1. Kapitel

30. April 2013

Bea Bishop will den entscheidenden Schritt wa…

»Das ist nicht der Moment, deinen Facebook-Status zu aktualisieren, Bea!«, tadelt mich mein jüngerer Bruder Caleb, während er mir das Smartphone wegnimmt.

»Hey!« Ich sehe ihn empört an. Irgendwie gehe ich immer noch davon aus, dass neben mir vor der Kirche der kleine Junge mit dem Lockenkopf steht, der mich früher wie ein übermütiger Welpe über den Strand gejagt hat. Stattdessen sehe ich diesen charmanten, vernünftigen, verantwortungsvollen achtundzwanzigjährigen Mann – noch dazu Vater – mit Anzug und Krawatte vor mir. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Cal zwei Kinder hat. Wo sind nur all die Jahre geblieben?

Ich versuche, an mein Smartphone zu kommen, doch er hält es provozierend über seinen Kopf und lässt es dann in seiner Hosentasche verschwinden. Wütend wende ich mich zu Loni um, die rechts von mir steht, doch sie hebt nur die Hände, als wollte sie sagen: Ich bin zwar deine Mutter, aber damit habe ich nichts zu tun. Dann blickt sie auf ihr Dekolleté hinunter und rückt den Ausschnitt zurecht, damit man mehr Haut sieht.

»Bist du bereit, es ihnen so richtig zu zeigen, Schwesterherz?«, fragt Cal leichthin. Dann beugt er sich vor und zwinkert mir zu. »Loni ist es jedenfalls …«

Ich blicke sie beide an und würde am liebsten sagen, dass ich zu gar nichts bereit bin, solange Dad nicht hier ist. Doch stattdessen lächle ich, hole tief Luft und wende mich den schweren Kirchentüren aus Walnussholz zu. Leichter gesagt als getan in diesem lächerlich engen Spitzenkleid mit Schleppe. Mir ist klar, dass es das falsche Kleid für meine Figur ist – es passt zu einer großen, anmutigen Gestalt, nicht zu einer kleinen, etwas burschikosen Person wie mir. Ich habe es mir aufdrängen lassen, weil ich nicht wusste, was ich wollte, und weil meine künftige Schwiegermutter, Marion, meinte, dass ich »ungewöhnlich elegant« darin aussähe. Genau in dem Moment hätten meine Alarmglocken schrillen müssen. Mein Gefühl sagt mir jetzt, dass es vermutlich besser ist, wenn man am Tag seiner Hochzeit wie man selbst aussieht –natürlich wie eine herausgeputzte Version seiner selbst.

Stattdessen fühlt sich das Haarteil, um das man meine widerspenstigen Locken gewickelt hat, schwer wie Blei an, ebenso wie das gewaltige Diadem der Familie Hudson, das an meiner aufgetürmten Frisur hängt wie King Kong am Empire State Building. Marion hat mir bei der letzten Anprobe eröffnet, dass ich es tragen müsse. Ihre Begründung lieferte sie gleich mit … und wählte dafür exakt folgende Worte: »Leider Gottes werde ich – abgesehen von dir – nie so etwas wie eine Tochter haben, Bea.« Mit der Betonung auf leider!

»Bea!«, mahnt Cal ungeduldig und erinnert mich daran, wo ich mich gerade befinde und was ich zu tun habe. »Ich habe gefragt, ob du bereit bist …«

»… deine Haftstrafe anzutreten?«, schaltet sich Loni ein und stupst mich neckisch in die Seite, während ihr gigantischer violett-pinker Kopfputz auf ihren langen silbernen Korkenzieherlocken wippt.

Cal wirft ihr einen warnenden Blick zu. Mit unschuldiger Miene hebt sie die Hände, als wollte sie sagen: »Was denn? War doch nur ein Scherz!«, dann nimmt sie einen Schluck aus einer kleinen Flasche, die sie ganz offensichtlich aus der Minibar des Hotels hat mitgehen lassen. »Nur ein kleines Schnäpschen für Loni gegen ihr vorhochzeitliches Herzflattern«, bemerkt sie augenzwinkernd. Meine Mutter spricht oft in der dritten Person von sich.

