47. Kapitel
Es ist ein eiskalter Samstagmorgen, und ich laufe gedankenverloren durch die hübschen Kopfsteinpflastergassen des Greenwich Market, auf dem es bereits geschäftig zugeht und intensiv nach Gewürzen und Räucherwerk duftet. Durch eine winzige Gasse gelange ich in die Church Street.
Dort hole ich mein Handy aus der Tasche und scrolle durch die oberflächlichen Geburtstagsnachrichten von meinen Facebook-Freunden. Ich weiß, dass ich kein Recht dazu habe, aber heute vermisse ich Adam. Sehnsüchtig denke ich daran, dass er sich den Tag immer frei genommen und mich mit einem besonderen Geburtstagsfrühstück im Bett geweckt hat – mit Pancakes, Obst und Kaffee. Den Großteil des Vormittags verbrachten wir im Bett, bevor er mit mir einen Überraschungsausflug unternahm. Manchmal fuhren wir mit dem Auto in ein Hotel außerhalb von London, oder er ging mit mir in den Botanischen Garten oder führte mich in einem rustikalen, denkmalgeschützten Pub zum Mittagessen aus. Adam mochte meine einfachen Vorlieben, und ich fand es herrlich, wie entspannt er war, wenn ich ihn aus seiner von Geld, Arbeit und Status besessenen Welt entführte, in der er aufgewachsen war. Außerhalb von London schwanden die Unterschiede zwischen uns, und an diesen Tagen wurde besonders deutlich, wie gut wir eigentlich zusammenpassten. Wir lachten über dieselben Dinge und sprachen von denselben Zielen – Kinder, auf dem Land leben, selbstständig arbeiten. Adam öffnete sich den Dingen, die er wirklich liebte – Kunst, Reisen und Geschichte. Einmal gab er sogar zu, er hätte lieber Kunstgeschichte studiert, anstatt sich von George zu einem Diplom in Werbung und Marketingkommunikation drängen zu lassen.
Plötzlich wird mir bewusst, dass er mir fehlt. Sehr sogar.
Als ich den Blumenladen erreiche, stelle ich überrascht fest, dass das »Geschlossen«-Schild an der Tür hängt. Es ist nach sieben Uhr morgens – Sal meinte gestern, ich solle heute ausschlafen, aber das kann ich nicht. Ich wache an meinem Geburtstag immer früh auf, und diesen Tag will ich unbedingt mit der Sache verbringen, die endlich richtig in meinem Leben ist – mit meiner Arbeit. Ich habe gemerkt, wie glücklich es mich macht, das zu tun, wozu ich wirklich Lust habe. Und ich möchte das jeden Tag haben. Es ist besser für meinen Kopf und für mein Herz als jede Therapie.
Als ich durchs Schaufenster spähe – alle Lichter in Laden sind aus –, klingelt mein Handy.
Ich blicke aufs Display. »Hallo, Lon…«
»Happy birthday to you, happy birthday to you! Happy birthday, meine liebe wunderschöne Tochter, happy birthday to you. Alles Gute!«, trällert sie.
»Danke«, sage ich lächelnd. Egal, wie einsam ich mich fühle, Loni ist immer da.
