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L aura gähnte und lehnte sich müde auf dem Beifahrersitz zurück. Max steuerte den Dienstwagen routiniert durch die Straßen von Berlin, die um diese Uhrzeit zum Glück recht frei waren. Spätestens in einer Stunde setzte der Berufsverkehr ein, dann gab es kein Durchkommen mehr. Doch um fünf Uhr morgens lagen die meisten Menschen noch im Tiefschlaf.
»Warum hat Beckstein uns diesen Fall zugeteilt?«, fragte sie verschlafen und verkniff sich ein erneutes Gähnen. Joachim Beckstein war seit gut fünfzehn Jahren Leiter des Dezernats für Entführungen, erpresserischen Menschenraub und Tötungsdelikte beim Landeskriminalamt in Berlin. Laura schätzte ihren Chef sehr, weil er in den entscheidenden Momenten stets zu seinen Leuten hielt.
»Die Kripo ist chronisch unterbesetzt und hat um Unterstützung gebeten. Außerdem behauptet die Oberärztin, die die Leiche gefunden hat, dass in letzter Zeit mehrere Frauen aus der Notaufnahme verschwunden sind.«
Lauras Müdigkeit verflüchtigte sich. Sie richtete sich auf.
»Was hat denn die Notaufnahme mit der Toten zu tun?«, fragte sie und schüttelte den Kopf. »Egal. Wir haben ja tatsächlich im Moment etwas Luft, und ich gönne es Taylor, noch im Bett zu liegen.« Sie lächelte zufrieden in sich hinein.
»Ist er bei dir?«
Max’ schneidender Unterton entging Laura nicht. Er konnte sich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass sie jetzt mit Taylor zusammen war. Max hielt nicht sonderlich viel von ihm. Was verschiedene Gründe hatte. Da war zum einen ihre gemeinsame Vorgeschichte. Eine im Nachhinein völlig idiotische Aktion. Sie hatte vor Jahren etwas mit Max angefangen. In einer Zeit, als ihn seine Frau Hannah kurzzeitig verlassen hatte. Es war nichts Ernstes gewesen und auch nie auf Dauer angelegt. Trotzdem stand diese Sache immer noch zwischen ihnen. Sie sah es in Max’ Augen. Es verletzte ihn, sie mit einem anderen Mann zu sehen, insbesondere mit Taylor. Ein gut aussehender Amerikaner, der seit ein paar Jahren in Deutschland lebte und bei der Kriminalpolizei arbeitete. Der ihr eines Tages wahrscheinlich das Herz brechen würde. Doch sie hatte ihre Bedenken nach langem Hin und Her über Bord geworfen. Zumindest vorerst.
»Du weißt, dass er mir seinen Wohnungsschlüssel gegeben hat?«, erinnerte sie Max vorsichtig.
Sein Gesicht versteinerte sich. »Hör zu, Laura, du kannst zusammen sein, mit wem du willst. Ich will nur nicht, dass Taylor dir wehtut. Es tut mir leid, dass ich mir Sorgen mache. Ich mische mich nicht länger ein. Versprochen.« Er lächelte verkrampft und fuhr sich mit der Hand über die Glatze. Max gehörte trotz mangelnder Haarpracht zu der Sorte Männer, nach der die Frauen sich umdrehten. Er war groß, kräftig und hatte ein markantes Gesicht. Viele würden ihn nicht für einen fünfunddreißigjährigen Familienmenschen halten. Dabei hatte er mit Hannah bereits zwei Kinder, die er über alles vergötterte.
»Ich will es wirklich mit Taylor versuchen. Im Moment jedenfalls«, sagte Laura leise und schaute Max eindringlich an. »Ich muss mich ein wenig an den schönen Seiten des Lebens festhalten, ansonsten gehe ich irgendwann ein.« Sie hoffte, dass Max verstand, was sie ihm sagen wollte. Er sollte es wissen. Seine Familie war der ideale Ausgleich zu dem harten Job, den sie tagtäglich ausübten. Eine Familie zählte zu den Dingen des Lebens, wofür sie das alles taten. Wer nur noch in den Abgrund blickte, der wurde früher oder später hinabgezogen. Wer ausschließlich das Böse sah, der vergaß das Gute in der Welt. Laura wollte nicht zu einer dieser kaputten und verbitterten Ermittlerinnen werden, die sie aus dem Fernsehen kannte.
»Ich versteh das«, murmelte Max und tätschelte ihre Schulter. »Ich könnte Hannah und die Kinder nie im Stich lassen, aber manchmal denke ich einfach an dich und an das, was wir einmal hatten.« Er starrte stur auf die Straße.