Wahrscheinlich macht man das, wenn man ein bisschen verrückt ist – Verzeihung, ein ganz kleines bisschen berühmt, meine ich. Loni schreibt Beziehungsratgeber. Ihr erstes Buch hieß Warum heiraten, wenn man auch glücklich sein kann? Es war ein Überraschungserfolg und hielt sich dreiundzwanzig Wochen auf den Bestsellerlisten. Über zwanzig Jahre und unzählige Bücher später sehen die Leute in ihr noch immer den Guru für Ehescheidungen. Was, wie sich herausstellt, an meinem Hochzeitstag wenig hilfreich ist.

Loni ist nicht gerade ein Fan der Institution Ehe. Sie ist ein Freigeist, eine Single-Seele, seit mein Vater uns verlassen hat. Damals war ich sieben und Cal fünf. Sie hat immer behauptet, die Ehe sei ein widernatürlicher Zustand. Und darum habe ich das auch geglaubt.

Ich blinzle, denn als mir einfällt, was ich im Begriff bin zu tun, spüre ich die vertraute Panik in mir aufsteigen.

»Alles okay bei dir?«, wispert Milly. Ich drehe mich zu ihr um und erhasche dabei einen Blick auf Holkham Hall, die elegante palladianische Villa hinter uns, die zusammen mit der Kirche, vor der wir stehen, zu einem beeindruckenden Anwesen gehört. Später wird dort unser Hochzeitsempfang stattfinden. Gefühlt ist der Ort des Geschehens das Einzige, worüber ich bestimmt habe. Die Hochzeit sollte hier stattfinden – in Holkham. In der Nähe des Ortes, an dem ich aufgewachsen bin, meinem Lieblingsstrand gegenüber. Schon als kleines Mädchen habe ich meinen Eltern erklärt, dass ich eines Tages genau hier heiraten würde. Marion war nicht besonders glücklich darüber. Sie hatte sich etwas Größeres, Prächtigeres vorgestellt, näher an London gelegen als an Norfolk. Aber ausnahmsweise bin ich standhaft geblieben. Es war mir egal, ob die Hudsons hundert Leute einladen wollten, denen ich noch nie zuvor begegnet bin (was sie im Übrigen getan haben), aber meine Hochzeit musste hier stattfinden.

Ich konzentriere mich wieder auf Milly. Sie ist die Ruhe und Gelassenheit in Person, und ihr goldglänzendes Brautjungfernkleid schmiegt sich elegant um ihren Bondgirl-Körper. Milly ist eine beeindruckende Schönheit, eine Mischung aus ihrer persischen Mutter und ihrem indischen Vater und stets der schönste Mensch im Raum. Ihr dunkel glänzendes schulterlanges Haar sitzt immer perfekt. Ein dichter Pony umrahmt ihre Schokoladenaugen, die aufgrund ihres stressigen Jobs als Hedgefonds-Managerin üblicherweise äußerst ernst blicken. In diesem Moment drücken sie große Sorge aus. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die meisten besten Freundinnen nicht so viel Mühe geben wie Milly mit mir. Und das schon, seit sie mich in der siebten Klasse auf dem Schulgelände aufgegabelt hat, weil ich das Klassenzimmer nicht finden konnte. Es war mein erster Tag auf der neuen Schule, und sie sagt, ich hätte ausgesehen, als habe ich keine Ahnung, in welche Richtung ich überhaupt gehen müsse.

Das weiß ich auch heute noch nicht.

Ich kann das nicht, flüstert eine Stimme in meinem Kopf.

Ich blicke Milly wie ein verängstigtes Kaninchen an und bemühe mich mit allen Mitteln, meine Zweifel zu vertreiben – oder wünsche mir, dass sie es tut.

»Du schaffst das, Bea!«, erklärt Milly sofort, als habe sie meine Gedanken gelesen. Sie nimmt meine Hand. »Du heiratest doch Adam. Die Liebe deines Lebens!«

»Milly«, platze ich in einem Anfall von Panik heraus. »Ich muss dich was fragen.«

»Wirklich? Jetzt?«, erwidert sie und steckt eine Locke zurück, die sich aus meinem Brautknoten gelöst hat. »Okay«, seufzt sie. »Schieß los.«

»Woher wusstest du, dass Jay der Richtige ist?«

Millys Blick huscht von mir zu Cal. Dann sieht sie mit einem strahlenden Lächeln erneut zu mir, doch ich erkenne, dass sie beunruhigt ist. Passt auf, Leute, die Braut will sich aus dem Staub machen!

