70. Kapitel

Bea Bishop ist ganz oben.

34 »Gefällt mir«-Angaben.

Als ich aufwache, ist es noch dunkel, und ich brauche einen Augenblick, um mich zu orientieren. Mein ganzer Körper ist von der angenehmen Wärme umgeben, die man nur spürt, wenn sich ein anderer Mensch an einen schmiegt. Das Gewicht von Adams Arm ruht wie ein Anker auf meinem Körper. Das beschreibt sehr genau, wie ich mich in den letzten Wochen gefühlt habe, seit wir in Goa wieder zusammengekommen sind – sicher verankert. Adam kuschelt sich mit der Nase an meinen Nacken, und ich drehe mich zu ihm um. Er atmet tief und gleichmäßig, ganz offensichtlich schläft er noch. Er konnte immer gut schlafen, daran hat sich nichts geändert, doch während ich mich sonst von einer Seite auf die andere gewälzt habe, wache ich jetzt in genau derselben Position auf, in der ich eingeschlafen bin. Es ist, als würde ich sogar im Schlaf spüren, dass ich genau dort bin, wo ich sein möchte.

Seit jenem Abend am Strand sind wir unzertrennlich, doch nachdem wir noch eine Woche in Goa geblieben waren, um über unsere Zukunft zu sprechen, haben wir beschlossen, nicht in Adams Wohnung zurückzukehren. Stattdessen wohnen wir bei Milly. Was praktisch ist, wenn ich im Blumenladen arbeite. Und an meinen freien Tagen fahren wir zu Loni raus. Ich genieße es, Adam die Küste von Norfolk zu zeigen, allmählich lernt er meine Heimat und meine Familie besser kennen. Wie oft wir in den Jahren davor bei Loni gewesen sind, kann ich an einer Hand abzählen. Ich hatte zu viel Angst, mich mit allem auseinanderzusetzen.

Jetzt bin ich bereit dazu.

Als ich auf die Uhr blicke und sehe, dass es noch nicht einmal fünf ist, schließe ich erneut die Augen. Doch sofort springt mein Gehirn an, ich höre das tickende Geräusch meiner Gedanken, die sich im Kreis drehen. Seit Wochen habe ich nicht länger als bis fünf geschlafen, obwohl ich mit Adam meist bis weit nach Mitternacht wach bin. Es ist, als wären die Tage nicht lang genug, um das aufzuholen, was wir im vergangenen Jahr verpasst haben. Wir gehen ins Bett, reden, küssen uns, lachen, lieben uns und dann reden wir weiter. Wir sind nicht mehr dasselbe Paar wie zuvor, wir sind beide glücklicher. Besser kann sich eine neue Beziehung nicht anfühlen. Wir sind nicht so verlegen wie zwei Menschen, die sich noch nicht so gut kennen – es entstehen keine unangenehmen Pausen, die dringend gefüllt werden müssen, wir wollen den anderen nicht beeindrucken, sodass man sich gar nicht mehr wie man selbst verhält. Doch wir stellen auch keine Vermutungen übereinander an. Wir haben unsere Wurzeln ausgegraben, uns verpflanzt und wachsen nun gemeinsam, nicht mehr getrennt voneinander.

Mit geschlossenen Augen liege ich ein paar Minuten da und atme im Gleichklang mit Adam. Es gibt mir das Gefühl, auf dem Wasser zu treiben und auf den Wellen zu schaukeln. Und einen Augenblick werde ich in die Vergangenheit zurückgezogen, was mir oft passiert, seitdem ich mit Adam zum Cromer Pier gegangen bin und ihm die Wahrheit über das erzählt habe, was in jener Nacht passiert ist. Es ist, als hätte ich jetzt, wo alles offenliegt, keine Angst mehr, mich zu erinnern, und jedes Mal wenn ich daran zurückdenke, sehe ich die Einzelheiten etwas deutlicher vor mir und kann ein bisschen mehr loslassen.

Es ist tiefdunkle Nacht, die Stadt ist verlassen, der Regen peitscht auf uns nieder und tropft von unseren Körpern. Alles ist nass – Haare, Wangen, Nase, Hals, Arme, Beine, aber das ist uns egal. Wir sind immun gegen die Natur, unempfindlich gegen jedes Gefühl außerhalb unserer Körper.