Laura sah zu ihm und wusste, dass er keine Antwort erwartete. Sie griff seine Hand, die noch auf ihrer Schulter ruhte, und drückte sie leicht. Sie mochte Max. Er war ein Teil ihres Lebens und sie könnte niemals ohne ihn sein.
»Wir sind da«, verkündete Max und steuerte auf die Polizeiabsperrbänder zu. Ein Streifenpolizist hielt sie an. Max öffnete das Fenster und zeigte seinen Dienstausweis.
»Max Hartung und Laura Kern vom LKA«, wies er sie beide aus und fuhr die Scheibe wieder hoch, als der Polizist sie durchwinkte. Max lenkte den Wagen noch ein Stückchen weiter und stellte ihn am Rand der Krankenhauszufahrt ab. Die Sonne ging bereits auf. Ihr kräftiges Rot tauchte den grauen Beton des Krankenhausgebäudes in ein warmes Licht. Doch Laura wusste, dass das, was sie gleich zu sehen bekämen, alles andere als angenehm sein würde. Sie stieg aus dem Auto und schritt auf eine Gruppe Polizisten und Mitarbeiter der Spurensicherung zu. Sie hatten sich vor den Müllcontainern des Krankenhauses versammelt und einen Kreis um die tote Frau am Boden gebildet.
Laura blieb stehen und betrachtete die Tote. Sie lag auf einer schwarzen Plane direkt vor den Mülltonnen. Es wirkte beinahe so, als wäre es dem Täter nicht gelungen, sie in einen Container zu hieven. Deshalb hatte er sie davor abgelegt. Vielleicht wollte er aber auch, dass die Leiche schnell gefunden wird. Laura ging in die Hocke. Die Frau war jung, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Ihre braunen Augen starrten ins Leere. Die Pupillen waren bereits stumpf. Tiefe, blutige Bissspuren von den oberen Schneidezähnen zeichneten sich auf der Unterlippe ab. Auf der rechten Wange bemerkte Laura einen bläulichen Fleck, vermutlich ein Hämatom infolge eines Schlages. Der Hals wies zahlreiche Würgemale auf. Die Frau trug ein kurzes Sommerkleid. Auf ihren nackten Armen prangten etliche weitere Hämatome. Sie war offensichtlich gewaltsam festgehalten worden. Laura konnte die Abdrücke von Fingern auf ihrer Haut deutlich erkennen. Als ihr Blick zu den Händen glitt, erschauderte sie. Die beiden Zeigefinger waren blau, grün und violett angelaufen. Trotz der Schwellungen waren sie an einigen Stellen regelrecht eingedellt.
»Woher stammen diese Verletzungen?«, fragte sie schockiert und sah sich zu Dr. Herzberger, dem Rechtsmediziner, um.
»Ich vermute, ursächlich waren Schläge mit einem Stock oder vielleicht auch einem Hammer«, entgegnete er. »Der Körper weist an den sichtbaren Stellen deutliche Spuren von alten und frischen Misshandlungen auf. Sie hat sicherlich vor ihrem Tod große Schmerzen erlitten.«
»Woran ist sie gestorben?«, fragte Max.