»Woher wusstest du es?«, dränge ich und blicke auf die zwei Ringe hinunter, die seit drei Jahren fest an ihrem linken Finger stecken. Jay ist Adams Trauzeuge und Millys Ehemann. Sie hat ihn am selben Abend kennengelernt wie ich Adam, nur dass Millys und Jays Beziehung sich schneller entwickelt hat als unsere. Während Adam und ich noch ein bisschen Fangen gespielt haben.

»Ich … ich …« Ihr Blick zuckt nervös von mir zu Cal, dann zu Loni. »Das kann ich nicht erklären, Bea. Ich wusste es einfach.«

Mein Herz rutscht mir bis hinunter zu meinen albernen hohen Hochzeitsschuhen, denn die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Ich bin mir nicht sicher, und ich weiß nicht, warum. Wenn Adam so wunderbar ist, warum weiß ich es dann nicht? Was stimmt nicht mit ihm oder vielmehr mit mir?

»Komm schon, Schwesterherz!«, schaltet sich Cal ein, als könne er meine Gedanken lesen. »Wir sprechen hier von dir und Adam. Ihr seid füreinander bestimmt. Du bist verrückt, und er ist völlig verrückt nach dir.«

»Na, fantastagorisch«, erwidere ich mit einem schwachen Lächeln.

Ich schnappe Loni die Miniflasche weg und will einen Schluck nehmen, doch das Gewicht meines Haarteils und des Diadems machen es mir unmöglich, den Kopf in den Nacken zu legen.

»Bereit?«, fragt Cal sanft, als wäre ich eine seiner zweijährigen Zwillingstöchter.

ICH WEISS ES NICHT!, denke ich. »Ja, bereit!«, fiepse ich stattdessen.

Cal tritt vor, um die Türen der St.-Withburga-Kirche zu öffnen, und ich hyperventiliere ein wenig. Der dicke Spitzenstoff des Kleids juckt auf meiner Haut. Ich widerstehe dem Drang, mich an den Schenkeln zu kratzen.

»Hältst du den mal?«, frage ich Cal und drücke ihm den wunderschönen Brautstrauß in die Hand – gelbe Primeln (ich kann nicht ohne dich leben), pralle Ranunkeln (sprühender Charme) und Forsythien (kündigen einen aufregenden Augenblick an). Milly hat ihn für mich bestellt, als ich sie in Panik anrief, weil ich vergessen hatte, mich darum zu kümmern. Sie war noch bei der Arbeit, ist jedoch kurz vor Ladenschluss noch schnell zu ihrem Blumenladen in Greenwich gelaufen und hat eigens für mich nach den gelben Hochzeitsblumen gefragt – eine Handvoll Sonnenschein. Netterweise hat der Laden die Sträuße und die Ansteckblumen in letzter Minute gebunden und sie in eine altmodische Holzkiste gepackt, auf der an der Seite zusammen mit ein paar Sternen der Name des Geschäfts stand – Cosmos Flowers. Milly und Jay haben sie mir heute Morgen in aller Herrgottsfrühe gebracht. Die Kosmee ist meine Geburtstagsblume, und als ich ihren lateinischen Namen auf der Kiste mit meinen Lieblingsblumen entdeckte, kam es mir wie ein Zeichen vor – ich tue das Richtige. Aber jetzt …?

O Gott, mir ist schlecht.

»Alles okay, Bea?«, fragt Milly erneut, während sie mich stützt.

»Ich glaube, von dem Kleid bekomme ich Ausschlag«, stöhne ich, während ich versuche, das Jucken zu lokalisieren. »Vielleicht bin ich gegen den Stoff allergisch?«

Milly fasst mein Kinn und zwingt mich, sie anzusehen. »Du musst dir keinerlei Sorgen machen. Du musst es einfach nur bis vor diesen Altar schaffen. Ich bin direkt hinter dir, okay?« Sie nimmt meine Schleppe, Cal nickt zustimmend und drückt meine Hand.

Ich hole tief Luft und sage mir, dass die meisten Bräute von Angst, Zweifeln und heftiger Unruhe geplagt werden. Das ist ganz normal. Wenn erst einmal der Ring am Finger steckt, fallen alle Befürchtungen von dir ab. Ja, ich bin zuversichtlich, dass es genau so sein wird.