»ICH WILL MEHR!«, schreit Elliot uns durch den Wind zu, kippt den letzten Rest Wodka aus der Flasche in seinen Mund und schluckt ihn hinunter wie eine Möwe, die einen Fisch verschlingt, dann wirft er die Flasche ins Meer. Er taumelt seitwärts auf Kieran und mich zu, die wir dabei sind, uns auf dem Pier zu küssen. Unser Speichel mischt sich mit dem Regen, unsere Hände streichen über unsere Körper, unsere Lust wird von der Naturgewalt ebenso wie vom Alkohol angeheizt. Als ein Donner ertönt und ein Blitz den Himmel teilt, stößt Elliot gegen uns.

Kieran und ich lösen uns nur widerwillig voneinander, während Elliot sich über das Geländer beugt. Wir beobachten, wie er hinaufklettert und wie ein Seiltänzer auf der rutschigen Brüstung steht. »DU KANNST MIR NICHTS ANHABEN!«, schreit er zum Himmel. »ICH BIN UNBESIEGBAR!« Obwohl ich schon häufiger gesehen habe, dass er verrückte Stunts vollführt, einer riskanter als der andere, stockt mir bei seinem Anblick der Atem. Elliot ist nicht leicht zu ängstigen.

»Hoppla!«, schreit er und springt lachend und laut johlend auf den Steg zurück.

Kieran und ich blicken einander an und verdrehen die Augen, wie Eltern es tun würden. Kieran küsst mich zärtlich, doch Elliot schiebt uns auseinander wie ein Kind, das versucht, sich zwischen seine Eltern zu drängen. Er schiebt seine Faust zwischen unsere Nasen und öffnet dann die Hand, um uns drei kleine blaue Pillen zu präsentieren. Sein Blick zuckt manisch zwischen uns hin und her, und er grinst wie der Joker. Den ganzen Abend schon ist er völlig aufgedreht.

»Lust auf ein Stück Himmel, Leute?«, fragt er, küsst jede einzelne Pille und blickt uns erneut an. »Kieran hat sie besorgt, stimmt’s, Bruder?«

Kieran wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, und mir ist klar, dass ich das nicht hätte erfahren sollen.

Elliot fasst mein Handgelenk, öffnet meine Hand und legt eine Pille hinein. Dann wirft er Kieran eine zu, der diese mit Leichtigkeit fängt.

»Auf drei«, sagt Elliot, »werfen wir den Kopf in den Nacken und schlucken, okay? Die drei Musketiere, ja? Alle für einen, einer für alle! Bereit? Eins …!«

Kieran schließt die Hand um die Pille und wirft sie ins Meer.

Ich tue es ihm gleich, dann fassen wir uns lächelnd an den Händen.

»Muschi!«, faucht Elliot.

»Nenn mich, wie du willst«, erwidert Kieran gleichgültig.

»Ich hab nicht mit dir gesprochen.« Elliot öffnet die Augen und blickt mich aus seinen dunklen, stechend grünen Augen herausfordernd an. Seine Augen unterscheiden ihn von seinem Bruder. Ich wünsche mir so sehr, dass er mich mag, aber je näher ich Kieran komme, desto weiter entferne ich mich von Elliot.

»Du bist ja total übergeschnappt.« Kieran tritt vor und schubst seinen Bruder weg.

»Ich versuche nur, ihre wilde Seite für dich herauszukitzeln, Bruder. Ich weiß doch, wie sehr du darauf stehst.« Elliot blickt mich an und hebt seine gepiercte Braue. »Ich bin mir SICHER, dass sie eine hat! Wenn nicht, wärst du nicht mit ihr zusammen …« Er hält inne und grinst. »Eins, zwei, drei!«, ruft er, schließt die Augen, legt den Kopf in den Nacken und schluckt die Pille hinunter.

Adam bewegt den Arm, als würde er meine Unruhe spüren. Seine Hand gleitet unter die Decke, bis er meine findet, dann lässt er sie nach einem Moment sanft wieder los und sinkt erneut in Schlaf.

Einfältig lächelnd beobachte ich, wie Kieran über den Strand läuft, um noch mehr Zigaretten und Alkohol aus dem Bus zu holen, der ungefähr eine Meile entfernt an der Strandpromenade parkt. Ich brauche keine Drogen und kein Adrenalin, um mich richtig gut zu fühlen, und Kieran auch nicht.

