hatte entscheiden lassen. Doch diese Entscheidung würde allein auf meinen Schultern lasten, und damit konnte ich nicht umgehen. Meine Meinung von der Ehe war derart davon geprägt, dass Dad fortgegangen war – und dass Kieran sein Versprechen nicht gehalten hatte –, dass mir gar nicht in den Sinn kam, Ja zu sagen. Gleichzeitig machte ich mir Sorgen, dass ich Adam verlieren würde, wenn ich Nein sagte. So wich ich Gesprächen übers Heiraten aus. Ich machte plumpe, bissige Bemerkungen über Hochzeiten, lachte über meine heiratswütigen Freundinnen, zitierte ständig schreckliche Statistiken über die Ehe und machte allgemein deutlich, dass ich nicht vorhatte, je zu heiraten. Alles in der Hoffnung, dass ihn das von der Idee abbringen würde, mir einen Antrag zu machen. Schließlich ist es so schon schwer genug für einen Mann, doch wenn er zu neunundneunzig Prozent damit rechnen muss, eine Abfuhr zu erhalten? Niemand wäre so verrückt, trotzdem zu fragen, oder?

Falsch.

Ein halbes Jahr, nachdem wir zusammengezogen waren, hielt Adam das erste Mal um meine Hand an. Wir saßen auf unserer Dachterrasse, in die ich Stunden und Tage investiert hatte, um mir ein Zuhause in meinem Zuhause zu schaffen. Adam sank auf ein Knie nieder und fragte mich zärtlich, ob ich ihm die Ehre erweisen würde, seine Frau zu werden. Ich lachte, küsste ihn und erwiderte, dass wir doch glücklich seien, so wie wir waren, und warum wir das zerstören wollten? Ich nannte ihm abschreckende Beispiele – von Loni und Dad und von Freunden von Adam, die sich nach ihrer Hochzeit stark verändert hatten, ständig aneinander herumnörgelten und über Nichtigkeiten meckerten. Wir werden das anders machen, sagte ich.

Die Wahrheit, die hinter meiner Ablehnung steckte, verriet ich ihm nicht. Dass ich nicht mit der Verantwortung zurechtkam, die mit einem solchen Schritt verbunden war. Ich konnte doch nicht wegen einer so unbedachten, riskanten Entscheidung alles aufs Spiel setzen, was wir hatten. Ich konnte nicht Ja sagen, wenn er nicht alles wusste, was es über mich zu wissen gab.

Ich bin so tief in Gedanken an mein quälendes Geheimnis versunken, dass ich Milly gar nicht hereinkommen höre.

»Ach, Bea«, seufzt Milly, bevor ich meinen Laptop verstecken kann. Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter. »Nicht schon wieder.«

Sie muss früher von der Arbeit nach Hause gekommen sein. Schuldbewusst blicke ich auf den Pyjama hinunter, den ich noch immer trage. Mist, ich habe ihr versprochen, mich heute ordentlich anzuziehen. Wo ist nur die Zeit geblieben? Ich kann doch hier nicht – ups – sechs Stunden gesessen haben? Ich blicke auf meine Uhr. Es ist halb acht Uhr abends. Das letzte Mal bin ich nach unten gegangen, um mir etwas zum Mittagessen zu holen. Ich blicke wieder auf den Laptop und schließe rasch Adams Profil.

»Weißt du noch, was ich gesagt hab?«, tadelt Milly.

Ich nicke kleinlaut.