»Adam ist der Richtige, Bea«, bekräftigt Cal noch einmal. »Das ist er schon immer gewesen. Es hat eben ein bisschen gedauert, bis du es gemerkt hast. Jetzt musst du nur noch einen Fuß vor den anderen setzen …«

Ich nicke und staune, dass mein kleiner Bruder so erwachsen geworden ist. Und ich so ängstlich.

»Packen wir’s an!«, quietsche ich und stoße wie zur Bekräftigung zaghaft die Faust in die Luft.

Cal stemmt die schwere Kirchentür auf und sieht mich an. Als Mendelssohns Hochzeitsmarsch durch die offenen Türen schallt, bemerke ich, dass seine porzellanblauen Augen ebenso wie die von Loni vor Rührung glänzen. Die Gäste wenden sich zu uns um, starren mich an und vollführen dabei mit ihren Köpfen eine perfekte La-Ola-Welle. Ich hake mich bei Cal ein und lächle nervös hinter meinem Schleier.

»Du siehst wunderschön aus, Schwesterherz«, flüstert Cal mir lächelnd zu, während wir langsam den Gang entlangschreiten. »Und was immer du tust«, fügt er grinsend hinzu, »mach dir am Ende nicht wieder in die Hose wie auf Tante Caths Hochzeit.«

»Da war ich drei«, zische ich, muss jedoch lachen.

Während wir auf den Altar zugehen, halte ich verzweifelt nach meinem Vater Ausschau. Niemand weiß davon – noch nicht einmal Cal –, doch mein Vater ist der eigentliche Grund, warum ich unbedingt in dieser Kirche nahe dem Haus meiner Kindheit heiraten wollte. Ich habe nie aufgehört, davon zu träumen, dass wir an diesem besonderen Tag hier endlich wieder vereint sein würden. Ich habe darauf bestanden, ihm eine Einladung nach Cley-next-the-Sea zu schicken. Das ist die letzte Adresse, die wir von ihm hatten, ehe er verschwunden ist. Außerdem hat Adam eine Hochzeitsanzeige in der Lieblingszeitung meines Dads geschaltet. Seit Monaten rede ich mir ein, dass, sollte Dad weder die Einladung erhalten noch die Anzeige entdeckt haben, er dennoch durch eine kosmische Verbindung spüren würde, dass seine Tochter heute hier heiratet. Er würde instinktiv wissen, dass ich nicht ohne ihn heiraten will. Er würde sich daran erinnern, wie ich ihm als kleines Mädchen gesagt habe, dass ich eines Tages in dieser Kirche heiraten werde. Er würde spüren, dass ich ihn auch mit dreißig Jahren noch jeden Tag vermisse. Und darum hoffe ich, auch wenn ich seit dreiundzwanzig Jahren nichts mehr von ihm gesehen oder gehört habe, dass er vielleicht, nur vielleicht, hier sein wird, um zu sehen, wie seine Tochter vor den Altar tritt. Ich weiß, dass es albern ist. Ich sollte loslassen und mich auf mein Leben konzentrieren, aber ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dass mein Vater eines Tages in mein Leben zurückkehrt. Es kommt mir vor, als sei heute seine letzte Chance dazu, bevor ich das Leben als seine Tochter, Bea Bishop, hinter mir lasse und ein neues als Mrs. Bea Hudson beginne.

Mein Blick schweift verzweifelt über die Hochzeitsgäste, die auf beiden Seiten des Ganges sitzen. Caleb drückt meinen Arm, er hat begriffen, nach wem ich Ausschau halte. Er bemüht sich, es zu verstehen, aber Cal scheint Dad nie so vermisst zu haben wie ich. Mein kleiner Bruder hat immer mit seinem Leben weitergemacht – auf eine unauffällige, aber ganz unglaubliche Art. Nicht nur dass Cal ein großartiger Vater für seine Zwillingstöchter ist, ein liebender Partner für ihre Mum Lucy, mit der er seit fast zehn Jahren zusammen ist (Bindungsprobleme sind uns ganz offenbar nicht in die Wiege gelegt …), er ist auch eine echte Stütze für mich. Und er wohnt in der Nähe von Loni (was bedeutet, dass es mir freisteht zu wohnen, wo immer ich will). Noch dazu rettet er jeden Tag Menschenleben, denn Cal ist Sanitäter. Mit anderen Worten, mein Brüderchen, das früher in Superman-Kostümen herumgelaufen ist, ist jetzt im wahren Leben ein Superheld. Dad wäre so stolz auf ihn. Ich habe nie verstanden, wie sich Geschwister mit denselben Wurzeln so unterschiedlich entwickeln können.

