72. Kapitel
30. April 2014
Bea Bishop bereitet sich auf den wichtigsten Tag ihres Lebens vor. Und diesmal bin ich hundertprozentig bereit.
»Na, bereit für deinen großen Tag, Julia?«, fragt Milly und streckt den Kopf durch die Tür des Gästezimmers.
Ich setze mich im Bett auf, schlage schnell Dads Gartentagebuch zu, blicke mich im Spiegel an und lächle. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hatte ich das dringende Bedürfnis, ein letztes Mal Dads Worte zu lesen, die er mir an den Anfang des Buches geschrieben hatte. Ich habe vor, das Büchlein wieder an einen sicheren Ort zu legen und dort zu verwahren, denn ich brauche keine Anleitung zum Leben mehr, ich muss nur auf mein Herz hören. Aber ich bin glücklich, dass ich immer genau wissen werde, wo es – nein, wo er – ist. Und ich möchte ihn heute hier bei mir haben, wenn auch nicht persönlich, dann doch im Geiste. So, wie er im Geiste immer bei mir war.
Nachdem ich meinen Vater gefunden und mich mit dem auseinandergesetzt habe, was mit Elliot passiert ist, bin ich auf eine Weise für den heutigen Tag bereit, wie ich es vor einem Jahr nicht war und nicht hatte sein können. Ich werde Kieran und Elliot nie vergessen, aber die Erinnerung an sie und meine Schuldgefühle quälen mich nicht mehr. Kieran ist wieder fort, ich habe eine letzte Nachricht von ihm erhalten. Er ist nach Portsmouth zurückgekehrt, hat jedoch beschlossen, die Navy zu verlassen und sich stattdessen der Königlichen Seenotrettung anzuschließen. Er möchte sich irgendwo niederlassen, Wurzeln schlagen und sich dennoch Elliot nah fühlen. Er hat sich dafür bedankt, dass ich ihm in den letzten Monaten geholfen habe. Ich habe mich ebenfalls bei ihm bedankt, und dann habe ich unsere Freundschaft auf Facebook gelöscht. Ich weiß, dass ich nie wieder etwas von ihm hören werde.
»Julia?«, frage ich und hebe neugierig eine Braue.
»Roberts! Julia Roberts«, erwidert Milly. »Du weißt schon, Die Braut, die sich nicht traut.« Sie lacht, und Baby Holly hüpft bei jedem Lacher auf ihrer Brust.
»Ha, ha, sehr witzig«, entgegne ich und springe aus dem Bett, damit ich Holly am Bauch kitzeln kann. »Deine Mami findet sich sehr lustig.« Ich gebe ihr einen Kuss auf die rosige Wange. Sie gluckst und erbricht dann ihre Milch auf Millys Schlüsselbein. »Braves Mädchen!«, lobe ich und klatsche mich mit dem Baby ab, während Milly nach einem Tuch greift und die Milchspucke abtupft.
Es macht mir so einen Spaß, mich für das große Ereignis fertig zu machen. Es fühlt sich an wie früher, aber ganz anders als letztes Jahr. Viel entspannter, viel mehr wie ich. Es gibt keinen Champagner, keine Korsettanprobe, keinen Haar- und Make-up-Stylisten und keine offiziellen Fotografen. Dafür gibt es – dank Loni – starke Gin Tonics, laute Musik und viel Gelächter. Ich schlüpfe allein ins Schlafzimmer, um mein Brautkleid anzuziehen. Ich möchte eine Minute für mich allein haben – außerdem will ich die Reaktion der anderen sehen, wenn ich herauskomme.
Loni blickt zuerst auf, strahlt mich an und hält sich in einer Gebetshaltung die Hände vor den Mund. »O mein hübsches Mädchen … du siehst genau aus wie deine Mama! Es ist, als würde ich in einen Spiegel blicken!«
»Danke …«, erwidere ich zweifelnd, denn Loni trägt wieder einmal eine wild gemusterte Kreation in Lindgrün und Lila, und ihr Haar sieht aus wie üblich – als hätte sie in die Steckdose gefasst.
