63. Kapitel

Bea Bishop fliegt nach Goa.

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Als mein Taxi vor dem Flughafen hält, hängen dicke, bauchige Wolken am grauen Himmel, die wie kleine Luftschiffe aussehen. Der Tag fühlt sich bedrückend an, wie ein mürrischer Teenager, der unbedingt vom Lernen wegkommen und in sonnigere Gefilde flüchten möchte. Ich steige aus, der Fahrer reicht mir lächelnd meinen Rucksack aus dem Kofferraum und wartet, bis ich das Geld aus meinem Portemonnaie gekramt habe.

Diese Reise war Lonis Idee. Nachdem ich ihr die Adresse in Goa gezeigt hatte, hat Loni alles in die Hand genommen und mich aufgefordert, mir im Blumenladen eine Woche Urlaub zu nehmen. Als ich erwiderte, dass ich das unmöglich tun könne, da Sal gerade erst ihr Baby bekommen hatte, rief Loni sie kurzerhand an, und diese sagte sofort, dass ich natürlich fliegen solle. Ihr Dad würde sich gern die eine Woche um den Laden kümmern. Also kaufte Loni mir ein Ticket und sorgte dafür, dass ich bei einer alten Freundin von ihr wohnen kann.

»Und du hast nichts dagegen? Es macht dir nichts aus, wenn ich ihn finde und es mir gelingt, Kontakt zu ihm aufzubauen?«

»Ach, Bea, du ahnst ja gar nicht, wie sehr ich dir das wünsche, welche Freude das für mich wäre!« Lonis Augen wurden feucht, und ich umarmte sie fest. »Denk dran, Liebes, wenn man etwas riskiert, verliert man vorübergehend den Halt, aber wenn man nichts riskiert, verliert man sich selbst.«

»Danke, Mum«, sagte ich leise. Als ich sie so nannte, fragte ich mich, wann ich eigentlich damit aufgehört hatte. Und ich überlegte, dass ich sie gern wieder so nennen würde.

»Ooh, nenn mich nicht so, das hört sich so schrecklich alt an!«, protestierte sie und küsste mich auf die Stirn.

Ich lachte. Aber ich sah, dass in ihren Augen Tränen glitzerten. War das eine weitere Geschichte, die sie sich mir zuliebe ausgedacht hatte? Tat sie so, als habe sie nicht gewollt, dass ich sie Mum nenne, obwohl es ihr eigentlich wehtat, dass ich sie nicht mehr so nennen wollte? Oder war es tatsächlich ihre Entscheidung gewesen? Ich bin beeindruckt, dass ein Mensch einen anderen so bedingungslos schützen will, dass er in Kauf nimmt, selbst verletzt zu werden. Loni ist unglaublich, und ein bisschen wünschte ich, sie würde mich auf dieser Reise begleiten.

Ich habe Cal gefragt, ob er nicht mitkommen wolle, aber er war nicht interessiert. »Ich verstehe, dass du das willst«, sagte er. »Aber für ein so sinnloses Unterfangen möchte ich Lucy und die Kinder nicht allein lassen. Das ist deine Reise, und ich hoffe, dass du Dad findest und dadurch begreifst, was ich schon immer gewusst habe: dass Loni und er mit den Entscheidungen, die beide getroffen haben, das Beste aus unserer Kindheit und aus unserem Leben gemacht haben.«

Im Terminal wimmelt es von aufgeregten Urlaubern, die sich darauf freuen, nach den Weihnachtsfeiertagen dem kalten englischen Wetter zu entfliehen. Andere wiederum reisen in ihre jeweiligen Heimatländer zurück. So viele Leute, die ihrem Leben entkommen wollen – oder in es zurückkehren.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was von beidem ich gerade tue.

Während die Leute an mir vorbeiströmen, blicke ich hinauf zur Abflugtafel. Die elektronischen Buchstaben, die deutlich Ziele, Flugnummern und Gates benennen, verschwimmen vor meinen Augen. Plötzlich fühle ich mich überfordert davon, mich allein auf diese Reise zu begeben.

Ich wünschte, Adam wäre hier. Mit ihm wäre es leichter. Ich möchte ihm alles erzählen, was ich seit April erlebt habe. Er soll wissen, dass ich ihn nicht vergessen habe, dass er immer da gewesen ist, dass ich nicht vor ihm davongelaufen bin – oder vor unserer Beziehung. Seit Milly mir erzählt hat, was er für mich getan hat, habe ich versucht, ihn zu erreichen, aber er nimmt meine Anrufe nicht an. Milly sagt, er sei nicht im Land. Ich hingegen glaube, meinen Vater zu finden war seine letzte selbstlose Tat für mich, weil er noch immer glaubt, ich könnte mir nicht selbst helfen.

Langsam gehe ich zum Check-in-Schalter und stelle mich in der Schlange an. Ich fühle mich unsicher so allein und zugleich gestärkt von meinem Vorhaben. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die Kontrolle. An den Automatiktüren hinter mir wird es laut, doch ich drehe mich nicht um. Wenn ich das tue, habe ich Angst, dass ich zurücklaufe, in ein Taxi steige und wieder nach Hause fahre.

»Achtung, bitte machen Sie etwas Platz! Schwer beladene Frau im Anmarsch!«

Genau in dem Moment, als sie wie durch Zauber neben mir auftaucht, drehe ich mich um.

»Ta-dah!« Sie wackelt mit den Schultern und Brüsten, und ihr Schmuck klirrt und klimpert im Rhythmus ihres Körpers.

»LONI?!« Mit offenem Mund schaue ich zu, wie sie ihren Rucksack auf den Boden fallen lässt, ihren Fedora-Hut abnimmt und grinsend ihr wildes Haar schüttelt.

