27. Kapitel

»Alles in Ordnung, Süße?«, erkundigt sich Glenda, die am Ende des Tages an meinem Schreibtisch erscheint.

Ich blicke auf die E-Mail mit den Lebensläufen, die ich für James zusammengestellt habe. Ich habe ihm versprochen, ihm noch heute eine vorläufige Shortlist zu schicken, habe das jedoch den ganzen Nachmittag vor mir hergeschoben und stattdessen im Kopf eine E-Mail mit folgendem Betreff formuliert: Aw: Stelle als Projektassistentin – nehmen Sie MICH! MICH! MICH! Ich schließe die Augen und drücke auf Senden. Es fühlt sich an, als hätte ich mir selbst einen Dolch in die Brust gebohrt. Ich nehme meine Tasche und packe meine Sachen zusammen.

»Ja, alles in Ordnung.« Als sie mich weiterhin besorgt ansieht, schenke ich ihr ein breites Lächeln. »Du siehst hübsch aus heute«, sage ich, und das stimmt. Sie trägt ein langes rosa-grün geblümtes Kleid mit einer passenden rosa Strickjacke und Perlen. Anfangs trug Glenda immer nur gedeckte Farben und altmodische Tweed-Sachen. Sie sagte, dass sie zu sehr damit beschäftigt sei, ihre Jungs aufzuziehen und sich um ihren Ehemann zu kümmern, um an sich selbst zu denken.

»Ich gehe aus«, gesteht sie jetzt schüchtern. »Ich habe eine Verabredung.«

»Glenda, das ist ja toll!«

»Ich bin schrecklich aufgeregt.« Sie lacht. »Aber es hat ja keinen Sinn, zu Hause herumzusitzen und darauf zu warten, dass das Leben zu einem kommt. Man muss rausgehen und es sich nehmen, stimmt’s? Vielleicht habe ich meine Blütezeit schon hinter mir, Süße, aber ich bin noch nicht tot!«

Ich blicke sie bewundernd an. Glendas Leben hat sich grundlegend verändert, seit ihr Mann nach fünfundzwanzig Jahren Ehe gestorben ist und sie beschlossen hat, wieder zu arbeiten. Es ist ihre erste Stelle, seit sie Kinder bekommen hat, und sie sagt, die Arbeit würde ihr ganz neuen Auftrieb geben.

»Trotzdem, du wirkst heute irgendwie bedrückt«, stellt Glenda fest und legt mir eine Hand auf die Schulter. Seufzend nicke ich. »Na, komm schon, erzähl Tante Glenda, was los ist.«

»Ach, ich bin nur traurig, weil meine beste Freundin nach New York zieht – dieses Wochenende gibt sie ihre Abschiedsparty«, antworte ich. In gewisser Weise stimmt das. Ich fühle mich deswegen niedergeschlagen.

»Ach, das ist ja schade, Süße, aber du kannst sie doch dort besuchen, oder?«, sagt Glenda mit ihrer tröstenden Stimme. Wenn sie redet, muss ich an Narzissen denken, die sich im Wind wiegen und ihre Köpfe wie Glocken neigen. »Und es gibt immer noch Facebook!«

»Das ist aber nicht dasselbe wie in der Nähe zu wohnen, oder?«, sage ich und schlage mir sogleich die Hand vor den Mund. Glendas Söhne leben beide im Ausland – einer in Australien, der andere in Kanada. Doch sie widersetzt sich beharrlich ihrer Bitte, zu ihnen zu ziehen, weil sie sagt, sie würde an ihrem Leben hier hängen. »Oh, das tut mir leid, Glenda. Das war wirklich unsensibel von mir …«

»Nein, nein, überhaupt nicht. Wir haben uns alle an die Entfernung gewöhnt.« Sie beugt sich vor und zwinkert mir zu. »Niemand will doch ernsthaft, dass die eigene Mutter direkt vor der Tür wohnt!«

Ich lache und denke an Loni. Das stimmt. Wenn sie zu nah bei mir wohnen würde, würde sie mich nur nerven. Aber manchmal habe ich auch das Gefühl, dass sie schrecklich weit weg ist.

»Du vermisst sie doch aber, oder nicht?«, frage ich.

Sie sieht mich forschend an, dann setzt sie sich auf meine Schreibtischkante. »Doch, natürlich vermisse ich sie. Die ganze Zeit! Aber meine Jungs sind erwachsen, sie führen ihr eigenes Leben – und ich muss meins führen. Das habe ich viel zu lange nicht getan.«

»Bedauerst du das?«

Glenda blickt aus dem Fenster und denkt einen Augenblick über meine Frage nach. »Weißt du was, Süße? Nein, das tue ich nicht. Ich wollte eine Vollzeit-Mama sein und habe alles, was ich hatte, meinen Kindern und meinem Mann gegeben. Ewan und ich hatten viele wundervolle Jahre zusammen, und meine Jungs sind heute glücklich, gesund und erfolgreich. Und auch wenn Ewan nicht mehr bei mir ist, ist das Leben nicht vorbei. Ich habe gemerkt, dass man mehrere Leben in einem führen kann. Es gibt immer die Gelegenheit, neu anzufangen.«

Ich blicke sie an und lasse ihren Optimismus auf mich wirken. »Ich habe immer das Gefühl, als würde ich jedes Mal, wenn ich eine Entscheidung treffe, ein ganz anderes Leben verlieren, verstehst du? Wenn man einen Ort verlässt, verlässt man auch seine Vergangenheit. Wenn man einen Job annimmt, verliert man zugleich die Chance, einen anderen zu bekommen …« Als ich merke, dass ich meine Gedanken laut ausspreche, halte ich inne. »Ich und meine Nabelschau! Tut mir leid, Glenda, vergiss es einfach.«

Sie legt eine Hand auf meinen Arm. »Weißt du, Süße, wenn dir das hilft … Ich glaube nicht, dass eine Entscheidung notwendigerweise die Tür zu einer anderen Zukunft verschließt. Ich glaube, dass alle Wege am Ende zum selben Ort führen.«

Wie gern würde ich ihr glauben. Aber die Tatsache, dass Dad uns verlassen hat, und mein Sommer mit Kieran haben mich gelehrt, dass eine einzige Entscheidung sehr wohl das Leben von jemandem für immer verändern kann.

Ich gebe Glenda einen Kuss auf die Wange, dann werfe ich meine Tasche über die Schulter und verschwinde eilig durch die Glastüren nach draußen. Plötzlich habe ich das Gefühl, ich muss über eine Menge nachdenken.