Milly ist ungewöhnlich still. Sie trägt ein wunderschönes gelbes Frühlingskleid, das sie auf eBay erstanden hat, und dazu schlichte weiße Pumps. Keine Designermarken, haben wir beschlossen. Milly schränkt sich jetzt, da sie kein Geld verdient, etwas ein und hat sich vorgenommen, ein etwas bescheideneres Leben zu führen, das zu dem Unternehmen passt, das sie im September gründen will. »Man kann schließlich nicht in Prada herumstolzieren, wenn man die Leute bittet, ihr Geld für wohltätige Zwecke zu spenden!«, hat sie erklärt.
»Du siehst wunderschön aus, Bea«, sagt sie jetzt.
»Danke … ja, es ist wirklich hübsch.« Ich streiche mit der Hand über den fließenden cremeweißen Stoff des 70er-Jahre-Kleids, das Loni mir überlassen hat und das mein »etwas Altes« ist, das man als Braut tragen sollte.
»Es ist wie für dich gemacht, mein Schatz«, bemerkt Loni. »Ich hatte früher eben auch mal deine Figur …« Etwas verzweifelt blickt sie an ihren üppigen Rundungen hinunter – seit sie und Roger offiziell ein Paar sind und sie aufgehört hat, ihn zu verstecken, sind sie wieder reichlich vorhanden.
Mein Kleid im Empirestil hat lange Chiffonärmel und einen Lagenrock, der weich bis zu meinen Knöcheln herabfällt. Es fühlt sich so leicht und zart an, als würde ich frische Luft tragen. Loni hat mir erzählt, es sei das Lieblingskleid meines Vaters gewesen, und jetzt bemerke ich, dass sie weint. Vielleicht, weil sie ihn ebenfalls loslässt? Ihre Scheidung ist endlich durch. Sie hat zugegeben, dass sie sich schon vor Jahren hätte scheiden lassen können – es gibt Möglichkeiten, sich von jemandem zu trennen, der als vermisst gilt –, aber sie war einfach noch nicht so weit. »Jetzt, da ich ihn wiedergesehen habe, kann ich endlich damit abschließen«, hat sie gesagt, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass Roger der eigentliche Grund für ihre Entscheidung ist.
»Du siehst wie eine echte Braut aus«, stellt Milly fest.
»Ich glaube, mit diesem Ausdruck bin ich noch nie bedacht worden!«, scherze ich, und wir lachen. Endlich können wir über all das lachen. Es ist genügend Zeit vergangen, die Vergangenheit ist vergangen.
Ich blicke hinunter und sehe in meinem Brautstrauß etwas Blaues, Dads kleines goldumrandetes Büchlein, das ich in meinen Strauß aus Vergissmeinnicht gebunden habe. Sein letzter Einsatz, bevor ich das Tagebuch für immer weglege.
Bea Hudson: Letztes Jahr um diese Zeit habe ich mich auf den wichtigsten Tag meines Lebens vorbereitet …
»Ich kann nicht glauben, dass wir letztes Jahr um diese Zeit geheiratet haben.« Adam blickt mich über den Rückspiegel an, und ich lächle und nicke, während ich an den Falten von Lonis Kleid herumnestle, das sie mir geschenkt hat, als sie ihren Dachboden aufräumte. Dann poste ich meine Statusmeldung und lege das Handy weg.