»Und wie geht es meinem umwerfenden Mädchen an ihrem Ehrentag? Was machst du, Liebes? Hast du was Schönes vor? Ich mach jetzt ein bisschen Tai Chi am Strand und überlege, ob ich mir nicht eine kleine, unverschämte Runde Nacktbaden gönne, um die Gifte aus meiner Haut zu spülen. Nicht zu fassen, dass du einunddreißig bist«, schnaubt sie. »Ich sehe viel zu jung aus, um eine Tochter in deinem Alter zu haben!«
»Und ich fühle mich zu alt, um eine Mutter zu haben, die so jung aussieht!«, erwidere ich herzlich. »Mir geht’s gut. Ich komme gerade bei der Arbeit an.«
»Oh Bea, warum springst du nicht in den Zug und kommst her, wenn du im Blumenladen fertig bist? Lass mich dich verwöhnen. Wir können einen langen Spaziergang machen, ein bisschen Zeit miteinander verbringen.«
»Ich weiß nicht«, sage ich und suche in meinem Hirn nach einer Ausrede. »Ich glaub, ich möchte lieber ein bisschen allein sein.« Schon während ich die Worte ausspreche, weiß ich, dass das nicht stimmt. Außerdem habe ich bisher nicht mehr über die Adresse meines Vaters herausfinden können. Vielleicht ist das die perfekte Gelegenheit, Loni zu fragen. Sie weiß, dass ich an meinem Geburtstag immer an Dad denken muss.
»Unsinn!«, entgegnet Loni. »Meine Tochter verbringt ihr Geburtstagswochenende nicht allein. Ich hab zwar was vor, aber das kann ich für dich verschieben …«
»Was denn? Ein Seminar?«
»Wie? Ach nein, ich treffe mich nur mit … ein paar Freunden. Aber die können warten. Ich werde alles absagen, nur um dich zu sehen, mein Schatz. Na, wie findest du das? Bitte? Bitte, bitte?«
Ich lache und fühle mich von Lonis Energie und Begeisterung überrollt. »Okay, ich steige morgen in den Zug.«
»Wie schön!«, quietscht Loni. »Ich sage Cal Bescheid.«
»Ich will aber keinen großen Wirbel …« Doch da hat sie schon aufgelegt.
Ja, sie kann einen erdrücken, und häufig stört ihr verrücktes Leben unsere Beziehung, aber sie bringt mich immer zum Lachen.
Ich schließe die Tür zum Blumenladen auf. Der Raum riecht feucht und berauschend nach Herbstblumen. Auch ohne sie zu sehen, nehme ich den Duft von Gerbera und Chrysanthemen wahr, von Dahlien, Hagebutten und Eukalyptus ebenso wie den süßen Duft von geschnitzten Kürbissen, die im Fenster liegen. Plötzlich geht das Licht an, und ich bin von lachenden Gesichtern umringt … nicht nur von Sal, sondern auch von Nick, Glenda, Tim und Jeeves. Sie singen sich die Kehle aus dem Leib und überreichen mir eine Torte, auf der mit wunderschönen Zuckerblumen mein Name geschrieben steht.
Mit rotem Kopf puste ich die Kerzen aus und applaudiere ihnen für ihren Gesang.
»Alles, alles Gute!«, beendet Glenda das Lied mit einem begeisternden Quietschen.
»Ich kann nicht glauben, dass ihr alle hier seid!« Ich drehe mich zu Sal und Tim um und hebe drohend den Finger.
Die beiden sehen schuldbewusst drein, offensichtlich haben sie das Ganze organisiert.
»Du darfst nicht sauer auf mich sein. Wenn ich mich aufrege, krieg ich womöglich vorzeitig Wehen!«, sagt Sal und hebt abwehrend die Hände.
»Bitte nicht«, fleht Tim mit panischem Gesichtsausdruck, und alle lachen.
»Dein Geburtstagsfrühstück ist serviert«, verkündet Nick, der mit einem Tablett voll Gebäck aus der Küche kommt und sich verneigt. »Und jetzt zu deinem Geschenk«, fährt er sogleich fort, während er sich wieder aufrichtet. »Das ist von uns allen.«
Es ist ein wunderschöner Bildband über Gartengestaltung. So einen habe ich mir schon ewig gewünscht.
»Oh, der ist wundervoll!«, freue ich mich und strahle alle an.
»Mach die Karte auf!«, ruft Sal, und ich reiße sie auf.
Als ich die Aufschrift lese, muss ich lachen. Zum Gärtnern bestimmt, zum Arbeiten gezwungen. Innen befindet sich eine weitere Karte.
