67. Kapitel
Wir verlassen den Markt, gehen in eine Strandbar und suchen uns einen ruhigen Platz in einer Ecke. Ich bin froh, dass wir uns auf neutralem Gebiet befinden, es war seltsam genug, Dads bescheidenen kleinen Stand zu sehen. Ich weiß nicht, wie es mir ginge, würde ich sein Zuhause sehen.
Dass wir drei zusammen um einen Tisch sitzen, ist beinahe zu surreal, um es zu ertragen. Es ist auch nicht gerade hilfreich, dass nur ein Stück von uns entfernt, direkt neben einer Gruppe Touristen, eine Kuh in der Sonne liegt.
»Du bist also Maler?«, beginne ich, während ein Mann mit einem strahlend weißen Lächeln drei Bier vor uns auf den Tisch stellt. Meine Frage steht etwas unangenehm zwischen uns. Eigentlich ist es Small Talk, doch die Worte klingen vorwurfsvoll. Es kommt mir vor, als würde ich ihm gegenübersitzen und ihn verhören. Um mich zu entspannen, trinke ich einen Schluck von meinem Bier, die kühle, bittere Flüssigkeit rinnt meine Kehle hinunter und bewirkt hoffentlich, dass ich mich etwas lockerer unterhalten kann.
»Es ist ein kleines Hobby«, antwortet Len und dreht seine Flasche auf dem Tisch. »Ich male die Orte, die ich liebe. So fühle ich mich zu Hause, auch wenn ich weit weg bin. Es hat eine therapeutische Wirkung.« Mit schmalen Augen betrachtet er das Schild auf der Flasche, wobei sich tiefe Furchen um sie herum bilden.
»Arbeitest du?«, frage ich forsch. Sofort beiße ich mir auf die Lippe. Ich will ihn nicht provozieren, ich möchte ihn verstehen.
»Hier und da. Kleinkram. Abgesehen von meinem Stand habe ich meine Pension, und ich arbeite ein bisschen ehrenamtlich und gebe ausländischen Studenten Englischunterricht.«
»Lebst du immer hier?«, fragt Loni. Ihre Stimme klingt kratzig. Sie räuspert sich und trinkt ebenfalls einen Schluck Bier. Ich bin froh, dass ich nicht die Einzige bin, die nervös ist.
Er wendet ihr seinen Blick zu, der sich fokussiert und dann wieder abdriftet, so als sehe er sie, wie sie jetzt ist, und würde sich sogleich an früher erinnern. Bevor der Zeitball fiel und danach.
»Immer ist ein Wort, mit dem ich noch nie gut umgehen konnte.«
»Ich auch nicht«, schalte ich mich ein, und er sieht mich an und nickt, als würde er genau verstehen, was ich meine. Ich blicke auf den Tisch hinunter. Dass wir offenbar tatsächlich eine Verbindung haben, stimmt mich hoffnungsvoll. »Ich bin auch vor meiner Ehe davongelaufen«, platze ich plötzlich heraus. »An meinem Hochzeitstag. Ich bin weggelaufen, weil ich genau wie du bin, Dad …« Die Aussage rutscht über meine Lippen, fällt jedoch ins Leere. »Ich bin genau wie du«, füge ich leise hinzu, als er nichts sagt.
Es ist, als hätte er mich nicht gehört. Oder als wolle er mich nicht hören. »Ich lebe ein paar Monate im Jahr hier«, sagt er leichthin, als hätte ich gar nichts gesagt. »Bis der Monsun kommt.« Ich habe das Gefühl, als wäre mein Herz gegen einen Fels geschleudert worden. Er will es nicht wissen. Er will nicht hören, dass ich wie er bin. »Hier kann ich mit sehr wenig Geld ein ganz einfaches Leben führen – die Silberrupie ist stark!« Er hält inne, als warte er darauf, dass wir über seinen kleinen Scherz lachen, doch dann fährt er schnell fort, als habe er Angst vor der Stille. »Die meisten Ausländer, die hier leben, sind in ihren Sechzigern oder Siebzigern. Es ist tatsächlich alles ein bisschen wie in The Best Exotic Marigold Hotel!« Er lacht heiser, und Loni und ich zwingen uns, ebenfalls zu lachen. Ich bemerke, dass sich um seine Augen keine Lachfalten bilden, bei Loni kommen sie immer ganz natürlich. Seine Augen sind ruhig, nein, eher unbewegt.
