2. Kapitel

Ich sitze auf einem Stuhl in der kleinen kalten Kapelle neben dem Hauptschiff und reibe mir den Kopf, während Cal mich untersucht. Adams tiefe, beruhigende Stimme hat mich aus der Dunkelheit in die Gegenwart zurückgeholt. Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos gewesen bin und was in der Zwischenzeit passiert ist, ich weiß nur, dass ich mich anders fühle, seit ich wieder aufgewacht bin. Als hätte ich meinen Anker verloren und würde auf dem offenen Meer treiben. Loni, Cal und Adam sitzen neben mir, während ich meinen Kopf umklammere. Adams Eltern, George und Marion, sehen zu, ebenso wie Milly und Jay. Sie meinen, ich hätte Schmerzen – und damit haben sie recht –, aber nicht, weil ich mir den Kopf angeschlagen habe.

Ich komme mir vor, als hätte ich meinen Körper verlassen. Die Welt hat sich währenddessen rückwärtsgedreht, und ich bin wieder mit Kieran am Cromer Pier.

Es ist alles meine Schuld. Der Gedanke war damals genauso zutreffend wie heute.

Cal zieht meine Lider nach oben und untersucht meine Pupillen. Ich komme mir vor, als würde ich verhört, nur dass ich diejenige bin, die die Fragen stellt. Verliere ich den Verstand?, möchte ich ihn fragen. Du hast Kieran doch auch gesehen, oder? Er war es doch, stimmt’s? Er ist hier. Er ist zurückgekommen. Sieben Jahre später als versprochen, aber er ist zurückgekommen.

In Cals zusammengezogenen Brauen und seiner Stirn, die sich in Falten legt, finde ich keine Antworten.

»Einen Moment lang habe ich mir echt Sorgen gemacht, Schwesterherz«, murmelt er.

»Dass ich es nicht bis zum Altar schaffe oder das Gegenteil?«, stoße ich hervor.

In seiner Wange spannt sich ein Muskel, und er schüttelt den Kopf, dann blickt er in die Runde. »Keine Gehirnerschütterung«, stellt er mit einem Lächeln fest und tritt einen Schritt zurück. »Und kein Gehirnschaden. Wenn wir Glück haben, hat der Schlag sie sogar etwas zur Vernunft gebracht!« Vor Erleichterung ertönt ein leises Lachen aus dem Halbkreis aus Familie und Freunden.

Jemand reicht Cal einen Eisbeutel, und er drückt ihn gegen meine Stirn. »Au!«

»Warte, lass mich mal«, sagt Adam, und Cal tritt gehorsam zur Seite. Adam hat diese Wirkung auf Menschen. Sie hören auf ihn. Ich auch.

»Sollen wir dann loslegen?«, fragt unser Pfarrer strahlend, klatscht in die Hände und blickt auf seine Armbanduhr.

»Können Sie uns bitte einen Moment allein lassen?«, erwidere ich zitternd, und er sieht mich einen Augenblick zu lange an, bevor er alle aus der Kapelle schiebt. Cal geht als Letzter und wirft mir einen langen Blick zu, ehe er Adam und mich allein lässt.

Ich sehe zu Adam auf, der mich auf die Stirn küsst und dann erneut den Beutel mit dem Eis draufdrückt. Irgendwie kommt mir der Gegensatz zwischen seinen warmen Lippen und dem kalten Eis symbolhaft vor. Seine grauen Augen sind vor Sorge getrübt, und ich verspüre den Impuls, sein perfekt geschnittenes Kinn zu fassen und seine vollen Lippen auf meine zu drücken. Damit ich mir den letzten Kuss des Mannes einprägen kann, der mich glücklicher gemacht hat, als ich es je für möglich gehalten habe. Der Mann, der Ruhe und Sicherheit in mein Leben gebracht hat, in dem vorher nur Lärm und Chaos herrschten. Von dem ich dachte, dass er mich vor meiner Vergangenheit retten könnte, auch wenn ich mich nie überwinden konnte, ehrlich mit ihm über diese zu sprechen. Ich denke an Kieran, der dort draußen wartet, und mir wird schlecht angesichts dessen, was ich zu tun gedenke.

»Wie fühlst du dich?«, fragt Adam, geht in die Hocke und nimmt das Eis weg. »Bist du bereit, wieder aufzustehen, dort hineinzugehen und dich der Hochzeitsmusik zu stellen? Du hast da einen ganz schönen Stunt hingelegt, weißt du das? Davon kannst du eines Tages deinen Kindern erzählen …« Er grinst, und um seine Augen bilden sich Lachfalten, die wie Glasscherben in mein Herz schneiden. Er ist so perfekt.

Zu perfekt für mich.

Ich muss es ihm sagen. Ich muss. Mir bleibt keine andere Wahl. Außerdem verdiene ich ihn nicht.

Ich blicke auf den Eisbeutel. Auf die geschmolzenen Eiswürfel, die vor meinen Augen schwimmen und sich mit meinen Tränen mischen wie ein Fluss, der meine perfekte Zukunft mit sich fortreißt.

»Komm schon«, sagt Adam sanft und fasst meinen Ellbogen.

