31. Kapitel

Ich setze mich auf den Boden und blicke mich in Millys Garten um. Sie ist erst eine Woche weg, doch in dieser Zeit hat die drückende Sommerhitze ihren Höhepunkt erreicht, und ich habe den Großteil meiner Zeit, die ich nicht im Blumenladen sein musste, hier draußen verbracht. Beim Graben, Unkrautjäten, Pflanzen und Beschneiden finde ich Trost. Ich sammle die Abfälle auf und betrachte mein Werk. Ich habe die Rosen gedüngt, die früh blühenden Geranien beschnitten und jede Menge Rüsselkäfer entfernt. Ich habe leere Beete umgegraben, wuchernde Büsche und Stauden beschnitten und die blau blühende Klematis versorgt – unwillkürlich musste ich an unsere Dachterrasse denken und fragte mich, ob Adam daran gedacht hatte, dasselbe zu tun. Dann fiel mir ein, dass er ja noch nicht einmal zurück war.

Plötzlich werde ich von einer Erinnerung eingeholt.

»Ich kann nicht glauben, dass er für immer weg ist!«, schluchzt Kieran, während ich über sein Haar streiche. Meine eigenen Tränen und der sterile Krankenhausgeruch rauben mir die Luft.

Ich blinzle und kehre in die Gegenwart zurück. In den letzten Tagen überkommen mich diese Flashbacks aus der Nacht, in der Elliot gestorben ist, immer häufiger.

»Konzentriere dich auf die Blumen«, murmle ich vor mich hin. Seit ich vor drei Monaten umgezogen bin, Dads Gartentagebuch wiedergefunden und begonnen habe, hier die Erde umzugraben, fühle ich mich, als würde ich in meiner Vergangenheit graben. Ich blicke hinunter auf das kleine blaue Buch, dessen Seiten neben mir in der Brise flattern. Dads schräge Handschrift und seine Diagramme sind mir so vertraut, als wären es meine eigenen. Ich nehme das Tagebuch, drücke es an meine Brust, dann an meine Nase und atme den staubigen Geruch der Erinnerungen ein.

Aus dem Augenwinkel nehme ich den Platinring wahr, den ich an meiner rechten Hand trage. Ich habe ihn zögernd wieder angesteckt, als ich ihn zusammen mit dem Tagebuch in dem Koffer gefunden hatte. Es ist Lonis Ehering. Ich habe sie davon abgehalten, ihn ins Meer zu werfen, nachdem sie Dad hinausgeworfen hatte. Es ist derselbe, den ich ein Jahr lang getragen habe, nachdem Kieran weggegangen war, weil er zu unserem Versprechen gehörte, einander nicht zu vergessen.

Als ich ihn nun abnehme und zwischen Daumen und Zeigefinger drehe, muss ich daran denken, wie Kieran auf meiner Hochzeit aufgetaucht ist. Habe ich ihn vorschnell fortgeschickt? Hätte ich ihm noch eine Chance geben sollen, mit mir zu reden? Hätte ich ihm zuhören sollen, wie ich dem Mann im Laden zugehört habe, der seine kranke Frau pflegt?

Ich stecke den Ring wieder an und wundere mich, wie fremd und zugleich angenehm er sich anfühlt. Als hätte er einen unsichtbaren Abdruck hinterlassen, der trotz all der Zeit, die seither vergangen ist, nie ganz verschwunden ist. Ihn wieder zu tragen ist, als würde ich eine Tür zu meiner Vergangenheit öffnen. Ich schließe die Augen und denke an die Tage in jenem Sommer, als Kieran und ich uns gegenseitig die Gründe anvertrauten, warum wir füreinander bestimmt seien, und an unserer Liebesgeschichte feilten, als würden wir sie noch Jahre später erzählen.

