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D r. Christine Gebauer betrat das schmale Zimmer und verstand die Welt nicht mehr. Wo war die Patientin hin? Eben noch hatte sie ihre Wunden desinfiziert und verbunden. Das war höchstens zehn Minuten her. Sie blickte hinaus in den grauen Krankenhausflur.
»Schwester Sophia? Wo ist die Patientin aus Nummer fünf?«
Die stämmige, aber sehr flinke Frau schloss gerade eine andere Zimmertür.
»Ist sie nicht auf der Liege, Doktor Gebauer?«
Christine Gebauer schüttelte den Kopf.
»Dann ist sie vielleicht zur Toilette. Eben war sie noch da.«
Christine Gebauer runzelte die Stirn und schaute zur Toilette, die am anderen Ende des Ganges lag.
»Ich sehe mal nach«, murmelte sie und hastete über den Gang. Eigentlich hatte sie dafür keine Zeit. Heute Nacht war in der Notaufnahme die Hölle los. Aber die Patientin schien ihr selbstmordgefährdet. Sie konnte sie nicht einfach allein lassen. Sie musste dringend in psychiatrische Behandlung, vielleicht sogar in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Die etwa Dreiundzwanzigjährige hatte anscheinend versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Glücklicherweise hatte sie sich im Vorfeld nicht gründlich genug mit der Materie beschäftigt. Sie hatte die Adern nicht längs, sondern quer durchtrennt. Der Blutverlust hielt sich in Grenzen. Körperlich würde sie bis auf die Narben keinerlei Schädigungen davontragen. Doch Christine Gebauer hatte Sorge, dass es nicht bei diesem einen erfolglosen Versuch bleiben würde. Auf den Unterarmen der Patientin hatte sie feine ältere Narben entdeckt. Probeschnitte. Die Frau plagten offensichtlich bereits länger Suizidgedanken.
Sie öffnete die Tür zur Toilette.
»Hallo?«, rief sie in den Raum und trat ein.
Die Toilette war leer. Sie überprüfte die Kabinen. Alle Türschlösser standen auf Grün. Sicherheitshalber schaute sie in allen drei Kabinen nach. Die Patientin war nicht hier. Stirnrunzelnd lief sie zurück zum Behandlungszimmer Nummer fünf. Aber dort war niemand. Die Patientin war verschwunden. Christine seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. Erst vor ein paar Tagen hatte eine Patientin die Notaufnahme aufgesucht, nachdem sie offensichtlich von ihrem Ehemann oder Lebenspartner misshandelt worden war. Auch diese Frau war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Und das unglücklicherweise, bevor die Schwestern ihre Personalien aufnehmen konnten. Christine stellte die Behandlung der Patienten stets über die Erledigung von Formalitäten, doch wenn sich diese Vorfälle häuften, dann war Ärger vorprogrammiert. Insbesondere jetzt, wo eine suizidgefährdete Frau allein irgendwo herumlief. Sie konnte nicht einmal Hilfe organisieren, da sie ihren Namen nicht kannte. Sie musste dafür sorgen, dass die Prozesse bei der Patientenaufnahme eingehalten wurden, zumindest bei Fällen, die nicht lebensbedrohlich waren.
Ihr Pieper schlug Alarm. Christine stieß die Tür auf und eilte nach vorn zum Eingang. Die Sanitäter brachten einen blutüberströmten Mann auf einer Trage herein.
»Autounfall. Wir haben ihn unterwegs reanimiert«, erklärte der begleitende Notarzt.
Christine verlor keine Zeit. Sie gab einem Assistenzarzt präzise Anweisungen und spritzte dem Patienten ein kreislaufstabilisierendes Mittel. Dann sorgte sie dafür, dass er umgehend in den OP kam. Als sich die Türen hinter dem Mann schlossen, war sie nicht sicher, ob er die Nacht überleben würde.
Erschöpft wandte sie sich einem weiteren Patienten zu, der sich bei einem Sturz den Oberschenkelhals gebrochen hatte. Es folgten zwei Teenager, die wegen übermäßigen Alkoholgenusses entgiftet werden mussten. Sie kümmerte sich um eine alte Frau, die völlig dehydriert eingeliefert wurde, und um einen Mann mit einer tiefen, jedoch nicht lebensbedrohlichen Stichverletzung. Erst danach blieben ihr einige Minuten Zeit zum Verschnaufen. Sie beschloss, ein wenig frische Luft zu schnappen. Verschwitzt begab sie sich zum Ausgang. Als eine Brise kühler Nachtluft ihr entgegenwehte, schloss sie die Augen. Sie genoss den Moment und entspannte sich augenblicklich. Ihr Dienst dauerte noch drei Stunden, dann könnte sie endlich ins Bett fallen. Manchmal war es wie verhext, so als ob ein Unglücksfall den nächsten anziehen würde. Es gab Nächte, da konnte sie sich zwischendurch im Arztzimmer hinlegen, und es gab Dienste wie heute, wo beinahe im Minutentakt Patienten in der Notaufnahme eintrafen. Sie ging an zwei Krankenschwestern vorbei, die unablässig tuschelten und dabei Zigaretten rauchten. Christine hielt kurz die Luft an. Sie hasste den Gestank. Es war ihr unerklärlich, wie Menschen ihre Lungen mit Zigarettenrauch verseuchen konnten. Selbst die unübersehbare Aufklärung auf den Packungen schien viele immer noch nicht abzuschrecken.