»Das war das Lieblingskleid von deinem Vater«, hat sie lächelnd gesagt. »Ich möchte, dass du es bekommst.« Sie gab mir auch Lens letzte bekannte Adresse, nachdem er uns verlassen hatte. »Ich weiß nicht, wohin er von dort aus weitergezogen ist, aber wenn du ihn wirklich suchen willst, Liebes, solltest du vielleicht dort anfangen? Ich kann dir helfen, wenn du möchtest …«
Ich betrachtete den Zettel einen Augenblick, dann steckte ich ihn in meine Tasche. Doch seltsamerweise habe ich jetzt das Gefühl, es reicht mir, Dads Tagebuch zu haben, Adam zu haben, meine Arbeit, die Uni, auf die ich mich freue, und die Aussicht, wieder herzuziehen. Aber wer weiß, ob sich das vielleicht noch mal ändert?
Nach einem weiteren wundervollen Wochenende in Norfolk befinden wir uns auf dem Rückweg nach Greenwich. Seit Adam nicht mehr arbeitet und wir in Norfolk nach einem Haus suchen, das wir ab September mieten können, sind wir oft dort – und verbringen viel Zeit mit Loni, Cal, Lucy, Nico und Neve.
Allmählich entwickeln Adam und ich uns zu ziemlich guten Babysittern, wenn Cal und Lucy ausgehen oder einfach nur ein bisschen Schlaf nachholen wollen. Bis zu jenem Tag, an dem Cal mich nach meinem Streit mit Adam in London abholen kam, war mir nicht bewusst gewesen, unter welchem Druck sie stehen. Mir war nicht klar, wie viel ich verpasste, indem ich nur noch aus der Ferne mit ihnen kommunizierte: SMS, Anrufe, Facebook-Updates … nichts von diesen Dingen dringt unter die Oberfläche vom Leben der Menschen. Jetzt, nachdem ich so viel Zeit mit meiner Familie verbringe, verstehe ich nicht, wie ich so lange ohne sie leben konnte.
In den letzten Tagen haben wir auf dem Dachboden jede Menge alter Kartons durchgesehen, und Cal und ich haben mit Loni viel über die alten Zeiten und über Dad geredet. Etwas ist passiert, das es Loni jetzt erlaubt, darüber zu sprechen. Vielleicht wollte sie offener sein, als sie gesehen hat, dass Adam und ich uns fast getrennt hätten. Oder es liegt daran, dass Adam ihr von seiner Reise durch Goa erzählt hat, was in Loni Erinnerungen zu wecken schien. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass sie endlich jemanden kennengelernt hat, auf den sie sich einlassen kann, und bereit ist, die Vergangenheit loszulassen und nach vorn zu schauen.
Auch ich bin bereit, nach vorn zu schauen. Ich verspüre nicht mehr das dringende Bedürfnis, Dad zu suchen. Vielleicht, weil ich endlich mit der Vergangenheit abgeschlossen habe. Vielleicht, weil Loni mir endlich die Wahrheit darüber erzählt hat, warum Dad gegangen ist. Von seiner jahrelangen schweren Depression zu erfahren hat mich sehr bewegt. Es hat mich an meine eigenen Kämpfe erinnert, aber es hat mir auch klargemacht, wie weit ich gekommen bin. Ich weiß, dass ich mich nicht mehr auf demselben Weg befinde wie er. Ich folge meinem eigenen Schicksal, meinen eigenen Sternen.
Dort draußen wartet ein anderes Leben auf mich. Ich blicke zu Adam und lächle. Und ich weiß, dass es ein glückliches Leben ist.
»Hast du was zu trinken?«, flüstere ich Loni zu, als sich unsere kleine Prozession, bestehend aus Loni, Cal, Milly, Sal, Aaron und mir, auf den Weg durch den Park macht. Lächelnd stelle ich fest, dass die Hälfte unserer Gäste schon da ist. Diesmal ist es eine andere Hochzeit.
»Natürlich, Liebes.« Sie holt eine Plastikflasche heraus und zwinkert mir zu.