»Wenn du meinst, er würde dich lieben, machst du dir was vor«, zischt Elliot in mein Ohr.

Ich weiche vor ihm zurück, seine Nähe ist mir unangenehm. Da ich mich sicherer als sonst fühle, drehe ich mich zu ihm um und lächle ihn an. »Das kannst du doch gar nicht beurteilen.« Ich klinge überheblich, aber ich kann nicht anders. Ich bin betrunken vor Liebe und high vom Leben. Eine berauschende Mischung.

Elliot tritt zu mir und legt mir seine Hand auf die Schulter. »Er wird dir das Herz brechen, so wie bislang jedem Mädchen.«

Ich schlucke. Wir sind erst seit drei Monaten zusammen, aber ich kann mir ein Leben ohne Kieran nicht mehr vorstellen. Ich brauche ihn. Wenn er mich verlässt, wüsste ich nicht, was ich tun würde – und das ängstigt mich.

»Weißt du, was ich denke?«, sagt Elliot. »Du gehörst zu den Mädchen, die immer verlassen werden …« Plötzlich lacht er. Es ist ein wildes, triumphierendes Gejohle, und ich merke, wie mein Selbstbewusstsein schrumpft.

Ich starre über die Promenade und hoffe, dass Kieran bald aus der Dunkelheit geeilt kommt, um mich zu retten, doch da ist niemand.

»Ich kenne meinen Bruder«, fährt Elliot fort. »Blut ist immer dicker als Wasser. Er liebt Abenteuer, Gefahr und Risiko, bald wird es ihm zu langweilig, eins auf glückliches Pärchen zu machen. Das weiß ich, weil er und ich uns gleich sind. Schließlich sind wir Zwillinge.« Er tritt vor und fasst meinen Arm. »Wir wollen beide dasselbe.« Er packt meinen anderen Arm, und ich schnappe lautstark nach Luft und wende das Gesicht ab. Sein Atem riecht widerlich nach Rauch und Alkohol. Ich versuche, mich loszumachen, während er sich zu mir beugt und seine Lippen meinen gefährlich nahe kommen. »Und glaub mir, wenn ich sage, dass wir kein braves Mädchen wie dich wollen.« Dann stößt er mich weg, und ich taumle zum Geländer, an dem wenige Minuten zuvor noch er gestanden hat.

Ich blicke auf das Metall, dann hinunter in den Schlund, in dem sich die wilden Wellen brechen, und bin mir sicher, ihm ein für alle Mal beweisen zu können, dass ich Kieran genüge.

»Er liebt dich nicht«, höhnt Elliot, »er liebt dich nicht, er liebt dich nicht …«

Schnell klettere ich auf das Geländer, vom jahrelangen Laufen am Strand sind meine Füße geschmeidig und kräftig. Wie eine Turnerin auf einem Balken klammere ich mich mit den Füßen um die Brüstung. Ich blicke zurück zu Elliot, der mich ungläubig und – ja – voller Bewunderung anstarrt. Ich lächle ihn an und genieße den Moment im Scheinwerferlicht, dann wende ich das Gesicht wieder dem Meer zu. Und treffe die verrückteste, leichtsinnigste und rebellischste Entscheidung meines Lebens.

»Du meinst, ich wäre ein braves Mädchen, ja? Total vernünftig, ohne je ein Risiko einzugehen?«, kreische ich. »Na, ich wette, das kannst du nicht!« Ich beuge mich vor und lasse mich mit geschlossenen Augen wie eine Leiche ins Wasser fallen.

»Du bist zuerst gesprungen?«, fragte Adam ungläubig, und ich nickte, dann stieß ich einen erstickten Schrei aus und schlug mir die Hände vors Gesicht. Erneut wollte ich mich verstecken, weil ich mich schämte und bedauerte, was mich jahrelang an meiner ganzen Existenz und an mir selbst hatte zweifeln lassen.

