Tag 35
»Rose!« Gino brüllt so laut, dass es in meinem Kopf scheppert. »Wach gefälligst auf!« Er ist wütend und brüllt so laut, dass es schmerzt. Wobei … alles schmerzt. Mein Kopf, mein Körper …alles.
»Du miese Schlampe!« Gino rüttelt an mir und ich starre in sein wutverzerrtes Gesicht. Was habe ich getan, dass er so sauer ist? Zwischen uns war doch alles in Ordnung. Ich habe ihn, ohne mich zu wehren, rangelassen und sogar meine Schauspielkünste zum Besten gegeben. Oder ist er einfach genervt von meiner Trauer, um dich?
»Das wirst du bereuen!«
»Was?«
»Dass du Viktor alles erzählt hast, du miese Schlampe!« Was soll ich gemacht haben? Wann?
»Haltet sie fest!«
Ich richte mich auf und zwei Männer ziehen mich an die Bettkante und halten mich rechts und links fest. Dabei ignorieren sie meine Versuche, mich von ihnen zu lösen. Was geht hier vor?
Dann dreht sich Gino zu mir um und ich vernehme eine Art elektronisches Summen. »Das Problem ist dein engelsgleiches Aussehen, Rose. Du mit deinen blonden Löckchen und diesem unschuldigen Blick. Du machst alle Männer wahnsinnig und mich gleich mit!«
Er hält eine Haarschneidemaschine in der Hand. Das hat er nicht vor! Nein, das kann er nicht machen.
»Ich habe nichts getan, Gino!«
»Du hast alles bei Viktor ausgeplaudert.«
Gestern? Das ist nicht wahr, er war gar nicht hier. Oder doch? Ich weiß es nicht. Es ist alles so verschwommen in meiner Erinnerung.
»Tu das nicht, bitte.«
»Sie wollen dich alle, Rose. Das ist doch krank! Aber das ändern wir jetzt.« Gino kommt auf mich zu und ich wehre mich gegen die Männer, gegen Ginos Nähertreten und schaffe es doch nicht. Sie drücken mich ihm entgegen.
»Wenn ich mit dir fertig bin, bist du nur noch eine Schabrake von vielen.«
Dann steht er genau vor mir, mit einem Gesichtsausdruck, der mir unter die Haut fährt, direkt zum Herzen wandert und es in einem tödlichen Griff hält.
»Bitte, Gino. Du liebst mich.«
»Und noch mehr, wenn ich dich nicht teilen muss.«
»Dann gehen wir weg.« Ich lasse nichts aus und verachte mich sogar dafür, meine Seele für meine langen Haare verkaufen zu wollen.
»Das werden wir auch so, Rose. Nur wird es einfacher, wenn du hässlich bist.«
Ich hasse dich, Vicco. Ich hasse dich so sehr. Du hast mir gezeigt, wie sehr du mich verachtest, mich auf alle erdenklichen Arten erniedrigt und mir das Leben herausgesaugt und jetzt nimmst du mir Dinge, an denen ich nie gehangen habe. Dinge, von denen ich nie überzeugt war, sie zu besitzen. Schönheit.
Als er die Maschine ansetzt, habe ich keine Chance mehr. Trotz meines Widerstands fallen die blonden Strähnen an mir herunter und ich löse mich in Tränen auf.
Es dauert, Vicco. Es dauert viel zu lange, bis keine Haare mehr zu Boden fallen. Eine gefühlte Ewigkeit schmerzt nicht nur mein Körper, sondern auch meine Seele, bis sie mich endlich loslassen.
Das Summen erlischt, aber meine Tränen laufen weiter.
»Du bist immer noch viel zu hübsch, Rose.«
Ich schaue zu Gino auf, wische mir die Tränen weg und er hält ein Messer in der Hand.
»Du liebst mich, so wie ich bin, warum musst du das ändern?«, flüstere ich.
»Weil ich dich nicht mitnehmen kann, wenn du so bist.«
»Dann willst du mich nicht mehr mitnehmen.«
»Rose, deine Haare wachsen wieder nach und jede Wunde, die ich dir zufüge, heilt auch wieder«, sagt er so, als wäre nichts dabei, mich zu verunstalten.
»Ihr müsst sie nochmal festhalten.« Die Männer gehorchen, aber ich wehre mich nicht. Es würde mir nur noch mehr Leid einbringen. Vicco, ich habe keine Chancen. Das Einzige, worauf ich hoffen kann, ist, dass ich bald dieses Haus verlassen und ich nicht nur vor diesem Raum, sondern auch vor meinem Leben fliehen kann.
Gino setzt das Messer auf meiner Wange an und ich schließe die Augen, als das Brennen weitere Tränen auslöst. Doch ich halte still, kämpfe sogar gegen den Impuls an, zu schreien und um mich zu schlagen. Ganz still bleibe ich sitzen und dulde Ginos Handeln, als er mit der Klinge über meine ganze Wange fährt.
Blut tropft mir auf die Hände. Um das zu wissen, brauche ich die Augen nicht zu öffnen.
Schließlich ist Gino fertig und gemeinsam mit den Männern verlässt er den Raum. Es ist bald vorbei, Vicco. Bald bin ich hier weg und dann werde ich es schaffen, Gino zu entkommen. Nein, ich werde nicht nach Hause zurückkehren. Ich werde auch nicht zu dir laufen und dich anschreien, was für ein mieses Arschloch du bist.
Ich werde es für mich beenden, Vicco. Denn das, was ich fühle, was sich in meinem Kopf für immer festgesetzt hat, kann nicht mehr ausradiert werden. Es hat sich mit all dem Schönen in meiner Erinnerung verschmolzen und es dabei vernichtet. Es gibt für mich keinen Grund mehr, weiterzumachen. Warum auch? Du bist kein Teil mehr von mir und diese Leere frisst alles andere auf.
Du hast mir so viel angetan, ich hasse dich. Dennoch ist da dieser Teil in mir, der dich nach wie vor liebt, weil dieses Gefühl nicht vergehen kann. Mit all dem, was ich erlebt, gefühlt und gesehen habe, kann ich nicht mehr weitermachen. Diesen Schmerz kann ich nicht länger ertragen. Ich muss es beenden, Vicco. Es gibt keine andere Lösung. Und Gino wird mir dabei eine Hilfe sein.