Keiner weiß, was er als Nächstes sagen soll, und je länger der Scherz in der Stille hängt, desto schlechter wird er. Len wendet den Blick ab und sieht zum Horizont, als wäre er gern überall, nur nicht hier. Ich blicke zu Loni. Sie sieht ihn unverwandt an.
»Warum, Len?«, fragt sie schließlich. »Warum bist du weggegangen?«
Einen Moment antwortet er nicht, als wäre er mit den Gedanken an einem anderen Ort. In einer anderen Zeit.
»Ich war dem nicht gewachsen«, erwidert er schlicht. »Ich bin mit dem Leben, das wir geführt haben, nicht zurechtgekommen. Ich konnte die Schuld nicht ertragen, was ich euch antun würde, wenn ich bliebe. Zu gehen war die einzige Möglichkeit. Das oder …« Seine Stimme bricht, und er schließt die Augen und atmet tief ein. Plötzlich fühlt es sich an, als wäre er nicht mehr hier. Als würde ich mir das hier nur einbilden, und würde ich eine plötzliche Bewegung machen, wäre es vorbei.
»Du meditierst also noch«, stellt Loni in sanftem mütterlichem Ton fest. »Das freut mich.«
Len blickt sie über den Tisch hinweg an, und jetzt habe ich das Gefühl, als wäre ich nicht mehr hier. Dieser Moment gehört ganz ihnen. »Es ist eine der vielen Arten, wie du mir geholfen hast, Loni. Mit dir das Meditieren zu lernen gehört zu den besten Sachen, die ich je gemacht habe.«
Ich denke an die Zeit, als ich krank war – die täglichen Mantras und Meditationen mit Loni, meine Läufe, das Yoga und die Gartenarbeit. Hat sie das alles für Dad getan und gelernt? Das kommt mir alles zu bekannt vor. Ohne nachzudenken, schiebe ich plötzlich meinen Stuhl zurück und stehe auf. Ich kann nicht hierbleiben. Es ist zu schwer.
»Bea?«, ruft Loni und fasst meine Arme. »Alles okay?«
»Ich kann das nicht …«
»Schhh, Bea, ist schon okay.« Sie hält mich, und wir sinken zurück auf unsere Stühle.
Len blickt mich an – bekümmert, aber auch irgendwie distanziert.