Ich nehme einen großen Schluck und spucke ihn dann vor Überraschung wieder aus. »Das ist ja Wasser! Ich dachte, es wäre Gin …«
Loni blinzelt mich an. »Bea, ich hab Adam geschworen, dich diesmal standesgemäß abzuliefern – und standesgemäß heißt nüchtern. Wir wollen doch keine Ausrutscher mehr, oder? Außerdem«, fügt sie hinzu und tätschelt meine Hand, »hab ich das Gefühl, du musst dir diesmal keinen Mut antrinken.«
Ich muss grinsen. Ihr gigantischer Modeschmuck glitzert und funkelt mit ihrem Lächeln um die Wette. Ich bin mir nicht ganz sicher, was anders an ihr ist, nur, dass sie sich irgendwie wohler zu fühlen scheint. Mir ist klar, wie sehr sie sich all die Jahre zuvor bemüht hat, glücklich zu wirken – jetzt ist sie glücklich, und das strahlt sie mühelos aus. Robert wartet am Eingang auf uns, und ich kann sehen, wie aufgeregt Loni ist. Nachdem wir aus Goa zurückgekehrt waren, hat sie eine Menge von Robert gesprochen. Sie hat mir erzählt, dass sie ihn schon seit Monaten kannte, ihn jedoch nicht wirklich an sich herangelassen hat, weil sie nach der Geschichte mit Dad das Gefühl hatte, sich nicht mehr verlieben zu können. Sex war okay, Sex war unkompliziert, aber mit der Liebe war es etwas anderes. Robert war der Erste, der diese emotionale Blockade durchbrochen hat. Er ist schnell ein Teil der Familie geworden, und ich glaube, es ist kein Zufall, dass Loni beschlossen hat, nicht mehr »Loni Bishop« zu sein, der Guru für Singles. Nach einer monatelangen Schreibblockade hat sie ein Buch geschrieben und es unter ihrem Mädchennamen Loni Hart bei Amazon als E-Book veröffentlicht. Es hat sofort die Bestsellerliste gestürmt und sich in vier Wochen schon dreimal so oft verkauft wie ihr letztes Buch. Es heißt Die Kunst loszulassen: Wie man ohne alten Ballast ein neues Leben anfängt. Es ist großartig. Nicht zuletzt, weil es das erste Buch von ihr ist, das ich gelesen habe, ohne rot zu werden.
Wir treten durch die prächtigen vergoldeten Tore des King William Walk und passieren den Kräutergarten von Greenwich Park, der an diesem sonnigen Apriltag plötzlich zum Leben erwacht zu sein scheint. Die alten Bäume sind voller blasser Blüten und grüner Blätter, zartrosa Magnolienknospen explodieren und künden von einem Neuanfang. Ich denke an mein Treffen mit James Fischer, der es sehr interessant fand, dass ich mein Studium der Landschaftsarchitektur an der UEA in Norwich beenden will. »Ich möchte dort ein Büro eröffnen, weil mein Lebensgefährte und ich beschlossen haben, halb in London und halb in Norfolk zu wohnen. Wenn Sie Erfahrungen sammeln wollen, würde ich Sie dort sehr gern stundenweise als Assistentin beschäftigen. Ich könnte Ihr Mentor sein, ich habe bereits an der UEA gelehrt, von daher bin ich mir sicher, dass die das akzeptieren werden …«
Lächelnd blicke ich zum Royal Observatory, das oben auf dem Hügel thront – ein Ort, von dem aus Sternforscher schon lange die Zeit gemessen und die Schifffahrt navigiert haben, der Ort, durch den der Längengrad von Greenwich, der Nullmeridian, verläuft und an dem das Planetarium steht. Erde, Meer und Sterne – alles wird dort vermessen. Heute kommt es mir wie das Zentrum der Welt vor. Oder vielmehr wie das Zentrum meiner Welt. Alles hat sich gefügt. In Greenwich habe ich erneut zu leben begonnen. Hier habe ich meine zweite Chance erhalten, glücklich zu werden. Darum wollte ich, dass wir hier heiraten. Ich blicke hinauf zu dem roten Zeitball, warte, dass er fällt, und plötzlich überkommt mich ein heftiger Impuls.