Sie kam an ein paar Bäumen vorbei. Auf einer Bank saß ein Liebespaar. Das Bein des Mannes steckte in einem dicken Gips. Er schlang den Arm um die Frau und küsste sie. Ihr Blick blieb an den beiden hängen. Christine dachte sofort an ihren Mann, der ohne sie zu Hause im Bett lag. Küsse und mehr würden bis zum nächsten Abend warten müssen. Sie war viel zu geschafft, um auch nur an Sex zu denken. Aber vielleicht sollte sie sich doch heute noch aufraffen. Das letzte Mal war beinahe eine Woche her und außerdem ging sie langsam auf die vierzig zu. Wenn sie Kinder wollte, dann wurde es Zeit. Sie lächelte bei dem Gedanken daran, dass sich ihr Haus mit lauten Kinderstimmen füllen würde. Es war eine schöne Vorstellung, und sie kam ihr fast sinnvoller vor, als Tag für Tag das Leid und den Tod von ihren Patienten abzuwenden. Der Kampf war so oft hoffnungslos. Viel zu häufig konnte sie nichts ausrichten, so wie heute bei der jungen Frau, die vergeblich versucht hatte zu sterben. Warum wollten manche Menschen ihr Leben einfach so wegwerfen? Sie hatten doch nur eines, und niemand wusste, was danach kam. Der Tod könnte schließlich noch viel schlimmer sein als das Leben, aus dem sie fliehen wollten. Christine seufzte, wie bereits so oft an diesem Tag, und spazierte weiter. Vor ihr tat sich ein kleiner Platz mit den Müllcontainern des Krankenhauses auf. Die meisten ihrer Kollegen würden sich nicht hierher verirren, doch ihr machte der leichte Gestank nichts aus. Das Desinfektionsmittel im Krankenhaus roch auch nicht viel besser und außerdem war sie an diesem Ort ungestört. Kein Liebespaar, keine Schwestern, keine Kollegen – einfach perfekt. Sie ließ sich auf einem Mauervorsprung nieder und legte den Kopf in den Nacken. Die Temperaturen waren mild. Über ihr schienen die Sterne. Wäre da nicht ihr stressiger Job, könnte die Nacht sogar romantisch sein. Sie fragte sich, wann sie und Ben aufgehört hatten, sich wirklich nahe zu sein. Lag es nur an ihren kräftezehrenden Berufen oder hatte sich eine gewisse Gleichgültigkeit in ihre Beziehung eingeschlichen? Sie sah Bens Gesicht vor sich. Seine blauen Augen und den verschmitzten Zug um seine Mundwinkel, der sie von Anfang an elektrisiert hatte. Sie holte ein wenig wehmütig ihr Handy aus der Tasche und sah sich das letzte Foto von ihm an. Seine Haut war durch die Arbeit im Büro fahler geworden, sein Lächeln schien viel ernster als damals. Doch seine Augen blickten sie immer noch voller Wärme an.
Sie lächelte und tippte eine kurze Nachricht an ihn:
Der Dienst ist echt stressig heute. Freue mich auf dich in spätestens drei Stunden.
Sie setzte ein Herz dahinter und schickte die Botschaft ab.
Dann schaute sie ein paar Minuten gedankenverloren in den Himmel und erhob sich schließlich, um wieder in die Notaufnahme zurückzukehren. Sie überquerte die Straße und bemerkte dabei einen großen Gegenstand, der vor den Mülltonnen lag. Neugierig machte sie einen Schlenker. Direkt davor schaltete sie das Licht ihres Handys ein. Der Gegenstand war in schwarze Folie eingewickelt. Ein düsterer Geruch ging von ihm aus. Eine Note, die ihr eine Gänsehaut bescherte. Sie kannte dieses Aroma, jedoch nicht aus dem Krankenhaus, sondern aus der Leichenhalle. Mit zitternden Fingern griff sie nach der Folie und schlug sie um. Ein dunkelbraunes Augenpaar starrte sie an. Christine blieb wie vom Donner gerührt hocken. Für eine Weile war sie zu keiner Regung mehr fähig. Ihre Augen lieferten Bilder an ihr Gehirn. Doch das weigerte sich, diese aufzunehmen.
Plötzlich löste sie sich jedoch aus ihrer Starre und machte einen Schritt rückwärts. Sie wählte den Notruf der Polizei.
»Ich habe eine tote Frau vor den Müllcontainern entdeckt«, erklärte sie mit bebender Stimme, nannte noch ihren Namen und das Krankenhaus und legte auf.