Eine Entscheidung – eine dumme, gedankenlose Entscheidung – hatte ein Leben gekostet. Und nicht meins. Wie konnte ich weiterleben, und wie konnte ich je wieder einer meiner Entscheidungen trauen? Ich habe Elliot nicht gestoßen, nein. Aber ich habe ihn herausgefordert. Ich habe ihn in Versuchung geführt. Ich habe ihn dazu verleitet, dasselbe zu tun.

Adam schüttelte den Kopf. »Und das hast du niemandem erzählt?«

»Nur Kieran, nachdem wir versucht hatten, Elliot zu retten. Er sagte, er würde allen erzählen, dass Elliot allein gesprungen sei. Wir waren ohnehin vom Regen durchnässt, sodass niemand den Unterschied bemerkt hat …«

»Ach Bea«, sagte Adam und zog meinen Kopf an seine Brust.

Ich spürte seinen Herzschlag an meinem Kopf wie eine tickende Uhr, die zählte, wie viele Sekunden verstrichen, bis er weitersprach. Ich zählte jede einzelne, und als immer mehr verstrichen, war ich sicher, dass er mir gleich sagen würde, er könne niemanden lieben, der so leichtsinnig, gedankenlos und so dumm sei wie ich.

»Du hättest sterben können«, bemerkte er schließlich, nahm mein Gesicht in seine Hände und blickte mir in die Augen. In seinen schimmerten Tränen. »Du hättest sterben können, und dann hätte ich dich nie getroffen.«

Hustend und spuckend schleppe ich mich aus dem Wasser an den Strand, während der Regen auf meinen Rücken trommelt. Es fühlt sich an, als würde mir jemand anerkennend auf den Rücken klopfen. Dann sprinte ich über den Strand zurück zum Steg und poltere mit meinen nackten Füßen über die Holzbohlen.

Elliot wartet auf mich, während ich lachend und jauchzend wie eine Verrückte auf ihn zu hüpfe. »Das hast du mir nicht zugetraut!«, kreische ich und habe für einen kurzen Augenblick das Gefühl, die Schlacht wäre vorbei, ich hätte mich endlich bewiesen.

»Das sah verdammt IRRE aus!«, schreit er mit wildem Blick, während er sich über das Geländer beugt.

Der Regen prasselt jetzt noch stärker auf uns herab, und ich fange an zu zittern. Ich wische mir mit der Hand durchs Gesicht und wringe mein Haar aus. Und als ich mich wieder aufrichte, sehe ich, wie Elliot auf das Geländer klettert. Er geht wie ein Affe in die Hocke und grinst.

»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich vor einer Wette kneife, oder? Ich bin UNBESIEGBAR!«, schreit er.

»Nicht, Elliot, das ist gefährlich!«, schreie ich zurück. »Du hast zu viel getrunken. Ich hatte eben nur Glück!«

»Glück ist mein zweiter Vorname!«

Ich drehe mich um und sehe Kieran am anderen Ende des Piers. Verzweifelt winke ich ihm zu, aber ich bin mir nicht sicher, ob er mich in der Dunkelheit sehen kann. »KIERAN

Er beginnt zu rennen, und ich wende mich erneut zu Elliot um.

»Schau mich an, Bruder!« Elliot lacht, und ich sehe, dass Kieran über den Steg rast. Er schreit, aber seine Worte werden von Wind und Regen davongetragen.

Plötzlich steht Elliot auf, doch auf einmal verändert sich seine Miene … Er verliert den Halt, rutscht ab, fällt und schlägt sich den Kopf am Steg an.

Ich schreie und renne zum Geländer, wo ich zusehe, wie sein Körper wie eine Pusteblume durch die Luft schwebt, bevor er wie ein Stein ins Wasser fällt. Atemlos und heiser schreit Kieran ebenfalls. Wir beugen uns über die Dunkelheit, doch Elliot ist in den schwarzen Massen verschwunden. Ich blicke zu Kieran, der sich die Kleider auszieht.

»Ich hole ihn!«

»Ich komme mit dir!«

Erneut klettere ich auf das Geländer, fasse Kierans Hand, und wir springen.

»Du bist noch mal gesprungen?«, fragte Adam.

