8. Kapitel

»Auf diesen Augenblick habe ich acht lange Jahre gewartet, Bea. Egal, wo auf der Welt ich gewesen bin, wann immer ich die Augen geschlossen habe, habe ich diesen Strand vor mir gesehen, diese Aussicht. Und dich …«

Ich starre Kieran an, dann schüttle ich den Kopf. Ich kämpfe mit dem Zwang, wie verrückt über seine Worte zu lachen, während zugleich ein verzweifeltes Schluchzen in meinem Körper aufsteigt. Ich möchte die Arme um ihn schlingen und ihm gleichzeitig sagen, dass er sich verpissen soll. Es handelt sich ganz eindeutig um eine Art Nervenzusammenbruch. Und zwar nicht um einen normalen Hochzeitsnervenzusammenbruch.

Stattdessen sage ich nichts. Ich nehme ein bisschen Sand in die Hand und beobachte die Körner, die wie die Zeit durch meine Finger rieseln. Dann blicke ich zu Kieran auf. Er beobachtet mich verträumt, als würde auch er mit einem Fuß in der Vergangenheit stehen und mit dem anderen in der Gegenwart. Er geht in die Hocke und will den Arm um mich legen.

»Kieran!«, protestiere ich scharf und weiche aus. »Nicht. Hör auf. Hast du vergessen …?«

»Ich habe dich nie vergessen, Bea!«, entgegnet er heftig. »Das solltest du wissen. Wie könnte ich vergessen, was wir zusammen durchgemacht haben?« Er streckt die Hand nach mir aus. Ich mustere den Ring an seinem Finger und ziehe meinen Arm weg.

»Hast du meine Hochzeit vergessen?, wollte ich eigentlich sagen. Du weißt schon, die du gerade hast platzen lassen? Seltsam, dass ich keine Lust habe, jetzt mit dir in Erinnerungen zu schwelgen.« Ich wende mich ab, mein Puls pocht, mein Herz hämmert, meine Hände zittern. Ich will ihn nicht ansehen, und ich will mich von ihm nicht in ein Gespräch verwickeln lassen. Doch obwohl ich ihm den Rücken zukehre, hat sich sein Bild in meinen Kopf eingebrannt. Ich spüre seine Gegenwart mit jeder Pore. Es ist, als würde er sich erneut in mein Herz schleichen und ich könnte ihm nicht widerstehen.

Ich kann nicht anders. Ich drehe den Kopf und mustere ihn trotzig und ungehemmt über meine Schulter hinweg. Er ist zweifellos zu einem starken, ansehnlichen, anziehenden Mann herangewachsen. Doch dann blinzle ich, und es ist, als hätte jemand ein Stundenglas umgedreht, und die Jahre würden sich vor meinen Augen auflösen wie eine Sandburg, die von einer Welle hinweggespült wird. Sein muskulöser Körper schrumpft, und er wird zu dem schmalen Surfertypen, der er mit Anfang zwanzig war. Seine kurzen Haare wachsen ihm über die Augen, die Linien um seinen Mund und auf seiner Stirn lösen sich in nichts auf. Mir ist klar, dass auch er daran denkt, wie ich damals ausgesehen habe … mit längeren, offenen Haaren, weniger Make-up, weniger Sorgenfalten. Und ohne Hochzeitskleid.

»Warum bist du hier, Kieran?«, frage ich argwöhnisch. »Warum jetzt?«

Er wartet einen Moment, bevor er antwortet. »Ich glaube, es fühlte sich einfach wie der richtige Zeitpunkt an.«

Ich lache gezwungen. »Ach, tatsächlich? Richtig für wen?«

Kieran sieht mich traurig an. »Du bist wütend auf mich.«

»Nein, ich bin wütend auf mich.« Ich stoße die Luft aus. »Das hier ist nicht der richtige Zeitpunkt, Kieran. Der war vor acht Jahren.« Ich will aufstehen, stelle jedoch fest, dass mir das in diesem knallengen Kleid unmöglich ist. Einen Augenblick fuchtele ich mit den Armen wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt, dann gebe ich auf.

»Komm, ich helfe dir.« Kieran lächelt.

»Nein, danke.« Ich lasse mich zurück in den Sand plumpsen und verschränke die Arme.

Kieran seufzt. »Ich weiß, dass du das jetzt nicht hören willst, Bea, aber ich muss dir etwas erklären. Egal, wie weit ich gereist und wie lange ich weg gewesen bin, du warst immer bei mir. Du, Elliot, der Sommer …« Er senkt den Blick. »… jener Abend. Ich hab auf gewisse Weise das Gefühl, nie wirklich fortgegangen zu sein. Ein Großteil von mir ist immer hier bei dir gewesen.« Er tritt auf mich zu, als würde mein Schweigen bedeuten, dass ich nachgebe. »Ich hab dich so sehr vermisst, Bea … Du bist die Einzige, die mich versteht … die weiß, wo ich herkomme, wer ich bin. Du bist die Einzige, die versteht, was es bedeutet, jemanden zu verlieren, den man liebt …« Seine Stimme bricht. »Ich vermisse ihn noch immer. Jeden Tag.«

Ich schließe die Augen, und sofort sehe ich Elliot vor mir, der ausgelassen vom Cromer Pier springt. Ich höre seinen Schrei, als er ausrutscht und mit dem Kopf aufschlägt. Ich sehe seinen leblosen Körper, als Kieran ihn aus dem Meer zieht.