Dr. Herzberger zuckte mit den Achseln. »Schwer zu sagen. Die Würgemale am Hals erscheinen mir nicht tief genug, um tödlich zu sein. Auf den ersten Blick kann ich es leider nicht feststellen. Äußerlich weist die Tote keine lebensbedrohlichen Verletzungen auf.«
»Wie lange ist sie schon tot?«
»Auch das kann ich Ihnen erst nach der Obduktion genauer sagen. Die Totenstarre ist bereits voll ausgeprägt. Demnach ist der Tod mindestens vor acht Stunden eingetreten. Es kann aber auch schon zwei Tage her sein.«
Laura erhob sich wieder. »Wurden ihre Taschen bereits durchsucht?«
Ein Mitarbeiter der Spurensicherung nickte. »Sie waren alle leer. Nichts. Kein Ausweis, kein Geld, nicht mal ein Taschentuch. Sie trägt keinen Schmuck, aber am Ringfinger der linken Hand ist ein hellerer Streifen auf der Haut sichtbar. Vermutlich stammt er von einem Ring.«
»Sonst irgendwelche Spuren?«
»Wir sind noch dran, allerdings sieht es nicht gut aus. Reifenspuren oder Schuhabdrücke können wir bei der Trockenheit und auf dem Asphalt nicht sicherstellen. Die umherliegenden Gegenstände scheinen mit der Toten oder dem Täter nichts zu tun zu haben.« Der Mann deutete auf eine Box, in der ein paar Asservatentüten lagen. »Wir haben eine leere Packung von Mullbinden gefunden, abgelaufene Pflaster, eine Pinzette und anderen Müll. Es scheint sich um Abfälle des Krankenhauses zu handeln, die versehentlich nicht im Container gelandet ist.«
Laura schaute sich um. »Haben Sie sich nach Kameras umgesehen?«
»Noch nicht. Das erledigen wir gleich. Über uns an der Wand ist eine, die müsste den Müllplatz eigentlich erfassen.«
Laura sah die Kamera. Hoffentlich hatte sie den oder die Täter aufgenommen. Sie blickte abermals zur Toten auf dem Asphalt hinunter und fragte sich, warum der Täter ausgerechnet diese Stelle zur Ablage der Leiche ausgewählt hatte. Direkt unter einer Kamera und an der Rückseite eines belebten Krankenhauses. Er war ein hohes Risiko eingegangen, denn er hätte jederzeit entdeckt werden können. Weshalb hatte er kein einsames Feld, einen Wald oder sonst irgendeinen entlegenen Flecken ausgesucht? Und dann die Ablage neben den stinkenden Mülltonnen. Verachtete er sein Opfer und fügte ihm damit eine letzte Erniedrigung zu? War diese Frau für ihn einfach nur Müll oder war die Wahl des Ortes vielleicht reiner Zufall? Laura schloss die Augen und versuchte, das Böse zu spüren, das an diesem Ort gewesen war. Doch sie nahm nur den warmen Sommerwind wahr, der ihr übers Haar strich. Sie drehte sich zu Max um.
»Wollen wir jetzt mit der Oberärztin sprechen, die den Leichnam gefunden hat?«
Max nickte und folgte ihr. Sie gingen am Gebäude entlang zur Vorderseite. Notaufnahme leuchtete über dem Haupteingang in roten Buchstaben. Laura mochte Krankenhäuser nicht besonders. Der Geruch ekelte sie an, und außerdem wollte sie sich nicht an die Zeit erinnern, die sie selbst wochenlang dort verbracht hatte. Die gläsernen Schiebetüren öffneten sich automatisch, Laura hielt die Luft an. Erst als sie vor der Frau an der Anmeldung stand, atmete sie wieder ein.
»Wir möchten mit Doktor Christine Gebauer sprechen«, sagte sie und schob ihren Dienstausweis über den Tresen.
»Kleinen Augenblick bitte, ich gebe Bescheid.« Die Frau tippte auf dem Telefon herum. »Doktor Gebauer ist unterwegs. Warten Sie bitte dort drüben.« Sie zeigte auf eine Reihe gräulich angelaufener und zerkratzter Plastikstühle. Laura setzte sich nicht.
Max blieb ebenfalls stehen.
»Was, wenn die Frau gar nicht ermordet wurde?«, fragte er nachdenklich. »Vielleicht ist sie einfach so gestorben.«
»Und dann hat ihr Geliebter oder wer auch immer sie in schwarze Plastikfolie gehüllt und vor den Mülltonnen des Krankenhauses abgelegt?« Laura schüttelte ungläubig den Kopf. »Jeder besorgte Verwandte oder Bekannte hätte den Notarzt gerufen oder sie zumindest in die Notaufnahme gebracht, auch wenn sie schon tot gewesen wäre.«
Max verzog das Gesicht. »Vermutlich hast du recht. Es kommt bei unseren Fällen nur nicht so häufig vor, dass die Todesursache nicht offensichtlich ist. Ich hätte wenigstens einen Messerstich, eine Schusswunde oder irgendetwas in der Art erwartet.«
»Ich auch«, gab Laura zu. »Mir ist es sowieso ein Rätsel, warum er sich ausgerechnet ein Krankenhaus ausgesucht hat, um den Leichnam loszuwerden.«
Eine gelblich gefleckte Tür schwang auf und eine Frau Ende dreißig mit hochgesteckten braunen Haaren und ausdrucksstarkem Gesicht kam auf sie zu.