»Ich muss gehen«, keuche ich auf und befreie mich von Milly, die sich bei mir untergehakt hat.
»Was? Warte! HALT!«, höre ich sie schreien, während ich zu laufen beginne. Aber ich achte nicht auf sie. Mir bleibt nicht viel Zeit.
»Halt an!«, verlange ich, und Adam bremst scharf am Greenwich Park. Ich öffne das Fenster und strecke den Kopf hinaus, um besser sehen zu können. Der Himmel hat das Blau von Vergissmeinnicht, und die wenigen Wolken sind blassrosa wie die Wangen eines Babys. Narzissen säumen jede noch so kleine Rasenfläche wie gelbe Glocken, die zur Feier des Frühlings läuten. Adam setzt in eine Parklücke zurück, und ich stoße die Tür auf. Ich kann die Sternwarte oben auf dem Observatory Hill von hier aus nicht sehen, doch ich fühle sie. Es ist, als würde mich ein unsichtbarer Faden dort hinaufziehen.
»Wohin willst du?«
»Ich bin sofort wieder da!« Ich laufe um den Wagen herum auf die andere Seite, klopfe an sein Fenster und küsse ihn auf die Lippen. Er wirkt überrascht und verwirrt, aber nicht übermäßig besorgt. »Ich hab noch etwas zu erledigen, bevor wir zurück zu Millys Wohnung fahren.«
»Wohin willst du?«, schnauft Milly, während sie neben mir herläuft und Holly in der Babytrage auf und ab hüpft. Sie packt meinen Arm, und ich bleibe abrupt stehen. »Bea, das kann ich nicht zulassen! Nicht noch mal!«
»Ich brauch nicht lang, Milly. Versprochen«, sage ich und blicke verzweifelt zum Royal Observatory hinauf. Ich habe das Gefühl, als hätte es mich die ganze Zeit beobachtet und auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, mich zu sich zu rufen. »Ich kann es dir nicht erklären, aber ich muss etwas erledigen, ich muss an einen bestimmten Ort, bevor ich Adam heirate.« Ich winde meinen Arm aus ihrem Griff und steige den Hügel hinauf, als würde ich von einem Magneten angezogen. »Ich muss dahin, aber ich verspreche dir, rechtzeitig zurück zu sein.«
»Das ist nicht der Moment, Sterne zu beobachten, Bea!«
»Entspann dich, Milly!« Ich lache. »Wir sehen uns gleich im Blumengarten!« Und dann laufe ich erneut los.
Ich eile durch das vergoldete Tor am King William Walk, und Lonis Kleid bauscht sich um meine Beine, während ich an dem Kräutergarten und dem kleinen Café vorbeilaufe. Ich bin mir ganz sicher, dass ich hierherkommen soll.
Ich spüre es.
Es ist Samstag, und der Park ist an diesem Frühlingsmorgen bereits gut besucht. Ich schlängle mich zwischen den Leuten hindurch, die über die Wege strömen, an Hunden und diversen Fahruntersätzen vorbei – Fahrrädern, Rollern, Inlineskates. Paare gehen Arm in Arm spazieren, und auf dem Rasen spielen Familien Frisbee und Ball. Der Park ist ein Meer aus Leben und Farben. Überall blühen Narzissen, Tulpen und Krokusse.
Als ich das Observatory oben auf dem Hügel entdecke, beschleunige ich meine Schritte und höre dabei das Kreischen der Wellensittiche und das Lachen von Kindern, die Verstecken spielen.
