19. Kapitel
Bea Bishop versucht, wieder auf die Beine zu kommen.
Ich blicke mich um und fühle mich plötzlich überfordert von den geschäftigen, aufgeregten Menschenmassen, die an mir vorbei in die Gartenausstellung strömen. Ich muss mich zusammenreißen, nicht in Millys Wohnung zurückzurennen und mich unter die Bettdecke zu verkriechen. Ich schaffe das, sage ich mir. Seitdem ich in London wohne, bin ich jedes Jahr in der Chelsea Flower Show gewesen. Vielleicht habe ich den Traum aufgegeben, selbst Gartenarchitektin zu werden, doch das hält mich nicht davon ab, die Arbeit, das Talent und die Visionen sowie die Präzision und die Hingabe zu bewundern, die zur Gestaltung dieser preisgekrönten Gärten nötig sind. Um diese Jahreszeit vermisse ich meinen Vater am meisten. Ich weiß, er würde mich verstehen. Wenn er uns nicht verlassen hätte, hätten wir bestimmt jedes Jahr einen Vater-Tochter-Ausflug hierher unternommen. Es wäre ein verbindender Moment gewesen, den uns niemand hätte nehmen können.
Ich hole das Tagebuch, das er mir hinterlassen hat, aus meiner Tasche. In der ersten Nacht, in der ich wieder bei Milly geschlafen habe, habe ich einen Koffer in der kleinen Abstellkammer über der Badezimmertür gefunden. Ich hatte ihn dort gelassen, als ich zu Adam gezogen war, weil ich so wenig wie möglich mitnehmen wollte. Ich wollte neu anfangen, meine Vergangenheit hinter mir lassen. Als ich ihn nun wieder öffnete, war es, als würde ich in eine riesige Kiste voller Erinnerungen blicken. Unter karierten Hemden, zerschlissenen alten Jeans und den Gartendrucken von Monet aus meinem Jugendzimmer entdeckte ich Dads Tagebuch.
Damit hatte ich nicht gerechnet, ich dachte, ich hätte es für immer verloren. Ich hatte es mitnehmen wollen und es nicht bewusst dort reingelegt. Weil ich es als Kind so oft gelesen habe, kenne ich jeden Monat auswendig. Dieses Tagebuch hat mir jede Geburtstags- und Weihnachtskarte ersetzt, die ich von meinem Dad nicht erhalten habe. Das Buch gratulierte mir zu meinen Zeugnissen und zum Schulabschluss, nachdem Dad nicht da war, um es persönlich zu tun. Es war meine Schulter, an der ich mich ausweinte, wenn ich Trost und Hilfe brauchte, mein heimlicher Mitwisser und Berater, wenn ich mit niemand anders reden konnte.
Es wurde zu einer anderen Version von meinem Dad. Einem Dad, der nicht weggegangen war, ohne sich noch einmal umzudrehen, sondern geblieben war, um mir auf seine ganz eigene Weise alles übers Gärtnern – und das Leben – beizubringen. Wann immer ich es öffnete, konnte ich sofort bei ihm sein oder er bei mir. Dieses Tagebuch war der Grund, warum ich nie die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er eines Tages zurückkommen würde. Seinetwegen konnte ich Loni nie wirklich vergeben, dass sie ihn fortgeschickt hatte, und spürte eine Verbindung zu ihm, die Cal einfach nicht verstand. Dieses Tagebuch war alles für mich. Und als ich es verloren glaubte, war es, als hätte ich auch meinen Vater noch einmal verloren.