»Ich musste doch versuchen, Elliot zu retten. Dass er überhaupt da hinaufgestiegen ist, war meine Schuld …«

»Was ist dann passiert?«

»Kieran hat ihn gefunden. Ich werde nie verstehen, wie er es geschafft hat, ihn an die Oberfläche zu zerren. Dann haben wir ihn zu zweit zurück ans Ufer gezogen. Er hatte eine klaffende Wunde am Kopf, überall war Blut. Durch den Aufprall hat er sofort das Bewusstsein verloren. Kieran hat versucht, ihn wiederzubeleben, während ich einen Rettungswagen gerufen habe. Als die Sanitäter fünf Minuten später eintrafen, haben sie nur noch seinen Tod feststellen können.«

Als Adam fassungslos schwieg, senkte ich den Kopf. »Jetzt kennst du die Wahrheit. Durch mein Handeln ist ein junger Mann gestorben. Acht Jahre lang habe ich versucht, mit der Schuld zu leben – und dann tauchte an unserem Hochzeitstag plötzlich Kieran auf. Da ist mir klar geworden, dass ich mich nie mit alledem auseinandergesetzt habe. Ich habe mich für das gehasst, was ich getan habe. Und wenn ich selbst nicht mit mir leben konnte – wie konnte ich das von dir erwarten?«

Adam nahm mich in die Arme und sah mich traurig und voller Mitgefühl an »Nein, Bea, Elliot ist gestorben, weil er verrückt und nicht mehr zurechnungsfähig war. Er ist freiwillig da oben raufgeklettert. Du hast ihn nicht gezwungen, und du hast ihn nicht dazu getrieben. Es war ein Unfall, ein tragischer Unfall. Seiner, Bea, nicht deiner.«

Und dann hielt er mich, während ich erneut weinte und um den Jungen trauerte, der sein Leben verloren hatte, und um das Mädchen, das nie darüber hinweggekommen war.

»Es ist nicht deine Schuld«, flüsterte Adam wieder und wieder, während er mir über den Kopf strich. »Das konntest du nicht wissen. Du musst loslassen.«

Adam wacht auf und nimmt mich in die Arme, woraufhin ich genüsslich die Augen schließe. Nachdem wir fast ein Jahr getrennt waren, weiß ich diesen wundervollen Mann noch mehr zu schätzen. Adam hat immer gewusst, wie er mich aufmuntern kann. Ich denke an all die »Weißt du noch, als …?«-Geschichten, die er mir erzählt hat, um die glücklichsten Momente unserer Beziehung heraufzubeschwören.

»Hey, du«, sagt er verschlafen. »Woran denkst du?«

»Ach, nichts Besonderes.« Ich schmiege mich an seinen Hals.

Er stemmt sich auf den Ellbogen hoch und stützt den Kopf mit der Hand ab. »Okay, weißt du noch, als …«

Ich lege meinen Finger auf seine Lippen und überrasche ihn. »Können wir jetzt bitte nicht über die Vergangenheit sprechen?«, frage ich entschuldigend. »Ich möchte einfach hier sein … in diesem Augenblick. Mit dir.«

Er nickt und hält mich fest, und erneut fühle ich mich sicher.

Und dann flüstert er mir leise ins Ohr – er spricht nicht von Erinnerungen an glückliche Zeiten, sondern über all das, was noch vor uns liegt. Während er ein Bild von unserem künftigen Leben, unserem Zuhause, unserer Familie malt, weine ich leise. Er beschreibt detailliert unsere Kinder, denen er gleichermaßen Teile von ihm und von mir zuschreibt, in denen sich das Beste von uns mischt, sodass aus zwei Menschen drei werden und dann vier. Er spricht von seinen Eltern als Großeltern, von Loni und Cal, dass wir dafür sorgen müssten, sie alle oft genug zu sehen, damit unsere Familie auf immer miteinander verbunden bleibt. Viele Leben in einem.

