Ein Tag zuvor
L
aura wusste selbst nicht, warum sie hier war. Ein schrecklicher Albtraum hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Sie war hierhergekommen, um sich davon zu überzeugen, dass dieser Ort inzwischen harmlos war. Das Grauen von damals war verschwunden. Trotzdem konnte sie die Kälte wieder spüren. Denn hier an diesem Ort war das Kind in ihr gestorben, die kleine Laura. Das elfjährige Mädchen, das gedacht hatte, es gäbe keine Monster. Sie hatte es geglaubt, weil ihre Mutter es ihr immer wieder versichert hatte. Hätte sie bloß auf die dunklen Schatten unter ihrem Bett gehört. Sie hatten die kleine Laura gewarnt. Hätte sie ihnen doch nur zugehört, dann wäre sie vielleicht vor dem Monster weggelaufen. Sie hätte das Böse hinter der freundlichen Maske gewittert. Hätte bemerkt, dass die gütigen blauen Augen des Mannes in Wirklichkeit eiskalt waren. Sie hätte den gemeinen Zug um seinen Mund wahrgenommen und die Gier, sie zu besitzen.
»Komm, tanz mit mir. Dies ist dein neues Zuhause«, hatte er gesagt und gelächelt. Doch als sie sich ängstlich auf dem harten Betonboden zusammengerollt hatte wie ein kleiner Igel, war er böse geworden und hatte sie grob auf die Füße gerissen. Er schleuderte sie durch den Raum, als wäre sie eine Stoffpuppe. Seine riesigen Hände hielten sie fest. Die Finger brannten sich in ihr Fleisch. Noch heute spürte sie seinen Griff auf ihren Oberarmen.
Laura blickte auf, als stünde er vor ihr. Der große Mann, der sich so plötzlich in ein Monster verwandelt hatte.
Die Erinnerungen schossen durch ihre Nervenbahnen wie elektrische Blitze. Sie war wieder hier, zurück in dem Pumpwerk, in dem er sie gefangen gehalten hatte. Laura schluchzte kaum hörbar und ging zu der Wand, an der damals ihre dreckige Matratze gelegen hatte. Sie hatte gestunken, nach Dreck und nach der Angst der anderen Mädchen, die vor ihr hier festgehalten wurden. Ihr Blick glitt hoch, die Mauer hinauf. Sie sah ihre abgebrochenen Fingernägel in den Fugen stecken, so deutlich, als wären sie wirklich noch dort. Dabei hatte man das Pumpwerk nach ihrer Flucht penibel nach Spuren abgesucht.
Unwillkürlich fuhr sie an den schwieligen Narben entlang, die sich von ihrem Schlüsselbein abwärts über die komplette Brust zogen. Es tat nicht mehr weh, aber jede Berührung zog schmerzvolle Erinnerungen nach sich. Erinnerungen, die sich so real anfühlten, als wäre sie wieder elf Jahre alt. Sie war hierhergekommen, weil das Monster sie wieder einmal bis in ihre Träume verfolgt hatte. In den letzten zwei Jahrzehnten war sie nicht oft hier gewesen. Viele Jahre lang hatte sie gehofft, die schrecklichen Ereignisse verdrängen zu können. Doch das gelang ihr nur tagsüber, und selbst dann holten sie manchmal die Schrecken der Vergangenheit ein. Sie hatte hartnäckig versucht, die Geschehnisse zu verarbeiten. Das Monster kam trotzdem immer wieder. Und heute Nacht war sie hier, weil sie es an diesem Ort zurücklassen wollte. Hier war das Monster zu Hause und hier sollte es auch bleiben. Es sollte keinen Platz mehr in ihrem Leben haben. Auch wenn der Täter nie gefasst worden war, musste sie dennoch endlich mit dem Erlebten abschließen.
Sie streckte die Hand aus und strich ganz langsam über die Fugen in der Wand. Der raue, kalte Stein kratzte auf ihrer Haut. Sie spürte die Verzweiflung, die sich in das alte Gemäuer hineingefressen hatte. Sie konnte die Schreie der anderen Mädchen beinahe hören.
Plötzlich raschelte es hinter ihr und sie fuhr erschrocken herum. Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die Dunkelheit. Die dicken Röhren des Pumpwerkes schlängelten sich meterweit über den Boden und verschwanden schließlich in der Wand. Laura wusste, dass sie dahinter abwärts verliefen. Sie waren eng. Eigentlich zu eng für einen menschlichen Körper, trotzdem hatte sie es damals durch das oberste Rohr hinausgeschafft. In die Freiheit. Wäre das Gitter am Ende nicht gewesen, wäre sie körperlich fast unversehrt entkommen. Doch das rostige Eisen hatte ihr die Haut über der Brust aufgerissen, als sie sich daran vorbeizwängte. Die tiefen Wunden hatten sich trotz aller Hilfe durch die Ärzte infiziert. Schließlich musste Haut vom Oberschenkel transplantiert werden. Ein Grund dafür, dass sie seither nur hochgeschlossene Blusen und lange Hosen trug. Niemand sollte erkennen, dass sie einmal ein Opfer gewesen war. Heute half sie den Menschen. Sie war eine Jägerin und nicht die Gejagte. Sie gehörte zu den Spezialermittlern des Landeskriminalamtes Berlin.
Es raschelte abermals und sie schoss mit dem Strahl ihrer Taschenlampe durch die Schwärze. Eine hässliche Ratte huschte davon und verkroch sich unter einem Rohr. Laura atmete auf und blickte sich aufmerksam um. Sie stand in einem dem Verfall preisgegebenen Gebäude. Nichts war an diesen alten Mauern mehr gefährlich. Das Böse war fort. Warum also holte dieser Albtraum sie immer noch ein? Sie leuchtete über die grauen Wände und die dreckigen Fenster, über die vielen Rohre und die Armaturen, mit denen früher die Pumpen in Gang gesetzt wurden. Sie verharrte eine Weile und versuchte, die alten Bilder aus ihren Gedanken zu löschen. Minuten später wandte sie sich ab und verließ das Pumpwerk. Sie setzte sich wieder in ihren Wagen und starrte das Gebäude durch die Autoscheibe an.
»Bleib da drin, Monster«, flüsterte sie und trat aufs Gas.
Sie fuhr viel zu schnell durch die Nacht. Sie musste es tun, um das Böse endlich abzuschütteln. Erst als sie die Stadtgrenze Berlins erreichte, wurde sie langsamer. Sie steuerte auf direktem Weg ihre Wohnung an. Es war beinahe drei Uhr. Müde stieg sie die Treppen zu ihrer Dachgeschosswohnung hinauf und verriegelte die Tür sorgfältig. Wie immer legte sie den stabilen Eisenriegel davor und schlich auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer.
Taylor atmete ruhig und gleichmäßig. Er lag noch genauso da, wie sie ihn vor über drei Stunden verlassen hatte. Laura schlüpfte aus ihren Sachen und kroch unter die Bettdecke. Dann schmiegte sie sich an Taylors durchtrainierten Körper.
»Schön, dass du wieder hier bist«, flüsterte er und zog sie an sich. Laura entspannte sich und schlief auf der Stelle ein.