»Gefunden!«, ruft ein Mädchen, das ihre Freundin hinter einem Baum hervorholt. Und da bemerke ich, dass ich mich genauso fühle. Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe. Ich weiß genau, wo ich hingehöre und wer ich bin. Und das fühlt sich gut an. Kurz bleibe ich stehen, um einen kleinen Strauß Vergissmeinnicht zu pflücken, die unter einem Baum wachsen. Das Blau passt zum Gartentagebuch, das ich überall mit mir herumtrage, seit ich es in Millys Wohnung wiedergefunden habe. Ich binde es an die Blumen. Es soll mich daran erinnern, nie wieder aus dem Blick zu verlieren, worum es in meinem Leben geht.
Sobald ich das Observatory sehe, verspüre ich den überwältigenden Drang, so schnell wie möglich dorthin zu gelangen. Mein langes cremefarbenes Kleid bauscht sich wellenartig um meine Beine, während ich mich an Radfahrern, Kindern auf Skateboards und Inlineskates, Müttern mit Kinderwagen und Hundebesitzern vorbeischlängle. Als ich den Fuß der Stufen erreiche, die zur Sternenwarte hinaufführen, bleibe ich nicht stehen. Ich höre nicht dem Straßenmusikanten zu, wie ich es normalerweise tun würde. Stattdessen raffe ich mein Kleid, umklammere meinen Vergissmeinnichtstrauß, spüre das vertraute Brennen in meinen Waden und das Rauschen des Adrenalins in meinen Ohren. Als ich die anderen Leute auf der Treppe überhole, bleiben alle stehen, um die verrückte Braut anzustarren. »Darf ich bitte vorbei? Ups, tut mir leid!«, entschuldige ich mich, als ich in meiner Hast versehentlich die eine oder andere Schulter anremple und in Leute hineinrenne. Ich fühle mich wie in meiner Jugend, als ich über die Strände gerannt bin. Mir wird bewusst, wie sehr mir das Laufen fehlt, und ich nehme mir fest vor, wieder damit anzufangen. Der Park dehnt sich nach links aus, und die Wege verlaufen kreuz und quer in Richtung Stadt, die in der Ferne wie ein graues Gespenst wirkt.
Endlich erreiche ich vor Anstrengung keuchend den Gipfel und stehe vor der 24-Stunden-Uhr am Shepherd Gate, dem Eingang zum Royal Greenwich Observatory. Wie der Nullmeridian deuten auch die Zeiger in einer senkrechten Linie nach oben. Es ist 12:55 Uhr. In fünf Minuten fällt der Ball.
Ich komme gerade rechtzeitig.
Wenn ich nur wüsste, wozu.
Ich bleibe am Fuß der Treppe stehen, um zu Atem zu kommen und einen Augenblick dem Straßenmusikanten zu lauschen. Mit der einen Hand halte ich meine Vergissmeinnicht, die andere stecke ich in meine Jackentasche und hole ein paar Pfundmünzen heraus. Der Musiker nickt mir lächelnd zu, als ich sie in seinen Gitarrenkoffer werfe, dann höre ich ihm noch einen Moment zu, ehe ich mich daranmache, die Stufen hinaufzusteigen. Ich beginne schnell, muss jedoch bald eine Pause einlegen, als ich merke, dass die Treppe steiler ist, als sie aussieht, und ich nicht so fit bin, wie ich es gern wäre. Sieben Jahre Büroarbeit und eine Wohnung mit Fahrstuhl in Canary Wharf haben ihren Preis. Doch das wird sich bald ändern. Ich denke an unsere Pläne, joggen zu gehen, wenn Adam und ich nach Norfolk ziehen, und an die Gärten, in denen ich arbeiten werde. Und ich denke an meinen Job bei James. Alles hat sich so perfekt gefügt, dass es sich beinahe anfühlt, als wäre es … vorherbestimmt gewesen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Leben hätte anders verlaufen können.