Ein Bild flackert vor meinem inneren Auge auf, ein Bild von meinem Vater, wie er vor mir steht und seine Arme ausbreitet.

Komm her, mein kleines Klammeräffchen

Als ich an den Kosenamen denke, den Dad mir gegeben hat, weil ich mich immer an ihn gehängt habe, spüre ich einen heftigen Stich. Einen Augenblick schließe ich die Augen, dann sehe ich ein Bild vor mir, wie ich in den Garten laufe, mich an seine Beine klammere und zu ihm aufschaue, während er mich lachend hochhebt.

Ich lasse den Blick weiter über die Hochzeitsgäste gleiten. Als mir klar wird, dass mein Vater natürlich nicht hier ist, steigen mir Tränen der Enttäuschung in die Augen, und ich stolpere. Es war dumm, an einem derart unrealistischen Traum festzuhalten.

Das ist nicht mehr wichtig, sage ich mir streng. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich habe jetzt Adam Alles wird gut, wenn ich es nur bis zu Adam schaffe

Doch der Traualtar scheint derart weit weg zu sein, dass ich ihn nur unscharf erkenne. Alles verschwimmt.

Ich ringe um Atem und lege mir kurz die Hand auf die Stirn, während ich mir Mühe gebe weiterzugehen. Doch es ist, als wäre ich zu schnell aufgestanden und jemand hätte das Licht ausgeschaltet. Der Stoff des Kleides juckt unerträglich. Ich habe das Gefühl zu ersticken, und mein Kopf kommt mir unglaublich schwer vor. Hundert Leute blicken mich an und machen Fotos, und mir wird bewusst, dass ich die Luft anhalte, als wollte ich ins Meer eintauchen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiterhin einen Fuß vor den anderen setze und auf den Altar zugehe, doch es fühlt sich an, als würde mich etwas gleichzeitig zurück und nach unten ziehen.

Als würde ich ertrinken.

Und dann endlich erkenne ich ihn, und eine Welle der Erleichterung durchströmt meinen Körper. Denn dort am Ende des Gangs wartet Adam auf mich. Mein großer, starker, so selbstsicherer Adam. Er steht mit dem Rücken zu mir neben Jay. Ich starre auf seine breite, starke Silhouette, seinen perfekt gebügelten Anzug und die etwas aufmüpfige dunkle Haarlocke auf seinem strahlend weißen Kragen. Es ist vermutlich das Einzige in seinem Leben, das etwas in Unordnung ist. Es sei denn, man zählt mich dazu. Dann dreht er sich um, und ich blicke in seine ruhigen grauen Augen unter den dichten dunklen Brauen. Er ist die Ruhe in meinem Sturm, denke ich.

Ich hebe die Hand und winke ihm zu. Er lächelt, es ist ein sanftes Leuchten, das an den Mundwinkeln beginnt und von dort zu seinen Augen aufsteigt, wo es wie die Mittagssonne erstrahlt und mich in helles Licht badet. Er nickt bestimmt, dann bedeutet er mir, zu ihm zu kommen, und dreht sich wieder zum Pfarrer um. In jeder seiner Bewegungen liegt Entschlossenheit.

Ich blicke nach links, und in dem Moment fällt meine Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Er ist hier. Nicht mein Vater, wie ich gehofft hatte, sondern der Mann, den ich in den letzten acht Jahren zu vergessen versucht habe. Meine Brust schnürt sich schmerzhaft zusammen, während die Erinnerungen wie ein Tsunami über mich hinwegfegen und jede Mauer, die ich zum Schutz vor der Vergangenheit errichtet habe, mit sich reißen. Ich kann nicht glauben, dass er wirklich hier ist. Nach all den Jahren.

Kieran Blake. Meine erste große Liebe.