»Ich wollte diesen Sommer eigentlich nicht herkommen, weißt du«, hatte Kieran eines Nachmittags gesagt, als wir am Wells Beach vor einer der kleinen Strandhütten lagen und so taten, als würde sie uns gehören. Er rollte sich auf den Bauch, stellte seinen eichenbraunen Rücken zur Schau und blickte durch seine Wimpern zu mir auf. Seine Augen waren von einem magischen Grün. Ich weiß noch, dass ich dachte, ich könnte mich für immer in ihnen verlieren. »Elliot hat uns Jobs in diesem Pub in Devon besorgt, aber an dem Tag, als wir in Dorset losfahren wollten, habe ich einfach den Bus gewendet und bin in eine andere Richtung gefahren. In jenem Moment bin ich nur meiner Eingebung gefolgt.« Er blinzelte mich an, und seine Wimpern flatterten über seine dunkle Haut, während er sich eine Zigarette anzündete und den Rauch so lässig ausstieß, wie er diese Geschichte erzählte. »Es war, als würde ich von einem Magneten angezogen. Als ich dich dann kennengelernt habe, wusste ich, wohin – oder vielmehr zu wem – es mich gezogen hatte.«

»Ich wollte an jenem Abend nicht zu der Strandparty gehen«, fuhr ich fort. »Aber Loni hatte einen Haufen Leute zu uns nach Hause eingeladen, und mich überkam der Drang, alleine am Strand joggen zu gehen …«

»Du hast sexy ausgesehen in deiner engen Jogginghose!« Kieran lachte und gab mir einen Kuss auf die Brust.

»Ich habe gehört, wie mich jemand gerufen hat. Dann sah ich dich, wie du dort saßt, mit deiner Gitarre, und ich wusste, dass ich nicht so bald wieder gehen würde …«

»Als ich dich gesehen habe, konnte ich mich nicht rühren, geschweige denn gehen. Es war, als sei der einzige Sinn dieses Sommers, dich zu treffen«, erzählte Kieran mir, während er sich mit der Hand durch die von der Sonne gebleichten Haare fuhr.

Dann setzte er sich auf, küsste mich und drückte seinen schlanken, halb nackten Körper gegen meinen, sodass ich in den Sand sank. Mir gefielen seine drängenden, begierigen, leidenschaftlichen Küsse. In jenem Moment wusste ich, dass mein Leben eine neue Dimension erreicht hatte – meine verschlafene, behütete Norfolker Existenz war endlich zum Leben erweckt worden. Es ängstigte mich, aber es gab mir auch das Gefühl, lebendig zu sein. Ich brauchte nichts mehr außer Kieran, um glücklich zu sein.

Als mein Handy klingelt, ziehe ich es aus der Tasche meiner Jeans. »Hallo, Loni«, melde ich mich, und meine Stimme kommt mir selbst fremd vor.

»Bea, Liebes! Wir haben uns ja ewig nicht gehört! Bist du so sehr damit beschäftigt, die Fesseln deiner langweiligen alten Existenz abzuschütteln, dass du keine Zeit hast, deine Mum anzurufen?«

»Ich hatte zu tun«, antworte ich angespannt. Ich halte inne und blicke auf meine rechte Hand, dann auf das Tagebuch in meinem Schoß. »Ich bin dabei, meine eigene Welt zu finden, Loni, und das mache ich mit vollem Einsatz«, füge ich sanft hinzu. »Genau, wie du es mir beigebracht hast. Ich nehme mir ein Beispiel an dir.«

»Das höre ich gern! Solange du weißt, dass ich immer für dich da bin, Liebes. Du bist nie allein, vergiss das nicht. Auch in deinen dunkelsten Stunden gibt es immer irgendwo einen Lichtschimmer – habe ich dir das nicht immer gesagt? Und hat das nicht immer gestimmt? Das letzte Mal, als du dachtest, dein Leben wäre vorbei, bist du nach London gezogen und hast Adam kennengelernt. Und jetzt hast du diesen wundervollen neuen Job gefunden, und ich bin so stolz darauf, wie stark du bist, mein Schatz. Aber das heißt nicht, dass du keine Hilfe brauchst. Als dein Dad weggegangen ist …«

