60. Kapitel

Als ich im Taxi zurück nach London rase, hole ich mein Handy aus der Tasche. Es gibt nur eine Person, mit der ich jetzt reden will. Einen Menschen, dessen Rat ich in dieser Situation brauche. Ich scrolle durch mein Telefonbuch bis zum L und drücke die Anruftaste.

»Hallo, hier spricht Loni Bishop. Frohes neues Jahr!«

»Loni?«, sage ich, und meine Stimme bricht, bevor ich anfange, haltlos zu schluchzen.

»Bea? Was ist los? Ist es wegen dieser Marion? Was hat sie diesmal gesagt? Ich schwöre, wenn sie …«

»E…es ist nicht wegen Marion«, stammle ich, »sondern meinetwegen. I…ich habe Adam verlassen.«

»Ach, Liebes … wo bist du?«

»In einem Taxi auf dem Weg zurück in unsere Wohnung. Ich packe ein paar Sachen und habe mich gefragt, ob … ob ich nach Hause kommen kann?«

Als ich die Wohnung betrete, wirkt diese kalt und fremd. Es kommt mir vor, als wäre ich monatelang weg gewesen, obwohl wir erst heute Morgen zu Adams Eltern aufgebrochen sind. War das wirklich erst heute Morgen? Nach Loni habe ich Milly angerufen. Sie schien die Neuigkeit ziemlich schlecht aufzunehmen. Als ich ihr erzählte, was ich getan habe, schrie sie auf, als hätte sie Schmerzen. Ich wusste zwar, dass sie Adam und mich mag, aber ihre Reaktion schien mir doch ein bisschen übertrieben. Erst als ich hörte, wie Jay offenbar einem Taxifahrer zurief: »Ins Krankenhaus bitte!«, begriff ich, dass sie gerade in den Wehen lag und dass sich das Baby fünf Wochen zu früh ankündigte. Ich machte mir große Sorgen, dass ich ihr möglicherweise noch mehr Stress bereitet hatte.

»Bitte vergiss Adam und mich. Denk nur an dich und das Baby. Wir kriegen das schon hin. Ich bin mir sicher, dass wir …«

»Besser ist es«, keuchte sie. »Oder du musst mir und diesem Baby Rechenschaft ablegen. Ihr zwei seid unsere erste Wahl als Paten … Ich ruf dich an.« Und mit diesen Worten legte meine beste Freundin auf.

Ich lasse meine Tasche auf den Boden fallen und sinke daneben, ich kann weder das Gewicht meines Körpers länger tragen noch das, was ich gerade getan habe. Ich fühle mich so fern von allen, so allein.

Als ich die schlichte Hightech-Einrichtung betrachte, komme ich mir auf einmal wie in einem Hotelzimmer vor. Nichts scheint mir vertraut. Es ist, als hätte ich in den letzten sieben Jahren ausgiebig Ferien an einem Ort gemacht, an dem ich eigentlich nicht lange hatte bleiben wollen. Sicher, es ist wunderschön, luxuriös, aber es ist nicht meins.

Apathisch stehe ich auf und schlurfe zum Sideboard im Wohnzimmer. Darauf stehen zwei gerahmte Fotos, eins zeigt Adam und mich vor ein paar Jahren an seinem dreißigsten Geburtstag. Er trägt einen Abendanzug und lacht über etwas, was ich gesagt habe. Wie glücklich wir aussehen. Ich hebe es auf und streiche mit dem Finger über sein Gesicht. Dabei spüre ich einen grausam brennenden Stich in meinem Bauch – Scham und Bedauern. Er schmerzt so heftig, dass ich mich zusammenkrümme. Ich vermisse Adam. Ich will nicht ohne ihn hier sein, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, ihn nicht mehr zu sehen, ihn nicht zu halten, nicht mehr mit ihm zu sprechen, ihn nicht mehr zu lieben. Ich weiß, dass er mich nicht verletzen wollte. Er hat getan, was er immer getan hat – er hat Entscheidungen getroffen, von denen er meinte, sie wären das Beste für uns beide, weil ich schon seit langer Zeit nicht mehr dazu in der Lage war. Es überrascht mich, dass er überhaupt so lange bei mir geblieben ist. »Es tut mir leid«, flüstere ich dem Bild zu. »Es tut mir so schrecklich leid.«

Ich gehe ins Schlafzimmer und werfe ein paar Klamotten sowie eine Handvoll Bücher und CDs in einen Koffer. Als ich problemlos meine weltlichen Besitztümer darin verstaue, wird mir bewusst, dass ich nichts besitze, was man nicht transportieren kann. Habe ich die ganze Zeit auf diesen Moment gewartet? Darauf wegzulaufen genau wie mein Vater?

Ich gehe zurück ins Wohnzimmer und sehe mich ein letztes Mal um. Dabei nehme ich aus dem Augenwinkel den Ausgang zur Feuertreppe wahr. Ich weiß, ich sollte nicht hinaufgehen, doch ebenso wie ich den Drang verspüre zu fliehen, empfinde ich das gegenteilige Bedürfnis zu bleiben. Ich wende mich der Treppe zu. Ich möchte nach oben gehen und einen letzten Blick von der Dachterrasse werfen, aber wenn ich das tue, schaffe ich es nie, hier wegzukommen. Ich kann nicht so weitermachen wie bisher und so tun, als wäre alles okay. Seit dem Sturz in der Kirche habe ich verzweifelt versucht, mir ein neues Leben einzurichten, und alles, was vorher gewesen ist, zu vergessen – meine Krankheit, meine Unsicherheiten, mein Bedürfnis, meinen Vater zu suchen, und meine Fehler. Aber ich habe es satt, mich vor meiner Vergangenheit zu verstecken, satt, mich schuldig zu fühlen und zu glauben, dass jeder, der mich liebt, mich verlassen wird. Ich bin es leid, nicht zu wissen, was ich mit meinem Leben anfangen soll.

Ich muss mich dem stellen, wovor ich so lange davongelaufen bin.

Ich muss nach Hause fahren.