Ich schüttle den Kopf, ich kann ihn nicht ansehen. Ich komme mir vor wie ein Scharfrichter, der die Guillotine fallen lässt. »Adam«, flüstere ich und dränge den Namen an dem Kloß in meinem Hals vorbei. »Du weißt, ich liebe dich. Ich hoffe, daran hast du nie gezweifelt …«

»Natürlich nicht, darum heiraten wir doch!« Er lächelt, beugt sich vor und küsst mich zärtlich. Ich schließe die Augen und lege meine Finger auf meine Lippen. »Na, komm«, sagt er, steht auf und reicht mir die Hand. »Gehen wir. Aber versprich mir, dass du keine akrobatischen Kunststücke mehr im Gang vollführst, ja? Fast hast du Dad dazu gebracht, nicht mehr seine E-Mails zu checken!« Er grinst, doch ich bleibe ernst. Noch immer streckt er mir die Hand entgegen und wartet, dass ich sie ergreife.

»Adam.« Verzweifelt bemühe ich mich, das Beben in meiner Stimme unter Kontrolle zu bekommen.

»Bea, ich weiß, dass du nervös bist, aber du brauchst keine Angst zu haben. Wir heiraten und machen einfach weiter wie bisher. Es muss sich doch gar nichts ändern.« Seine Stimme klingt leise, beruhigend, melodisch. Er redet mit mir, als wollte er mich, metaphorisch gesprochen, davon abhalten, von der Klippe zu springen. »Weißt du noch, als ich dir den Antrag gemacht habe? Du hattest solche Angst, den nächsten Schritt zu tun, dass ich dachte, ich habe nur eine Chance, wenn du nicht in Panik verfallen sollst – ich muss den Ring in einem kleinen Strauß aus Lavendel, Jasmin und Orangenblüten verstecken, um dich zu beruhigen, zu entspannen und den Schock zu lindern …«

Bei der Erinnerung muss ich lächeln. Ich fand seine Geste hinreißend, sie war so umsichtig und zeigte, wie gut er mich verstand. Doch wieder taucht Kierans Gesicht vor mir auf, und eine Welle der Angst überwältigt mich. Ich verdiene Adams Freundlichkeit nicht. Wenn er wüsste … Ich muss das hier hinter mich bringen. Ich muss mich von der Klippe stürzen. Das Ganze hier beenden.

»Ich kann das nicht. Ich kann dich nicht heiraten, Adam«, platze ich abrupt heraus, als würde ich ein Pflaster abreißen. Ich schließe die Augen. Es tut trotzdem weh. »Ich … Es tut mir so leid …«

Er wischt meine Bemerkung zusammen mit einer meiner Haarsträhnen fort. »Das meinst du nicht so. Du hast nur einen kleinen Schock. Sobald wir wieder dort hineingehen, wird alles gut …«

Wie gern würde ich Adam glauben, aber es fühlt sich an, als hätte Cal recht, als sei ich bei dem Sturz endlich zur Vernunft gekommen. Ich kann niemandem mehr etwas vormachen. Kieran ist zurück, und alles ist anders. Das hat Adam nicht verdient, und mich hat er auch nicht verdient. Ich darf meine Vergangenheit nicht länger verdrängen und so tun, als hätte mein Leben erst begonnen, als ich Adam begegnet bin. Nein, es ist mit der Nacht der Tragödie zu Ende gegangen. Und das ist meine Schuld.

Ich hebe den Kopf und halte den Blick auf das Eis gerichtet. Es schmilzt noch immer. Alles schmilzt dahin. »Nein, Adam. Es tut mir leid, ich kann das nicht. Ich kann einfach nicht …« Meine Stimme klingt überraschend fest. Kein Zittern, kein Beben, meine Entscheidung ist gefallen.

Adam starrt mich eine gefühlte Ewigkeit an, auf seinem Gesicht zeichnen sich nacheinander Unglauben, Fassungslosigkeit, Schock und Kränkung ab, dann tritt er zurück.

»Du meinst das wirklich ernst.« Er spricht leise, fast flüstert er. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und komme mir vor, als hätte ich erst ihn und dann mich mit einem Messer durchbohrt.

Adam tritt an die kühle Steinwand und lehnt sich dagegen, als könne er sich nicht mehr auf den Beinen halten. »Warum?«, fragt er leise. Seine breiten Schultern wirken, als seien sie geschrumpft. Mit der linken Hand stützt er sich an der Wand ab, dabei spreizt er die Finger, als bräuchte er so viel Fläche wie möglich, aber auch als wollte er mich daran erinnern, dass dort kein Ehering an seinem Finger glänzt. Mit der anderen Hand hält er sich die Stirn, als hätte er einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Was vermutlich der Fall ist. »Meinst du nicht, dass du mir wenigstens erklären solltest, warum?«

»Ich … ich weiß es nicht … Ich kann es einfach … Ich kann es dir nicht erklären. Es tut mir leid …« Ich suche nach den richtigen Worten, finde sie jedoch nicht: dass ich ihn liebe und ihn brauche und ihn schon jetzt vermisse, aber dass ich nicht weiß, wer ich bin. Dass ich mich vor langer Zeit verloren habe. Verzweifelt blicke ich zu Adam auf, Tränen strömen über mein Gesicht. Ich wünschte, die Dinge wären anders, aber ich weiß, dass sich in der einen Sekunde, bevor ich gestürzt bin, alles verändert hat.

Weil Kieran zurückgekehrt ist.