»Eine Woche Trübsal blasen«, hat sie gesagt, als sie mich vor zehn Tagen mit zu ihrer Wohnung genommen hatte. »Ich erlaube dir, eine Woche zu weinen, wie besessen auf Facebook zu starren, ständig dein Handy zu überprüfen und dich dafür zu kasteien, dass du aus Angst vor deinem eigenen Glück deine Ehe vermasselt hast, ehe sie überhaupt begonnen hat …« An der Stelle zuckte ich zusammen. Das hatte wehgetan. »Eine Woche«, fuhr sie energisch fort, während sie die Wohnungstür aufstieß. »Dann rappelst du dich auf, reißt dich zusammen und nimmst verdammt noch mal dein Leben in die Hand.« Wie ein Hündchen an der Leine führte sie mich in die riesige Küche im Erdgeschoss, öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Wein heraus. Sie nahm zwei Gläser aus dem Spülbecken, schraubte den Verschluss auf und goss uns beiden großzügig ein. Sie reichte mir ein Glas – nahm mir jedoch zuerst den Rucksack vom Rücken, als wäre ich ein Kind, das gerade aus der Grundschule nach Hause gekommen war –, half mir dann auf den Barhocker an der Kücheninsel und schwang sich selbst auf den Platz neben mir. »Dann gehst du wieder zur Arbeit, du gehst aus, du betrinkst dich, du buchst eine Reise, du hast unanständigen Sex mit Fremden – natürlich bei denen zu Hause. Wenn ich nichts davon weiß, muss ich Adam nichts vorlügen. Du musst dich zusammenreißen, Bea. Überleg dir, was du künftig tun willst, anstatt dich wie besessen mit dem zu befassen, was schon passiert ist. In deiner Facebook-Timeline findest du keine Antworten. Oder in Adams«, fügte sie spitz hinzu. »Ich weiß, dass du sie dir angesehen hast. Ich hab deinen Internet-Verlauf überprüft.«

»Das nennt sich Schnüffeln!«

»Nein«, widersprach sie mit energischem Kopfschütteln. »Das nennt sich Kümmern.«

»Ach, Bea, das ist doch verrückt!«, schnaubt Milly jetzt wütend. »Du kannst dich doch nicht die ganze Zeit damit beschäftigen, was alles hätte sein können, wenn du diejenige bist, die weggelaufen ist.«

Ich blicke bekümmert auf den Bildschirm, da erscheint ein rotes Icon neben meinem E-Mail-Postfach. Milly sieht zu, während ich es öffne.

»Die ist ja von Adam!«, keucht sie. »Aber er hat doch geschworen, keinen Kontakt zu dir aufzunehmen, es sei denn …«

»… ich melde mich zuerst?«, murmle ich und öffne die Nachricht. »Ich hab ihm vorhin geschrieben.« Mit klopfendem Herzen scrolle ich durch die Sätze. Die schwarzen Worte kriechen wie Ameisen vor meinen Augen, während ich versuche, ihre Bedeutung zu erfassen.

Liebe Bea,

danke, dass du dich gemeldet hast. Ich verstehe, warum du gegangen bist, und vielleicht hilft es dir zu wissen, dass mir in den letzten Wochen aufgegangen ist, dass du mir einen Gefallen getan hast. Auch ich muss mir über einiges klar werden – und das konnte ich nicht, solange wir zusammen waren. Du hast mir den Anstoß dazu gegeben, mein Leben und meine Arbeit neu zu beurteilen und herauszufinden, was ich will. Du meinst, ich wäre gut im Entscheiden? Ich hätte die Kontrolle? Warum habe ich dann das Gefühl, dass meine Eltern bislang alles in meinem Leben bestimmt haben? Alles, außer dir natürlich (und selbst das habe ich nicht richtig hinbekommen). Ich glaube noch immer, dass wir etwas Besonderes hatten … haben … aber mir wird langsam klar, dass es vielleicht die richtige Person zum falschen Zeitpunkt war. Vielleicht sollen sich unsere Wege eines Tages erneut kreuzen, wenn wir älter und weiser sind und genauer wissen, was wir wollen. Vielleicht auch nicht. Aber versprich mir eins, Bea: Hör auf, dir die Schuld an allem zu geben. Mach dir keine Sorgen um die Zukunft und verschwende nicht zu viele Gedanken an die Vergangenheit. Deine Entscheidungen verändern nicht die Welt, nur dein eigenes Universum. Ich hoffe, dass du dich jetzt frei fühlst, als der Stern zu leuchten, der du bist.