»Ganz genau, die bin ich.« Sie verneigt sich, und ich habe das Gefühl, die ganze Schlange, der gesamte Terminal, dreht sich um, um sie anzustarren. Sie trägt einen bodenlangen Batikrock mit abgetragenen alten Stiefeln, die sie bereits seit den 1970er-Jahren besitzt. Oben hat sie eine weiße Weste sowie einen locker sitzenden Pullover an, der ihr von den Schultern gerutscht ist. Mindestens sechs Ketten zieren ihren Hals, an ihren Ohren baumeln gigantische Kreolen, und um die Handgelenke hat sie Perlenschnüre gewickelt. Außerdem trägt sie einen afghanischen Lammfellmantel. Sie sieht unglaublich aus.

»Was machst du denn hier?«, stoße ich hervor.

»Ich komme mit, Liebes!« Lachend schließt sie mich in die Arme, während mir die Kinnlade herunterklappt. Sie rückt von mir ab und streicht mir über die Wange. »Wie könnte ich mir die Chance entgehen lassen, meinem kleinen Mädchen einen Ort zu zeigen, den ich vor Jahren derart geliebt habe, dass er mich und auch dich, meine Arbeit und jeden meiner Atemzüge beeinflusst hat! Ich möchte dich unterstützen und für dich da sein, wenn du deinen Vater triffst … Ich bin genauso für dieses Chaos verantwortlich wie er.«

Ich möchte etwas erwidern, doch sie hebt ihre beringten Finger. Nur einer ist nackt – der Ringfinger. Ich fasse ihre Hand. »Loni, das musst du nicht. Ich weiß doch, wie schwer das für dich ist.«

»Ich will aber mitkommen«, beharrt sie. »Nicht nur deinetwegen, ich bin ja schließlich keine Märtyrerin.« Sie zwinkert mir zu, und ich muss unwillkürlich lächeln. »Ich mache das für mich. Mir ist klar geworden, dass ich viel von dir lernen kann, mein Schatz. Bevor ich offen für Neues bin, muss ich mich meiner Vergangenheit stellen. Roger – du erinnerst dich doch an Roger, oder, Liebes?«, sagt sie geziert. »Er ist an Weihnachten da gewesen. Ein attraktiver Mann – silbernes Haar, eine Stimme wie Seide, bewegt sich wie Mick Jagger?« Sie errötet – das habe ich bei Loni noch nicht gesehen. »Tja, sieht aus, als wäre er ziemlich an mir interessiert …« Sie beugt sich vor und flüstert lauter, als die meisten Menschen schreien würden. »Und das nicht nur sexuell! Er will eine Beziehung. Du weißt schon, so richtig ernst, fest oder wie auch immer man das heutzutage bezeichnet. Na, jedenfalls kann ich das nicht. Seit … na ja, seit dein Vater gegangen ist, habe ich mich in niemanden mehr verliebt.«

Ich nicke und nehme ihre Hand. Ganz offensichtlich fällt es ihr schwer, darüber zu reden.

Sie räuspert sich und lächelt. »Eigentlich hänge ich schon genauso lange in der Luft wie du. Ich bin nur beweglicher …« Sie wirft den Kopf in den Nacken, sodass ihr Haar beinahe den Boden streift, und führt eine Art Limbo vor.

Die Leute in der Schlange beginnen zu klatschen, und Loni richtet sich auf, legt die Hände aneinander und verneigt sich, dann dreht sie sich zu mir um.

»Darum habe ich beschlossen, genauso stark, mutig und nachsichtig zu sein wie meine Tochter.« Wieder legt sie die Arme um mich und drückt ihre Wange an meine. »Es gibt keine Landkarte fürs Leben, Bea, man muss sich auf seinen inneren Kompass verlassen. Samskara saksat karanat purvajati jnanam …« Als sie mein verwirrtes Gesicht sieht, lacht sie. »Das heißt: Wenn wir uns dauerhaft auf unsere Muster, unsere Gewohnheiten und unsere Konditionierung konzentrieren und darüber meditieren, verstehen wir allmählich unsere Vergangenheit. Wir lernen, wie wir die Muster verändern können, die uns daran hindern, ein freieres und erfüllteres Leben zu führen.« Sie schiebt ihre Sonnenbrille auf die Nase, doch ihre bebenden Lippen verraten sie. »Und ich habe kein so freies und erfülltes Leben geführt, wie ich immer behauptet habe, seitdem dein Vater gegangen ist.«

Ich muss schlucken und nicke, dann verlässt die Gruppe vor uns den Check-in-Schalter, und wir sind an der Reihe.

Wir treten vor und reichen einer Frau, die irgendwie amüsiert wirkt, unsere Pässe und Tickets.

»Wir begeben uns auf eine lebensverändernde Reise«, informiert Loni sie stolz.

»Wie schön«, erwidert die Frau höflich. »Sind Sie Schwestern?«

Ich lache und will schon Ja sagen – genau wie Loni es mir als Teenager beigebracht hat, doch sie kommt mir zuvor.

»Nein, das ist meine Tochter.« Sie nimmt meine Hand und drückt sie sanft, während sie sich zu mir umdreht. Ihr Gesicht strahlt vor Stolz. Dann richtet sie sich wieder an die Frau, wobei sie die Sonnenbrille nach unten zieht, als sei sie eine Berühmtheit und würde sich der Check-in-Dame zu erkennen geben: »Und nun seien Sie doch so reizend und sehen Sie mal nach, ob Sie nicht ein nettes kleines Upgrade für uns haben.«