»Das ist ja eine Mitgliedskarte für den Botanischen Garten!«, jubele ich. »Das ist großartig!« Ich lächle erst Nick an, dann die anderen und bin ehrlich gerührt. »Vielen Dank euch allen!«
Am nächsten Tag stehe ich nach dem Mittagessen auf Lonis Türschwelle. Auf dem ganzen Weg hierher habe ich überlegt, wie ich ihr sagen soll, dass ich herausfinden möchte, wo mein Vater lebt. Ich dachte, sie würde mich gleich an dem Tag darauf ansprechen, als ich ihr die SMS wegen der Cley-Adresse geschickt habe. Sie scheint jedoch derzeit so beschäftigt zu sein, dass sie es wohl schon vergessen hatte, als ich zurückkam. Ich befürchte, wenn ich ihr davon erzähle, muss ich ihr auch gestehen, dass ich mich wieder mit Kieran treffe.
Aber so weit bin ich einfach noch nicht.
Außerdem hat das Googeln der Adresse, die Pater Joe mir genannt hat, zumindest ein paar Hinweise ergeben. Allerdings sind sie verwirrend. Ich habe herausgefunden, dass es sich um ein Pflegeheim handelt, das in einer Stadt mit dem Namen Garden Grove im Norden von Orange County liegt. Abgesehen von dem Namen, von dem sich mein Vater sicher angezogen fühlte, ergibt das keinen Sinn. Er war siebenundvierzig, als er uns verlassen hat, also ganz sicher noch nicht in dem Alter für ein Pflegeheim. Außerdem wurde das Heim erst drei Jahre, nachdem er uns verlassen hatte, eröffnet. Davor befand es sich in Privatbesitz. Vielleicht hat mein Vater dort nur Urlaub gemacht und einen Freund besucht. Vielleicht ist er auch endgültig dorthin gezogen. Ich weiß nicht, ob ich das je erfahren werde. Ich denke immer noch über Kierans Vorschlag nach, als Teil von »Operation Abenteuer« mit ihm gemeinsam dorthin zu fliegen und einen verrückten Roadtrip durch Kalifornien zu unternehmen. Aber abgesehen von meiner finanziellen Situation (mein Lohn im Blumenladen reicht eindeutig nicht für einen Flug nach Kalifornien – ganz zu schweigen davon, dass ich es mir nicht leisten kann, mir ein paar Wochen freizunehmen), bin ich mir sicher, dass es noch einen besseren Weg geben muss. Ich könnte zwar Loni fragen, aber wenn sie wüsste, wo er sich aufhält, hätte sie es mir doch sicher gesagt, oder? Dann treibt mich noch eine andere Frage um. Loni trägt noch immer Dads Namen, sie hat sich nie von ihm scheiden lassen. Zu Cal und mir sagte sie, dass sie eine Weile versucht hätte, ihn zu finden, um ihm die Scheidungspapiere zu schicken. Als wir ihr daraufhin erklärten, dass man sich auch von einer abwesenden Person scheiden lassen könne, meinte sie, so wichtig sei es ihr nicht. »Ich will ja sowieso nicht noch mal heiraten.«
»Bea …?« Als Loni die Tür öffnet, sieht sie mich derart überrascht an, als hätte sie vergessen, dass sie überhaupt eine Tochter hat. Ihre Haare stehen in alle Richtungen ab, als hätte sie in eine Steckdose gefasst. Und sie ist nicht richtig bekleidet, sie trägt nur einen Morgenmantel, den sie anscheinend schnell über ihren Slip und ein Yogaoberteil gezogen hat.
»Ein Hallo wäre nett«, sage ich und beuge mich etwas vor, um ihre Blöße zu verdecken.