Es war der Tag nach meinem siebten Geburtstag, der für mich der beste Tag seit Langem wurde. Ich hatte ein neues Fahrrad sowie ein Bestimmungsbuch für Wildblumen bekommen, und wir hatten beschlossen, einen langen Spaziergang am Holkham-Strand zu unternehmen. Dad und ich liefen hinter Loni und Cal her, die wie immer vorausgerannt waren. Wir schlenderten langsam umher und blieben immer wieder stehen, um jede Pflanze zu studieren und in meinem neuen Buch nachzuschlagen. Ich genoss die Momente mit meinem Vater, denn er war nicht häufig da. Er war Kunstgeschichtsdozent, fuhr aber oft auf Forschungsreisen oder zu irgendwelchen Seminaren oder brauchte Zeit und Ruhe zum Malen und Studieren. Doch das letzte Jahr hatte er nicht unterrichtet, und obwohl er häufiger zu Hause zu sein schien, war es, als wäre er immer seltener bei uns. Ich kann das nicht erklären, aber er war irgendwie nicht präsent. Es war, als würde er in einer anderen Welt leben. Ich habe schon sehr früh gelernt, dass ich seine volle Aufmerksamkeit nur im Garten bekam, doch jetzt verbrachte er die meiste Zeit in einem Wohnwagen am anderen Ende des Gartens. Und wenn ich zu ihm ging, deckte er immer zu, was er gerade schrieb. Als ich das Loni erzählte, wischte sie meine Bedenken beiseite. »Er braucht nur Ruhe, um zu arbeiten, das ist alles, Liebes.« Dann forderte sie mich zu einem ziemlich ausgelassenen Versteckspiel heraus. Doch als ich in meinem Versteck unter ihrem Bett lag, wusste ich, dass etwas Ernsteres vor sich ging. Dad hatte nie Ruhe vor mir gebraucht. Er sagte, er sei nie glücklicher, als wenn ich bei ihm sei, und dass ich ihn an alles Gute in der Welt erinnern würde. Da entdeckte ich einen kleinen Koffer unter dem Kopfende. Ich robbte darauf zu, schob ihn unter dem Bett hervor und zog langsam den Reißverschluss auf. Mein Herz klopfte heftig vor Angst, dass mich jemand entdecken könnte. Ich hob den Deckel an und spähte hinein. Er war bis oben hin mit Schlafanzügen, Socken, Hosen, Dads Kulturbeutel und einer Klarsichthülle mit Familienfotos vollgepackt.
Als ich Cals vergnügte und dann wütende Schreie vernahm, weil er entdeckt worden war, schrak ich zusammen. Ich hörte ihn und Loni auf das Schlafzimmer zupoltern, schloss schnell den Deckel und schob den Koffer wieder zurück unters Bett. Dann versteckte ich mich hinter einem Vorhang und ließ absichtlich einen Arm herauslugen, sodass sie nirgendwo anders nach mir suchen mussten. Ich tat, als hätte ich anschließend keine Lust mehr zu spielen, und wir beendeten es. Cal spielte Superman, Loni lernte, während sie meinen Geburtstagstee zubereitete, und ich beschloss, eine Karte für Dad zu machen.
Nach dem Tee führte Dad mich in den Garten. Er sagte, er wollte mir ein besonderes Geschenk geben. Es sei ein Geheimnis, ein besonderes kleines Geschenk von ihm für mich. Er wollte nicht, dass Cal sich ausgeschlossen fühlte, aber nur ich würde es zu schätzen wissen. Ich packte das Geschenk aus und staunte, als ich das wunderschöne handgroße Buch mit dem weichen blauen Schafsledereinband sah, auf dem in goldenen Buchstaben Beas Garten- und Lebensführer stand. Das Papier war edel und ganz fein, und auf die erste Seite hatte Dad eine Widmung geschrieben und dazu eine Tuschezeichnung von unserem hufeisenförmigen Garten angefertigt. Dort kniete unter der Weide am Ende des Gartens, direkt vor dem Tor, das ins Dickicht führte, ein kleines, gedankenverlorenes Mädchen inmitten von diversen Gartengeräten.
»Das bin ja ich!«, rief ich aus, und er nickte und küsste mich aufs Haar. Er sagte, ich müsse ihm versprechen, es allein zu lesen, nachdem er weg war. Ich habe damals gedacht, er meinte, nachdem er den Garten verlassen hatte. Erst ein paar Tage später begriff ich, dass er gemeint hatte, wenn er endgültig gegangen sei.