Loni legt den Arm um mich. »Ich glaube, wir wissen beide, warum du gegangen bist, Len«, sagt sie mit zittriger Stimme. »Aber was wir wirklich gern wissen würden, ist, warum du nie zurückgekommen bist.«
Er blickt uns an, als würde er schon lange nach einer Antwort auf diese Frage suchen. Nach einer gefühlten Ewigkeit beginnt er erneut zu sprechen, und als er es tut, klingt seine Stimme heiser und brüchig. »Wie schon gesagt, ich … ich war überfordert und wusste einfach, dass ihr ohne mich besser dran seid.«
»Das war nicht allein deine Entscheidung«, entgegnet Loni und hält mich fest im Arm. Wir sind jetzt wie eins, sie und ich. Sie trägt mich. Sie hat mich immer getragen. »Len, ich habe dich geliebt. Ich habe alles für dich getan. Wenn du mit mir über deine Gefühle gesprochen hättest, hätte ich … ich hätte dir besser helfen können. Wir hätten uns Hilfe holen können, ich hätte alles getan!« Plötzlich schluchzt sie, überwältigt von den aufgestauten Gefühlen aus vierundzwanzig Jahren. »Ich habe dich gebraucht«, sagt Loni traurig, als sie sich wieder gefasst hat. »Wir haben dich gebraucht. Wir alle. Egal, wie stark ich gewirkt habe, ich habe dich gebraucht, weil ich dich geliebt habe. Ich habe dich geliebt und hätte dich nie verlassen. Ich hätte alles getan, um dich glücklich zu machen.«
»Und was ist mit deinem Glück? Wenn du das geopfert hättest, was dann?« Len schüttelt entschieden den Kopf. »Ich habe gesehen, dass unser Zusammenleben dir die ganze Lebenskraft geraubt hat. Du hast schon getan, was du konntest, damit es mir besser ging. Ich konnte nicht von dir erwarten, dass du all deine Energie für mich verschwendest. Du musstest an zwei Kinder denken. Ich habe mich so sehr bemüht, ein guter Ehemann und Vater zu sein, aber in jedem Moment, den ich mit euch verbrachte, musste ich mich bemühen, nicht unterzugehen, einen klaren Kopf zu behalten, mich positiv zu stimmen. Ich habe euch geliebt, aber ich habe mich die ganze Zeit schwach gefühlt. Doch du, du …« Er sieht Loni an und seufzt, dann sagt er: »Du warst so stark. Und die Kinder waren immer so glücklich mit dir. Egal, was du sonst um die Ohren hattest, du warst immer ausgelassen, fröhlich und lustig. Du bist über den Strand gelaufen und hast sie zum Lachen gebracht. Ich war nutzlos, zu nichts zu gebrauchen.«
»Du warst nicht nutzlos – du warst ein Ehemann, ein Vater! Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich gebraucht habe – wir alle!«, wiederholt Loni, löst ihren Arm von mir und schlägt mit der Hand auf den Tisch.
Len zuckt nicht einmal zusammen. »Nein, Loni, man konnte mich nicht als Vater bezeichnen. Ich bin ja kaum jeden Tag aus dem Bett gekommen.« Er reibt sich die Stirn, und als er mich erneut ansieht, habe ich das Gefühl, ihn das erste Mal richtig zu sehen. Nicht als den Bilderbuchvater, an den ich mich so verzweifelt erinnert habe, sondern als den rauen, echten Mann mit all seinen Fehlern, der er immer gewesen ist. »Ihr müsst wissen, wie schwer es mir gefallen ist, euch zu verlassen. Die Entscheidung ist mir weiß Gott nicht leichtgefallen. Ein ganzes Jahr habe ich sie vor mir hergeschoben. Ich wollte bis nach Weihnachten warten, dann bis nach Valentinstag, Ostern, den Sommerferien und Beas Geburtstag. Bea, du und ich, wir haben immer diese besondere Verbindung gehabt …« Er verstummt und starrt mich an, als versuche er, unsere familiäre Bindung wiederzubeleben, aber ich wende den Blick ab.
Es schmerzt mich zu sehr, ihn anzusehen. Ich spüre keine Verbindung mehr, nur Kummer. Ich stecke nicht mehr in der Vergangenheit fest, sondern bin genau hier in diesem Moment, der es mir hoffentlich endlich ermöglicht, ihn loszulassen.
»Du warst mein kleiner Schatten, meine kleine Kletterpflanze, weißt du noch?«
Ich lächele höflich, merke jedoch, dass er keine Antwort erwartet. Er sieht mich nicht als einunddreißigjährige Frau. In seiner Erinnerung bin ich ein sieben Jahre altes Kind geblieben.