Er sieht mich durchdringend an. Obwohl wir uns so lange nicht gesehen haben, erkenne ich sein Gesicht sofort wieder. Er hat den zerzausten, rebellischen jungenhaften Haarschnitt aufgegeben. Damals waren seine Haare von den jahrelangen Reisen ganz ausgeblichen. Jetzt sind sie dunkel und kurz geschnitten, was den Glanz seiner dunkelgrünen Augen noch verstärkt. Ich versuche, wieder zu Adam zu blicken, doch ich kann nicht. Ich schaffe es nicht, den Blick von Kieran zu lösen. Da hebt er eine Hand, um sich über den Kopf zu streichen, und an seinem Finger funkelt etwas Silbernes auf. Erneut verliere ich mich in Erinnerungen und werde an einen Ort, zu einem Augenblick, in eine Zeit zurückkatapultiert, in die ich auf keinen Fall zurückkehren wollte.

Ich verspreche dir, dass ich zurückkomme. Sobald ich zu mir selbst gefunden habe. Bitte warte auf mich, ja? Bis dahin trage ich den Ring, und du trägst deinen

Ich blicke hinunter auf den Ringfinger meiner rechten Hand, an dem ich den Ring aus Platin getragen habe, bis ich es irgendwann aufgab, auf Kieran zu warten.

»Kieran Blake«, murmle ich, und Cal wirft mir einen verwirrten Blick zu.

»Was hast du gesagt?«, flüstert er und lässt den Blick über die Menge wandern, bis er ihn entdeckt. Schockiert sieht er wieder zu mir. »Hast du den etwa eingeladen?« Ich schüttle den Kopf und taumle dabei leicht zur Seite. Es ist, als wollten meine Füße mich nicht mehr tragen.

Ich versuche es dennoch. Warum spüre ich gerade jetzt, wo ich so gern Schritt für Schritt sicher in meine Zukunft schreiten würde, einen so überwältigenden Sog in die Vergangenheit? Es fühlt sich an, als würde man von zwei Seiten an mir zerren. Ich schiebe meine Zweifel beiseite und zwinge meine schwindelerregend hohen Absätze, weiter über die kalten Fliesen zu klackern.

»Hey, Bea«, sagt Cal. »Pass au…«

Seine Warnung kommt zu spät. Mein Schuh rutscht weg, und der Boden unter meinen Füßen verschwindet. Die Hochzeitsgäste halten kollektiv die Luft an, während ich aufschreie und nach hinten falle. Cal versucht noch, meinen Arm zu packen, kann mich jedoch nicht halten, und ich krache rücklings auf den Boden.

Noch während ich falle, läuft mein Leben vor meinem inneren Auge ab, genau so, wie es angeblich geschieht, wenn man stirbt.

O Gott, sterbe ich etwa? Nein, ganz sicher nicht. Ich will nicht, dass meine Grabinschrift eine Schlagzeile aus der Daily Mail wird: »38er-Braut erleidet tragischen Tod vor dem Traualtar« (die Tragödie besteht darin, dass ich Größe 38 getragen habe, nicht darin, dass ich gestorben bin). Ich bemühe mich, bei Bewusstsein zu bleiben, während ein brennender Schmerz von meinem Kopf durch meinen Körper jagt. Ich klammere mich an mein Leben. Nur …

Ich blinzle und merke, dass ich ob der drohenden Ohnmacht die Augen verdrehe. Ich klammere mich nicht an mein Leben, ich klammere mich gerade an zwei verschiedene Leben. An das, das ich früher hatte, und an das, auf das ich bis jetzt zugesteuert bin. Ich erkenne Adam und Kieran neben mir. Oder bilde ich mir das nur ein? Ich weiß nicht genau, was gerade geschieht oder wo ich bin. Vor mir tauchen die geisterhaften weißen Umrisse meiner Zukunft und meiner Vergangenheit auf, die auf überirdische Weise miteinander ringen. Die eine zieht mich wie ein Engel an meiner Schulter vorwärts – die andere will mich zurückzerren. Zwei Lieben, zwei mögliche Leben – aber welches ist meins? Welchen Weg soll ich wählen? Ich kann mich nicht entscheiden und lasse den Kopf auf die Fliesen sinken. Erst sehe ich Sterne, dann wird alles um mich herum schwarz.