Er reicht mir die Hand, und diesmal nehme ich sie. Dabei bemerke ich eine Tätowierung auf seinem Handgelenk – ein Sternzeichen. Gemini. Die Zwillinge. Flüchtig streiche ich darüber. Kieran umfasst meine Finger, und seine Lippen verziehen sich zu einem kurzen Lächeln, das sogleich wieder erstirbt. Anstatt aufzustehen, ziehe ich ihn zu mir herunter.

Wir sitzen schweigend nebeneinander und beobachten einen Schwarm Wildgänse, der am Himmel vorüberzieht. Jetzt lasse ich die Erinnerungen an jenen friedlichen Sommer zu, in dem wir uns kennenlernten. Er war fünfundzwanzig, ich zweiundzwanzig. Er und sein Zwillingsbruder Elliot waren schon oft in Norfolk gewesen, jedoch nie lange genug geblieben, um sich hier niederzulassen. Sie waren ehemalige Pflegekinder, deren Pflegeeltern sich getrennt hatten und dann weggezogen waren. Keiner der beiden wollte sich mehr um sie kümmern. Er erzählte mir, dass er und Elliot im Heim zunehmend wilder geworden waren, bis sich ihr Leben zu einer ständigen Mutprobe entwickelt hatte. Als sie achtzehn wurden und das Heim verließen, schlugen sie sich an der Küste durch, jobbten hier und da auf Campingplätzen, in Bars und Restaurants, und stachelten sich gegenseitig zum nächsten Nervenkitzel an.

Als wir das erste Mal miteinander schliefen, erklärte Kieran mir, dass er sich vor niemandem rechtfertigen müsse. Er treffe seine eigenen Entscheidungen und folge stets seinem Herzen und seinem Instinkt, wo immer ihn diese auch hinführten. Ich erinnere mich noch genau, wie er mich dabei ansah. »Und jetzt weiß ich, warum sie mich hierhergeführt haben«, fügte er hinzu, senkte den Kopf und legte ihn auf meiner Brust ab. Dann schliefen wir eng umschlungen unter dem Sternenhimmel ein. Vier weitere Monate lösten wir uns nicht voneinander. Es war himmlisch. Mein Sommer der Liebe. Bis …

Schlagartig fällt mir wieder ein, was er zu mir sagte, als er wegging, an dem Tag nach Elliots Beerdigung an ebendiesem Strand: Ich kann das nicht. Es tut mir leid. Plötzlich überkommt mich heftige Reue, als ich daran denke, wie ich Adam vorhin genau dasselbe gesagt habe.

»Was mache ich hier eigentlich?« Das wollte ich nicht laut sagen, merke jedoch, dass ich es getan habe. Ich ziehe mich an Kierans Arm nach oben, dann versuche ich, die Dünen hinunterzulaufen. Meine Füße versinken im Sand, der um mich herumwirbelt und mir in die Augen fliegt, während ich ungelenk über den Strand stolpere. Kierans leere Worte von vor all den Jahren hallen noch immer durch meinen Kopf. Ich brauche nur etwas Zeit. Du wartest doch auf mich, oder? Ich muss wissen, dass du auf mich wartest

»Bea!«, ruft Kieran. »WARTE

»WARTE?« Voller Wut, Angst und Schuld wirbele ich herum. »Was meinst du wohl, was ich ein ganzes Jahr lang getan habe, Kieran? Ich habe auf dich gewartet. Ich habe gewartet und gewartet, aber du bist nicht gekommen. Und ich verstehe, warum. Du gibst mir die Schuld an Elliots Tod. Das hast du zwar abgestritten, aber als du nicht zurückgekommen bist, wusste ich es. Ich wette, du konntest es nicht ertragen, an mich zu denken, geschweige denn, mich zu sehen …«

»Was? Bea, nein! Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht deine Schuld war!«

»Ich will das nicht hören!« Ich weine und halte mir die Ohren zu. »Es ist zu spät, OKAY? ES IST ZU SPÄT

Er taumelt vorwärts, doch ich laufe weiter, wobei ich mir noch immer die Ohren zuhalte, um den wachsenden Lärm zu ersticken, dieses ohrenbetäubende Brüllen meiner lang verdrängten Schuld.

Ein junger Mann ist meinetwegen gestorben, und das werde ich mir nie verzeihen. Ich verdiene es nicht, glücklich zu sein. Daran hat Kieran mich erinnert. Gott sei Dank. Es ist mir gerade noch rechtzeitig klar geworden.