»Stundenlang haben wir draußen im Garten gearbeitet, jeden Tag hast du mich zum Lachen gebracht. Wenn mein Herz im Regen ertrank, hast du die Sonne hervorgezaubert. Wenn der Himmel schwarz war, warst du mein strahlender Stern. Jeder Moment, den ich mit dir verbracht habe, hat einen weiteren Tag meines Lebens gerettet. Doch dann gab es andere Tage, an denen mich nichts aus der Dunkelheit hervorlocken konnte, nicht einmal du. Ich hatte schreckliche Angst, dass ich dich mit mir nach unten ziehen würde. Ich konnte sehen, wie sich meine Angst in deinen Augen spiegelte, deine Empfindsamkeit simmerte unter deiner Haut. Du liefst umher, als würdest du die Welt auf deinen Schultern tragen. Ich hatte das Gefühl, daran schuld zu sein und dich zu sehr zu belasten. Mir war klar, dass ich Hilfe brauchte, und ich hoffte, dir und Cal ein guter Vater sein zu können, wenn ich mir diese Hilfe suchte. Ich ging nach Kalifornien, um mich selbst zu finden. Ich dachte, dort würde ich mich an glücklichere Zeiten erinnern und stark genug werden, um zurückzukehren. Aber in den sechs Wochen dort ist mir klar geworden, dass ich nicht stark genug bin, oder nicht mutig genug, darum bin ich anstatt nach Hause zu kommen weitergereist. Ich bin gegangen, weil ich wollte, dass ihr beide euch an Lonis Kometen klammert und nicht mit mir auf die Erde stürzt.«
Seine Worte brechen mir das Herz. »Warum bist du dann an dem Tag nach meinem Geburtstag gegangen?«, frage ich traurig. Ich habe so lange nichts gesagt, dass meine Stimme dünn klingt, piepsig, kindisch. Kindlich. »Wie sollte ich im Leben vorankommen, wenn mich jedes Jahr, das ich älter wurde, daran erinnerte, dass du ein weiteres Jahr nicht zurückgekommen bist?«
»Um deinen Geburtstag mit einem Lächeln auf dem Gesicht durchzustehen, brauchte ich all meine Kraft. Ich wollte dein kleines Gesicht sehen, als du an jenem Morgen aufgewacht bist. Zusehen, wie du deine Geschenke auspackst, wie du feierst, wie du deine Kerzen ausbläst. Ein ganzes Jahr lang hatte ich an dem Gartentagebuch für dich geschrieben, und als du es ausgepackt hast, wusste ich, dass es der richtige Zeitpunkt war zu gehen. Ich bin den Abend geblieben, aber ich hatte zu große Angst, noch einen Tag länger zu warten, falls ich völlig zusammenbrechen sollte. Das durfte ich nicht riskieren.« Er schüttelt heftig den Kopf, und sein Pferdeschwanz wischt über seinen Nacken.
»Stattdessen bin ich zusammengebrochen«, sage ich leise. »Nicht an dem Tag, auch nicht in dem Jahr, erst nach und nach, doch ich bin völlig zusammengebrochen …«
Len schaut mich an, nicht erschrocken oder mitfühlend, sondern mit dem leeren Blick eines alten Mannes. Ich starre auf meine Finger, die ich ängstlich knete. Als ich über den Tisch blicke und sehe, dass Len dasselbe tut, lasse ich sie los.
»Vielleicht wäre ich nicht krank geworden, wenn du da gewesen wärst«, provoziere ich ihn. Jetzt will ich ihm wehtun. Ich will ihn zwingen zu sehen, wie ähnlich wir uns sind.
»Nein«, widerspricht er leidenschaftlich.