Ich klappe das Buch zu, blicke auf den Einband und lese erneut die Worte, die seine Abschiedsworte waren. Dann lasse ich es in meine Tasche gleiten. Ich habe immer geglaubt, dass das Tagebuch seine Art war, mir zu sagen, dass er bald zurückkäme. Nachdem ich es nun wiedergefunden und mich langsam durch die Seiten gearbeitet habe, fühle ich eine neue Bindung zu ihm. Ich habe das Bedürfnis, das Mädchen wiederzuentdecken, das ich früher war. Und ich will wissen, was für ein Mensch mein Vater heute ist.
Ich muss ihn suchen, fuhr es mir neulich durch den Kopf, als ich im Bad saß, in dem Büchlein blätterte und erneut den Verlust, die Sehnsucht und die Enttäuschung in mir aufsteigen spürte. Mein Hochzeitstag war mein letzter Stichtag für ihn gewesen – und für mich. Wenn er nicht käme, würde ich aufgeben, hatte ich mir gesagt. Irgendwie frage ich mich, ob ich an jenem Tag davongelaufen bin, weil ich eher mein eigenes Glück als ihn aufgeben wollte. Denke ich vielleicht, dass er eher eine zweite Chance verdient als ich?
Als ich mein Ticket abgebe und durch das Bull Ring Gate das Gelände des Royal Hospital betrete, habe ich das Gefühl, mein Vater wäre irgendwie bei mir, als würde mich jeder Schritt näher zu ihm bringen.
Glücklich sehe ich mir stundenlang die diversen Gärten an. Immer wieder bleibe ich stehen und sammle Anregungen für die Zukunft – schwimmende Bäume, ein grasfreier Rasen, Ideen für kleine Flächen und kleine Budgets.
Ein Garten beeindruckt mich am meisten. Er heißt schlicht »Zeit« und ist in vier Teile aufgeteilt: »Tag«, »Nacht«, »Vergangenheit« und »Zukunft«. Im Zentrum befindet sich eine Reihe Heucherella-Stauden, deren glänzende bronzefarbene Blätter den Nullmeridian von Greenwich symbolisieren. »Nacht« besteht aus von der Decke rankendem Sternjasmin über einem Teich mit Seerosen, als würde sich ein Sternenhimmel im Wasser spiegeln. Den »Tag« bildet überbordender Sonnenschein, der aus wunderschönen orangen, gelben und weißen Wildblumen besteht. Auf der anderen Seite der Zeitgrenze liegt die »Vergangenheit«, die durch einen klassischen Garten im viktorianischen Stil dargestellt ist. Dort wurden Blumen in altmodische Behältnisse gepflanzt, unter anderem in eine Badewanne auf Löwenfüßen. Die »Zukunft« ist eine urbane Büroterrasse und bietet eine iPad-Kräuter-Bar. In der Mitte des Gartens befindet sich auf einer Plattform eine große kreisförmige Hecke, die alle vier Teile miteinander verbindet. Sie bildet eine Oase für unzählige leuchtendrote Kosmeen – meine Geburtstagsblume. Wie der Zeitball der königlichen Sternwarte wird sie von einer Wetterfahne geziert. Es ist wunderschön. Eine gefühlte Ewigkeit betrachte ich den Garten, dann lese ich das Schild mit den Angaben über den Gestalter: James Fischer von JF Design, Greenwich. Ich möchte ihn sofort googeln und mir andere Arbeiten von ihm ansehen. Irgendwie habe ich das Gefühl, eine kreative Verbindung zu ihm zu spüren.
Schließlich reiße ich mich von dem Garten los, um den Rest der Ausstellung zu erkunden, und bin so glücklich und zuversichtlich wie seit Wochen nicht mehr, weil ich jetzt sicher bin, welche Richtung mein Leben nehmen soll.