Etwas langsamer klettere ich weiter die Stufen hinauf. Als ich die Spitze des Hügels erreiche, zeigen die Zeiger der Shepherd Gate Clock auf 12:55 Uhr. Es ist so voll, dass ich nichts sehe, bis auf eine ausländische Schulklasse, deren Schüler alle die gleichen roten Regenmäntel tragen. Ich recke ungeduldig den Hals und versuche, mehr zu sehen, dann gebe ich auf und gehe hinein.
Ich betrete das Flamsteed House, gehe zum Empfangstresen und krame etwas Geld für eine Karte heraus, um in den Hof zu gelangen. Die Kassiererin hebt die Brauen und mustert mein Outfit.
»Gehören Sie nicht eher ins Queen’s House, meine Liebe? Die Hochzeiten finden normalerweise dort statt …«
Als ich in den Hof hinaustrete, taucht ein Mann auf und verkündet, dass es Zeit für die nächste Führung ist. Die Leute sammeln sich hinter ihm, und nach einer kurzen Einführung brechen sie auf und hinterlassen einen leeren Hof.
Es ist ein magischer Moment. Ich habe das Gefühl, auf dem Dach der Welt und direkt auf der Schwelle der Zeit zu stehen. So sollte sich eine Braut an ihrem Hochzeitstag fühlen. Ich denke nicht an meine Vergangenheit, ich mache mir auch keine Sorgen um meine Zukunft. Ich bin ganz im Hier und Jetzt – und doch habe ich aus irgendeinem Grund das Gefühl, es würde ein Teil von mir fehlen. Es ist nicht Dad und auch nicht Kieran … Aber was dann … oder wer?
Aus mir unerfindlichen Gründen zieht es mich zum Nullmeridian, der sich auf der rechten Seite des Hofs erstreckt. Ich stelle meine Füße auf beide Seiten des Längengrads, blicke zum Himmel hinauf, stelle mir die Sterne vor, die dort oben auf ihren Auftritt warten, und warte ebenfalls.
Durchs Flamsteed House gelange ich hinaus in den Hof. Vor fünf Minuten war er noch voller Touristen, aber plötzlich hat er sich geleert, die letzten Besucher schlendern mit einem elegant gekleideten Führer davon. Eine Frau steht mit dem Rücken zu mir und hat einen Fuß auf jede Seite des Längengrads gestellt wie Tausende, nein, Millionen Menschen vor ihr. Die Sonne scheint herab, strahlt von den roten Backsteinwänden des Octagon Room wider und bricht sich an dem Zeitball über uns. Ich blicke hinüber zum Royal Naval College und dem Himmel, der sich darunter in der Themse spiegelt. Den Vergissmeinnichtstrauß fest in der Hand werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr und mache einen Schritt zurück, als ich die Uhrzeit sehe. Ich gehe weiter rückwärts, um einen besseren Blick auf das Panorama der Stadt zu erhalten, wobei ich schützend eine Hand vors Gesicht halte, da mir das gleißende Sonnenlicht in den Augen brennt.
Mit einem Mal schiebt sich eine dunkle Wolke über den Hof, und der bronzefarbene Schimmer des Meridians verwandelt sich in ein erdiges Braun. Als ich aufblicke, fällt gerade der Zeitball herab. Es ist ein Uhr mittags, und im selben Moment stoße ich wie aus dem Nichts heftig mit jemandem zusammen. Vor Schreck schreie ich auf.
Ich spüre, wie jemand mit voller Wucht in mich hineinrennt und ich das Gleichgewicht verliere. Während ich nach vorn stürze, schreit die andere Person auf. Das Letzte, was ich sehe, bevor ich auf dem Boden auftreffe, ist der bronzene Längengrad vor meinen Augen. Ich habe das Gefühl, in ihn hineinzufallen, und als ich mit dem Gesicht voran auf dem Meridian lande, sehe ich nur noch Sterne.
Dann wird alles um mich schwarz.
Ich gerate ins Straucheln und falle, und kurz bevor ich rücklings auf dem Boden lande, sehe ich nur noch Sterne.
Dann wird alles um mich schwarz.