»Woher willst du das wissen? Du hast eine Entscheidung getroffen, die sich auf mein gesamtes Leben ausgewirkt hat – du kannst nicht wissen, ob die gegenteilige Entscheidung besser oder schlechter gewesen wäre!«
»Doch, das kann ich, Bea«, sagt er leise. Seine Stimme bricht, und Loni sieht mich besorgt an. Sie greift erneut nach meiner Hand, und ich spüre, wie ihre Wärme, ihr Lebensgeist und ihre Stärke auf mich übergehen. »Doch, das kann ich«, wiederholt er, »weil mein Vater – dein Großvater – auch unter Depressionen gelitten hat.« Ich starre ihn an, doch erneut sieht er mich nicht. Len verliert sich in einer anderen Zeit. »Mein Vater … ist nie ein starker oder ein glücklicher Mensch gewesen. Er litt, genau wie ich gelitten habe. Aber er ist geblieben. Er hat so getan, als ginge es ihm gut, er hat versucht, so zu tun, als würde er funktionieren, und sich dazu gezwungen, mehr zu tun, als er konnte …« Ich schlucke, während Loni meine Hand drückt. »Aber er ist geblieben, Bea. Er hat das Versprechen, das er seiner Frau und seinen Kindern gegeben hat, in Ehren gehalten. Er hat sich so sehr bemüht, aber er hat es nicht geschafft. Er hat es einfach nicht geschafft.«
»Was ist mit ihm geschehen?«, flüstere ich, glaube es jedoch schon zu wissen.
»Er … hat sich das Leben genommen.« Lens Worte fallen wie Felsen von einer Klippe, und ich habe das Gefühl, ebenfalls den Halt zu verlieren.
Ich denke an den Tag, als Cal mich in meinem Schlafzimmer inmitten von Schulsachen, Karteikarten und diversen leeren Flaschen Paracetamol fand. Loni drückt fest meine Hand. Mir bleibt die Luft weg, der Schmerz über meine Vergangenheit und über die meines Vaters raubt mir den Atem.
»Ich war acht Jahre alt«, sagt er. »Genau acht. Ich hatte viel zu viel mitbekommen und viel zu viel Verantwortung für einen Mann empfunden, den ich, wie ich mittlerweile weiß, nie hätte retten können. Das wollte ich dir nicht antun«, fügt er hinzu und fasst über den Tisch hinweg meine Hand. Er blickt zu Loni. »Keinem von euch. Es war mein Schicksal, nicht eures, und ich musste etwas tun, um den Teufelskreis zu durchbrechen. Eine andere Entscheidung treffen. Ich wusste, dass meine Krankheit zu stark ist und ich nicht mit der Schuld leben könnte, dich ebenfalls hinunterzuziehen, wie mein Vater es mit mir getan hatte. Immer, wenn du ein Jahr älter wurdest, erinnerte ich mich daran, wie ähnlich ich ihm war, und als du sieben wurdest, wusste ich, dass meine Zeit abgelaufen war. Ich musste mich für ein Leben entscheiden, in dem niemand für mich verantwortlich und in dem ich für niemanden verantwortlich bin.«
Ich habe das Gefühl, als würde mir an seiner Stelle das Herz brechen, doch Len wirkt emotionslos. »Bist du nicht einsam? Vermisst du uns?«, frage ich mit leiser Stimme.
»Das ist die einzige Art, wie ich leben kann, Bea«, erklärt er fest. »Es ist nur ein halbes Leben, aber es ist besser als nichts.« Er lächelt mir zu, und ich lasse zu, dass er weiter meine Hand hält. »Ich bedaure meine Wahl nicht. Dich heute zu sehen ist der Beweis dafür, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.« Er sieht mich an, und seine Augen sind tränenfeucht. »Ich habe nie aufgehört, an euch zu denken. Tage, Wochen, Monate habe ich mich gefragt, was passiert wäre, wenn ich geblieben wäre. Wäre das Leben anders verlaufen – nicht für mich, doch für euch? Aber meine Antwort war immer negativ.« Seine Worte klingen abgehackt.
Ich möchte ihn trösten, ihm etwas sagen, wodurch er sich besser fühlt, aber ich weiß nicht, was. Hätte ich mich so immer gefühlt? Verantwortlich und zugleich hilflos? Wie wäre es gewesen, ständig das Gefühl zu haben, ich müsste meinen Vater davon abhalten, sich von einer Klippe zu stürzen? Hat sich Loni mir gegenüber so gefühlt? Als ich sie ansehe, bemerke ich, dass sie ihre Hand ausstreckt, um Lens andere Hand zu fassen. Einen Augenblick betrachtet sie diese, dann hebt sie sie an ihre Lippen.