»Lass uns heute Abend ausgehen«, schlägt Adam zufrieden vor, als er damit fertig ist, unsere Zukunft zu entwerfen. »Ich hole dich nach der Arbeit im Blumenladen ab, und wir gehen essen.«

Es ist ein für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Abend, als Adam und ich durch die Straßen von Canary Wharf laufen. Es ist seltsam, wieder hier zu sein. Ich muss hier heute Abend einem Gartenarchitekten einen ganz besonderen Strauß vorbeibringen. Er kam heute Morgen völlig panisch in den Laden gerannt, weil er eine Blumendekoration für eine Party heute Abend brauchte. Diese hatten wir ihm am Nachmittag schon geschickt, aber gerade als Adam vorbeikam, um mich abzuholen, rief der Mann erneut an und bat um etwas Persönlicheres für einen Freund und fragte, ob ich den Strauß nicht selbst vorbeibringen könnte. Er klang so gestresst, dass ich überlegte, ihn vielleicht mal zu fragen, ob er nicht eine Assistentin brauchen könnte. Er – James – schien begeistert davon, wie viel ich über Blumen und Pflanzen wusste, als wir heute Morgen die Dekoration für sein Dachterrassenprojekt besprochen haben. Ich erzählte ihm von meinem eigenen Dachgarten, den ich für unsere alte Wohnung gestaltet hatte, und sprach zehn fröhliche Minuten mit ihm über Beleuchtung, Raumteiler und Gestaltungselemente. Er erzählte, wenn alles gut ginge, wolle er expandieren. Vielleicht sogar ein Büro außerhalb von London eröffnen.

»Ich träume davon, mein Leben etwas zu entschleunigen«, seufzte er und tupfte sich mit dem Taschentuch die Stirn.

»Wie wäre es mit Norfolk?« Ich lächelte. »Das ist mein absoluter Lieblingsort … und dort gibt es so viele unglaublich schöne Gärten und Landhäuser.«

»Komisch, dass Sie das sagen. Ich liebe diese Gegend auch sehr!«, erwiderte er und gab mir seine Karte, bevor er ging. Ich taste nach ihr, um sicherzugehen, dass sie noch da ist. Als mir klar wurde, dass er derselbe Architekt ist, dessen Garten mir auf der Chelsea Flower Show so gut gefallen hat, konnte ich es kaum fassen. Daraufhin überlegte ich, ihn anzurufen. Ich meine, das ist doch Schicksal. Von allen Blumenläden ist er schließlich ausgerechnet in unseren gekommen, stimmt’s?

Der Kleintransporter von Cosmo Flowers parkt nicht weit weg, und ich eile die Straße entlang, um die Blumen abzuliefern, damit wir hier schnell wieder wegkommen. In Canary Wharf lauern zu viele Erinnerungen, und als wir wieder zusammengekommen sind, haben Adam und ich uns gesagt, dass wir ganz neu anfangen wollen. Darum ist es auch so schön, bei Milly zu wohnen. Wir sind wieder da, wo wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Diesmal werden wir jedoch andere Entscheidungen treffen.

»Ich finde die Adresse nicht«, sage ich zu Adam, während wir die Straße hinunterblicken. Dann gehe ich auf ein Gebäude mit einer Art Glaskuppel auf dem Dach zu und blicke erneut auf den Zettel in meiner Hand. Ich will schon hineingehen, als Adam mich am Arm fasst.

Ich folge seinem Blick zu dem Schild über den Glastüren: Hudson, Grey & Friedman.

»Was für ein seltsamer Zufall!« Die Leute strömen durch die Türen des gläsernen Gebäudes, und ich blicke Adam einen Augenblick schweigend an. »Willst du reingehen?«, frage ich. »Ich hab nichts dagegen – dein Dad würde sich sicher freuen … er hat dich schließlich eingeladen.«

Einen Moment lang sagt Adam nichts. Wir starren beide hinauf zu der Party, die auf der Dachterrasse über uns stattfindet, einer Party, auf der wir zu anderen Zeiten auch gewesen wären.

»Weißt du was? Ich will das nicht«, antwortet er lächelnd. »Dad weiß, dass es zwischen uns keine Netzwerktreffen, Geschäftsessen oder gesellschaftlichen Events irgendeiner Art mehr geben wird außer als Vater und Sohn. Das ist nicht mehr meine Welt.«

Ich küsse ihn, dann schlüpfe ich durch die Glastür, um den Strauß abzuliefern. Ich habe Angst, jemand Bekanntem zu begegnen, also reiche ich ihn schnell dem Wachmann und bitte ihn, die Blumen nach oben zu bringen.

»Erledigt«, sage ich, als ich wieder bei Adam bin.

Mit einem letzten Blick zum Gebäude legt er den Arm um meine Taille, und lachend und plaudernd schlendern wir unter einem perfekten Sternenhimmel davon.