Ich lasse sie nicht ausreden. »… wurdest du zu der Frau, die du eigentlich bist. Was hast du zu mir gesagt, nachdem Kieran mich hat sitzen lassen, Loni? ›Du brauchst keinen Partner, nur deinen Stolz.‹ Geh, bevor er dich verlässt – das war doch die Botschaft, oder? Und das habe ich mit Adam gemacht. Ich bin gegangen, bevor er mich verlassen konnte.«

Einen Augenblick ist Loni ungewöhnlich still. »Aber Adam hätte dich nie verlassen, Liebes, das weißt du doch, oder? Und darum ging es mir damals überhaupt nicht. Es war nicht deine Schuld, dass Dad oder Kieran verschwunden sind. Dein Dad hat dich vergöttert. Und Kieran – nun, das waren außergewöhnliche Umstände. Er hatte gerade seinen Zwillingsbruder verloren, mein Schatz. Er war einfach nicht in der Verfassung, dich zu lieben … Du musst aufhören, dir die Schuld dafür zu geben.«

Ich muss daran denken, wie Kieran an meinem Hochzeitstag vor mir stand. Ist er zurückgekommen, weil er jetzt in der Verfassung dazu ist? Ich denke an den Zeitball in Greenwich und stelle mir vor, dass er in diesem Moment fällt und ich auf einmal alles klar vor mir sehe. Dass Kieran gekommen ist, war ein Zeichen – wir sollen uns noch eine Chance geben. Es noch einmal versuchen. Einen Neuanfang wagen. Das habe ich immer gewollt. Vielleicht ist das meine Chance wiedergutzumachen, was in der Vergangenheit passiert ist. Warum habe ich das nicht früher gesehen?

»Tut mir leid, aber ich muss Schluss machen, Loni«, sage ich eilig und lege auf.

Einen Moment stehe ich so da, während der Groschen – Zeitball, wie auch immer man es nennen will – immer wieder fällt. Ich habe es die ganzen letzten Monate nicht wahrhaben wollen. Kann es sein, dass ich Adam verlassen habe, weil ich nie aufgehört habe, Kieran zu lieben? Ich stehe auf, klopfe meine Jeans ab und laufe zurück in Millys Wohnung.

Schnell ziehe ich mich aus und gehe unter die Dusche. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht nur den Schmutz aus dem Garten, sondern auch das wegwaschen will, was ich Adam angetan habe. Ich habe ihn so sehr geliebt, aber ich habe nie aufgehört, an Kieran zu denken. Einen Typen, den ich acht Jahre lang nicht gesehen und mit dem ich nur einen einzigen Sommer verbracht habe. Das ist verrückt. Es kommt mir vor, als würde ich von meiner Vergangenheit verfolgt, und je mehr ich versuche, mich in mein neues Leben zu werfen, desto mehr zieht es mich zu meinem alten zurück. Seit Kieran aufgetaucht ist, läuft alles rückwärts. Ich wohne wieder dort, wo ich hingegangen bin, nachdem das alles passiert war. Das bedeutet, dass ich im nächsten Schritt nach Norfolk zurückkehren muss, um zu sehen, ob er noch dort ist. Es fühlt sich an, als würde alles zu diesem einen Sommer führen, zu Kieran – und zu diesem schrecklichen Abend. Und ich denke nicht, dass ich die Zeichen länger ignorieren kann.

Ich trete aus der Dusche, nehme mein Handy, öffne Facebook und scrolle durch meine Nachrichten, bis ich die finde, die Kieran mir nach der Hochzeit geschickt hat. Ohne nachzudenken, schreibe ich rasch eine Antwort und schicke sie ab:

Kieran, ich würde dich gern sehen … Natürlich nur, wenn du das noch willst?

Bea