Len schließt die Augen, ein heiteres Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, und plötzlich schmelzen die Jahre dahin. Als er die Augen wieder öffnet, blickt er Loni wie ein Ehemann an, nicht wie ein Fremder. »Ich habe nie das Gefühl gehabt, dich wirklich verlassen zu haben. Nicht hier«, murmelt er und tippt sich an die Schläfe.
»Ich dich auch nicht«, entgegnet sie traurig.
»Ich glaube, es wird Zeit, dass wir es tun, stimmt’s?«
Sie nickt und legt ihre Wange an seine Hand, und so sitzen sie einen Augenblick da. Es ist der Abschied, den sie nie hatte.
Sie hat gerade den Verlauf ihres Lebens mit einem anderen Ende gesehen, und sie weiß, dass sie dazu nicht bestimmt war.
»Und was nun?«, beende ich den Moment und fühle mich auf einmal wieder wie das Kind, das sich in die Umarmung seiner Eltern drängt.
Während er uns beide ansieht, legt sich Schweigen über uns. Die Sonne scheint schonungslos herab, und plötzlich habe ich das Gefühl, hier nicht länger sitzen bleiben zu können. Während er mich anstarrt, bekomme ich den Eindruck, dass er sich mein Bild für die Zukunft einprägt, aber seltsamerweise ist das für mich in Ordnung. Ich glaube, es wird auch für mich Zeit, mich zu verabschieden.
Ich ziehe ein Büchlein aus meiner Hosentasche und lege es vor uns auf den Tisch. »Das habe ich dir mitgebracht. Ich wollte, dass du weißt, dass du immer mein Vater gewesen bist, auch nachdem du gegangen warst.«
Blinzelnd blickt er auf das Buch, dann löst er die altersfleckige Hand von Lonis und streicht vorsichtig über das blaue Tagebuch mit den goldenen Buchstaben.
»Du hast es benutzt?« Er klingt hoffnungsvoll, und zum ersten Mal glänzen seine Augen.
Schnell nicke ich. »Als Kind und auch in letzter Zeit wieder, weil ich etwas Rat gebraucht habe. Ich hatte ein ziemlich schwieriges Jahr …« Ich halte inne. Ich will ihn nicht mit meinen Problemen belasten. »Dass ich das hatte … dass du auf diese Weise bei mir warst, hat es leichter gemacht. Danke.«
Er nickt, und eine Träne löst sich aus seinem Auge, ein Regentropfen in einem unendlichen Meer. Schnell wischt er sich mit der Hand über die Augen, dann steckt er die Hand in die Hosentasche, holt etwas hervor und reicht es mir.
Ich erkenne es sofort. Es ist eine grob gefaltete blaue Klappkarte, auf der mit Buntstiften Ich liebe dich, Daddy, für immer! gekritzelt steht. Die hatte ich an meinem siebten Geburtstag für ihn gemacht, damit er auch ein Stück von meinem Glück haben konnte. Während mir die Tränen den Blick verschleiern, öffne ich die Karte. Darin befindet sich eine Blume, die ich für ihn gepresst hatte. Es ist ein Vergissmeinnicht.
»Die habe ich vierundzwanzig Jahre lang jeden Tag bei mir getragen. Mit diesem Geschenk hast du mir erlaubt zu gehen, Bea, und du hast mir ein kleines Stück von deinem Herzen mitgegeben. Das sollst du jetzt haben, weil ich dich niemals vergessen könnte. Ich glaube, diese Version von dir, dieses liebende, hoffnungsvolle siebenjährige Mädchen, gehört zu der Version, die du dort von mir hast.« Er legt die Karte auf das Buch. »Der Vater, der dich über alles geliebt hat, der jedoch wusste, wenn er dich bei Loni lässt, würde sie dich zu den Sternen heben.«