In Liebe, Adam

»Wow.« Als sie die Nachricht zu Ende gelesen hat, pfeift Milly durch die Zähne und wischt sich die Augen. »Geht’s dir gut?«

Ich lasse mich aufs Bett fallen und starre aus dem Fenster auf den roten Zeitball, der auf der Turmspitze des Royal Greenwich Observatory sitzt, als wäre er ein Planet, um den sich die Zeit dreht. Er gehört zu den ersten Zeitanzeigen der Welt, schon seit 1833 diente er den Londonern sowie den Schiffen auf der Themse zur zeitlichen Orientierung, und er funktioniert noch immer. Jeden Tag um 12:55 Uhr steigt der Zeitball bis zur Hälfte den Mast hinauf, um 12:58 erreicht er die Spitze. Genau um 13:00 Uhr fällt der Ball nach unten und sendet das Signal an jeden, der ihn sehen kann.

Ich nicke. Seltsamerweise fühle ich mich gut. Adam geht es gut. Seine Nachricht bestärkt mich noch mehr darin, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe – für uns beide. Das heißt nicht, dass das nicht schmerzhaft ist, aber zumindest sind wir jetzt frei, unser Leben in die Hand zu nehmen.

»Willst du ihn nicht sofort anrufen und ihm sagen, dass du einen schrecklichen Fehler begangen hast?«, fragt Milly verzweifelt. »Du hast deine Vermögenswerte beurteilt, du willst wieder fusionieren, ihn wieder in dein Portfolio aufnehmen und an seinen Anteilen festhalten …« Wenn Millys Gefühle hochkochen, verfällt sie stets in Finanzmaklerjargon.

Ich lächle und nehme ihre Hand. »Ich bin nicht wie du, Milly. Du wusstest immer, welche Richtung dein Leben nimmt. Ich weiß, dass Adam das Beste war, was mir je passiert ist, aber ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Ich verdiene ihn nicht.«

»Ach, Bea, das stimmt doch einfach nicht!«, jammert Milly. »Ich wünschte, ich könnte dir klarmachen, wie wundervoll du bist! Aber eins ist sicher«, sagt sie, »das wirst du nicht erkennen, wenn du dich in diesem Zimmer einsperrst. Oder vor diesem blöden Facebook hängst«, fügt sie hinzu und schlägt den Laptop wieder zu. Ich bemerke, dass sie etwas daraufgeworfen hat.

»Was ist das?«, frage ich skeptisch.

»Ich hab es geschafft, eine Karte für die Chelsea Flower Show zu ergattern. Die ist diese Woche, weißt du noch?«

Ich nicke langsam. Gestern Abend habe ich einen Bericht über die Gartenschau im Fernsehen gesehen, aber ich hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren.

»Na los, Bea, ein bisschen frische Luft wird dir guttun«, sagt Milly aufmunternd und tätschelt meine Hand. »Gärten machen dich doch immer glücklich.«

Ich nicke erneut. Da hat sie recht. Ich glaube nur, dass selbst die momentan keine Wunder bewirken können. »Ich muss mir eine Wohnung suchen und sollte keine Zeit damit verschwenden, mich in Gärten herumzutreiben …«

»Du weißt doch, dass du so lange hierbleiben kannst, wie du willst.«

»Ach, Milly. Ich kann nicht jedes Mal wieder zu dir kommen, wenn etwas in meinem Leben schiefläuft.«

»Doch, das kannst du. Dafür sind beste Freundinnen da«, erklärt Milly mitfühlend und legt den Arm um mich.

Ich lehne meinen Kopf an ihre Schulter und blicke aus dem Fenster. Was würde ich nur ohne sie tun?