Es dauert einen Augenblick, dann nimmt sie mein Gesicht in ihre Hände und küsst mich überschwänglich. »Du bist, äh, etwas früh, komm rein!« Sie blickt kurz die Treppe hoch, dann schiebt sie mich in ihr chaotisches Haus. »Ich wollte gerade etwas Yoga machen.«
»Ach, nennt man das heutzutage so?« Ich lächle und stelle meine Tasche im Flur ab. Sie benimmt sich wie ein Teenager, der im Haus der Eltern beim Sex erwischt wurde.
»Ja, das tut man«, sagt sie und hebt mahnend den Finger. »Obwohl das, zugegebenermaßen, ein Oberbegriff ist und es viele verschiedene Stilrichtungen gibt, wie Vinyasa, Ashtanga, Bikram …« Lonis Blick zuckt erneut nach oben, und als wir an ihrem Büro vorbeikommen, schließt sie schnell die Tür, dann umarmt sie mich erneut. »Ach, wie schön, dich zu sehen! Was wollen wir zuerst machen? Eine kleine Mutter-Tochter-Meditation und dann einen langen Strandspaziergang? Wir könnten einen Ausflug nach …« Loni unterdrückt ein Gähnen. »Oh, tut mir leid, Liebes. Wie unhöflich von mir!«
»Du siehst müde aus, Loni«, stelle ich besorgt fest. Ich würde allerdings gern so gut aussehen wie sie, wenn ich müde bin. Ihre blauen Augen strahlen, und sie hört gar nicht auf zu lächeln.
»Ich? Was? Nein, mir geht’s gut! Nur …« Sie gähnt erneut.
»Weißt du was, Loni«, ich blicke durch die Küche in den Garten, wo die Blätter des roten Ahorns bis an die Fenster stoßen, »warum ruhst du dich nicht noch etwas aus? Um ehrlich zu sein, möchte ich eigentlich nur ein bisschen im Garten werkeln.« Was stimmt. Sobald ich hier bin, zieht es mich in den Garten. Dort bin ich glücklich, fühle mich irgendwie ganz, und es gibt noch viel zu tun. Ich – und Loni – haben ihn lange vernachlässigt.
»Okay, na gut, wenn du meinst.« Loni wirkt erleichtert. »Ein kleines Nickerchen wäre schön, ich tanke etwas frische Energie für dein Geburtstagsessen heute Abend. Dann plaudern wir von Frau über Frau.«
Ich unterdrücke ein Lachen. »Von Frau zu Frau, Loni, von Frau zu Frau …« Doch sie hüpft schon nach oben.
Streifen aprikosenfarbenen Sonnenlichts durchziehen den Garten, und die frische Herbstluft kribbelt angenehm auf meinem Gesicht und erinnert mich daran, dass ich lebendig bin. Ich habe überlebt. Und ich bin … zufrieden. Sogar glücklich. Der Gedanke überrascht mich. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass ich allein glücklich werden könnte. Ohne Adam und Milly, ohne Leute, die mich stützen. Doch in den letzten Monaten habe ich mein Leben komplett umgekrempelt und meine Zukunft geändert, und zwar ganz allein. Dabei habe ich gelernt, dass ich zu meinen Wurzeln zurückkehren muss. In die Vergangenheit, hier nach Hause, zu meiner Familie – an den Ort, den ich liebe, und zu den Menschen, die ich liebe. Loni, Cal, Lucy, die Zwillinge – und Dad? Ich denke an das Cottage in Cley. Ich bin mit meiner Suche nach ihm einen Schritt weitergekommen. Will ich diesen Weg fortsetzen? Oder sollte ich jetzt umdrehen, weil er eventuell weiteres Leid bedeuten könnte?
Ich will mich auf die Gegenwart konzentrieren, darauf, was mich hier und jetzt glücklich macht. Meine Arbeit. Meine Familie. Dieser Garten.
Und Kieran.
Ich lächle vor mich hin, während ich mein Werkzeug aus dem Wohnwagen hole und beginne, an einem besseren Ort zu arbeiten – dem besten Ort, an dem ich seit Jahren gewesen bin.