D
urch meine Adern rinnt der Tod. Er ist kühl und er breitet sich unaufhaltsam aus. Er kriecht wie ein lebendiges Wesen durch die Blutbahnen und erforscht mein Innerstes. Ich spüre, wie er in meinen Fingerspitzen ankommt und wieder umkehrt. Er sucht sich einen neuen Weg. Er ist neugierig und will jede Faser von mir erkunden. Ich gebe mich ihm hin, denn ich bin längst zu müde, um mich zu wehren. Es hat keinen Sinn, das Unvermeidbare hinauszuschieben. Der Tod hat durchaus seine angenehmen Seiten. Da wäre zum Beispiel der Schmerz, den er holt und im Nirgendwo auflöst. Die Kälte erreicht meine Halsschlagader. Mein Herz pumpt sie in meinen Kopf, den Ort, an dem das Bewusstsein sitzt. Ich warte darauf, dass der Tod mich auslöscht. So wie den Schmerz, von dem er mich bereits befreit hat. Ich lausche hinein in die fremde düstere Welt, in die ich tiefer und tiefer versinke. Doch auch nach endlosen Minuten bin ich immer noch da. Die Kälte wandert weiter zu meinen Augen. Wie von selbst springen sie auf, schließen sich jedoch sofort wieder, denn ein gleißendes Licht blendet mich. Ist es das Licht, von dem die Sterbenden sprechen? Ein heller Schein am Ende eines langen, finsteren Tunnels? Ich blinzle neugierig und erkenne den blauen Himmel durch die Wimpern.
Ruckartig richte ich mich auf.
Wo bin ich?
Ich sehe Baumwipfel direkt vor meiner Nase. Sie bewegen sich im Wind. Ganz sacht wiegen sie sich hin und her. Die Sonne scheint. Der Himmel ist beinahe wolkenlos. Nur ein paar weiße Kleckse schweben vorüber. An meinen Handgelenken erblicke ich zwei dicke Verbände. Ich spüre keine Schmerzen und überlege, ob ich vielleicht schon tot bin. Doch dann höre ich ein Geräusch, das nicht so recht zum Himmel passen will. Es ist nur ein leises Knarren. So, als ginge jemand über alte Dielen. Ich drehe mich langsam um und staune. Ich sitze in einem Zimmer aus Glas. Hoch oben der Himmel und rundherum der Wald. Nur hinter mir ist eine Wand. Sie ist aus Beton, genauso wie der Boden, auf dem ich hocke. Er ist kalt. So kalt, dass mich eine Gänsehaut überläuft. Plötzlich bemerke ich, dass ich nur ein Hemd trage. Es ist eigentlich mehr ein Sack, knielang, mit einem langen Schlitz am Rücken, der mit zwei Schnüren zugebunden wird. Es ist das Hemd, das ich im Krankenhaus getragen habe. Mit einem Mal kehrt die Erinnerung zurück. Ich blicke mich abermals um und frage mich, ob ich denn endlich tot bin. Aber da draußen zwitschern die Vögel. Eine Elster fliegt über mir. Sie schaut zu mir herab. Ich bin also kein Geist und erst recht kein Engel. Ich kneife mir in den Unterarm. Es tut weh. Verdammt! Ich lebe noch. Wie kann das sein und wo, zum Teufel, bin ich?
Verzweifelt blicke ich mich um. Die Wand hat keine Tür. Die Glasfront ringsum ebenfalls nicht. Auch oben gibt es keinen Ausweg. Das Knarren fällt mir wieder ein. Ich betrachte den Boden genauer und entdecke einen Teppichvorleger. Er ist so grau wie der Beton. Hastig ziehe ich ihn weg. Mein Herz schlägt auf der Stelle schneller. Ich habe ein Brett entdeckt mit einem eisernen Ring in der Mitte. Ich packe ihn und hebe das Brett hoch. Tatsächlich kommt eine Öffnung zum Vorschein. Dahinter beginnen ein paar Stufen.
Ich lege mich auf den Bauch und sehe hinunter. Da unten erwartet mich nichts als Dunkelheit. Ich zögere. Angst erfasst mich. Sie ist eine alte Bekannte. Wir haben täglich viel Zeit miteinander verbracht. Doch jetzt lasse ich mich nicht von ihr abhalten. Es gibt sowieso keinen anderen Ausweg. Wovor soll ich mich schon fürchten? Eben noch erschien mir der Tod wie eine Erlösung.
Also atme ich tief ein und nehme all meinen Mut zusammen. Vorsichtig gleite ich nach unten, die Füße voraus. Ich erreiche eine Stufe und finde dort Halt. An der Seite ist eine Leiter eingelassen, auf der ich sicher hinuntergelange. Orientierungslos drehe ich mich im Kreis. Meine Augen gewöhnen sich allmählich ans Dunkel. Ich erkenne einen Flur, kann jedoch nicht sehen, wo er endet. Ich gehe ein paar Schritte. Ein schmaler Streifen Licht dringt durch eine Ritze. Rechts befindet sich eine Tür. Ich drücke die Klinke herunter, aber sie ist verschlossen. Ich gehe weiter bis zur nächsten Tür. Wieder versuche ich sie zu öffnen. Fehlanzeige. Ich probiere es noch bei drei anderen Türen, ohne Erfolg. Erst am Ende des Ganges stoße ich auf eine unverschlossene Tür. Ich schiebe sie vorsichtig auf. Doch sie knarrt so laut, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. Ängstlich starre ich in das Zimmer. Ich warte auf einen schwarzen Schatten, der mich niederschlägt. Aber ich bin allein. Es ist totenstill. Nur einige Kerzen knistern leise. Mit klopfendem Herzen husche ich hinein.
In der Mitte steht ein Tisch. Er ist mit zwei weißen Tellern gedeckt, mit silbernem Besteck und Gläsern. In einer Karaffe schimmert dunkelroter Wein. Es duftet nach Essen. Ich folge dem Geruch und entdecke ein paar Schüsseln auf einer Anrichte. Zitternd hebe ich einen Deckel an. Kartoffeln mit Rosmarin. Augenblicklich läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich ignoriere meinen knurrenden Magen und sehe mich weiter um. Irgendetwas an diesem Raum ist merkwürdig. Mir fällt nur nicht ein, was. Noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, höre ich wieder dieses eigenartige Knarren. Der Fußboden besteht aus Holzdielen. Sie scheinen alt zu sein und geben bei jedem Schritt nach. Jemand ist auf dem Gang. Er nähert sich. Ich flüchte in die nächste Ecke und verstecke mich neben einer Kommode. Schon fällt ein großer Schatten über die Türschwelle. Ich wage nicht zu atmen. Plötzlich blitzt das Deckenlicht auf und taucht den Raum in gleißende Helligkeit.
»Hallo, Eva«, sagt eine tiefe Stimme.
Die Panik schwappt über mich wie ein Tsunami. Ich schreie und schreie und schreie.