»Guten Morgen. Ich bin Christine Gebauer. Sind Sie von der Kriminalpolizei?«
Laura schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Wir sind vom Landeskriminalamt.«
Dr. Gebauer zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Vom LKA? Das ist doch für besonders schwere Fälle zuständig.«
»Ja, das stimmt. In diesem Fall liegt es aber auch an Personalengpässen bei der Kripo«, sagte Laura und studierte jede Regung im Gesicht der Oberärztin. Sie wirkte ungewöhnlich blass. Vermutlich hatte sie die Nacht durchgearbeitet und war ziemlich müde. Ihre dunklen Augenringe waren jedenfalls nicht zu übersehen.
»Wir sind hier auch ständig Land unter«, entgegnete die Ärztin seufzend und verstummte. »Ich kenne die Tote übrigens«, fuhr sie nach einer Weile zu Lauras Überraschung fort. »Sie war vor ungefähr zwei Wochen bei uns. Vielleicht waren es auch ein paar Tage weniger. Ich habe sie behandelt und dabei sind mir die vielen Verletzungen aufgefallen, die typisch sind für Frauen, die von ihrem Partner geschlagen werden. Sie kommen hierher und behaupten, sie wären die Treppe hinuntergestürzt oder hätten sich am Herd verbrannt. Das Übliche …« Sie seufzte erneut und sah auf ihre Hände. »Jedenfalls habe ich dieser Frau geraten, ihren Mann anzuzeigen und gegebenenfalls Schutz in einem Frauenhaus zu suchen. Sie glauben nicht, was dann passiert ist.«
Dr. Gebauer blickte erst Laura und dann Max durchdringend an.
»Sie ist aus dem Krankenhaus verschwunden. Einfach so. Ihr Mann hat sie abgeholt.« Dr. Gebauer schüttelte den Kopf. »Ich verstehe so etwas nicht. Der Kerl prügelt sie krankenhausreif, und dann geht sie wieder mit ihm, als wäre nichts geschehen. Ich war mir sicher, dass ich sie irgendwann erneut bei uns sehen würde.« Dr. Gebauer stockte. »Allerdings nicht so.«
»Wie lautet der Name der Frau?« Laura holte ihren Notizblock hervor.
»Leider weiß ich es nicht. Sie ist gegangen, bevor wir ihre Personalien aufnehmen konnten. Es war so viel los in jener Nacht, dass wir gar nicht mehr hinterhergekommen sind.« Dr. Gebauer sah Laura schuldbewusst an. »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Die Krankenhausleitung sitzt mir deshalb schon im Nacken. Aber die da oben wissen ja auch nicht, wie es ist, sich im Minutentakt um Verletzte zu kümmern.«
Laura konnte Dr. Gebauers Erklärung nachvollziehen. »Dem Beamten, der Ihren Notruf aufgenommen hat, haben Sie erzählt, dass es bereits mehrere solcher Fälle gegeben hat.«
»Ja, das ist richtig. Genauer gesagt ist erst heute Nacht wieder eine Patientin verschwunden, deren Personalien wir nicht haben. Das ist besonders schlimm, weil ich sie als suizidgefährdet einschätze. Sie hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ihr Körper war übersät mit Hämatomen. Ein Zahn war abgebrochen und das linke Auge so zugeschwollen, dass sie fast nichts sehen konnte. In der Hektik ist es manchmal schwierig, an die Formalitäten zu denken«, murmelte Dr. Gebauer erschöpft. »Diese administrativen Tätigkeiten halten sowohl Ärzte als auch Pflegekräfte von der eigentlichen Arbeit ab. Wenn wir erst stundenlang Formulare ausfüllen müssen, dann stirbt in dieser Zeit womöglich jemand.«
Die Ärztin klang frustriert. Obwohl sie höchstens Ende dreißig war, schien sie realisiert zu haben, dass die Welt sich nicht so einfach retten ließ. Das war sicherlich höchst desillusionierend.
»Können Sie uns vielleicht eine genauere Personenbeschreibung geben? Wir könnten jemanden vorbeischicken, der ein Phantombild anfertigt«, schlug Max vor.
Dr. Gebauer nickte. »Natürlich. Gerne.«
»Hat eine der Schwestern oder ein anderer Mitarbeiter gesehen, wo sie hingegangen ist?«, fragte er und machte sich eine Notiz.
»Nein, wie gesagt, wir hatten heute Nacht alle Hände voll zu tun. Ich habe mir nur eine kurze Pause gegönnt und da …« Die Ärztin sprach nicht weiter.
»Es ist sicherlich schrecklich für Sie, eine Patientin tot aufzufinden.« Laura konnte es vollkommen nachfühlen. Es war sowieso schon schlimm, auf einen Leichnam zu stoßen, aber wenn es sich dann auch noch um ein bekanntes Gesicht handelte, wog der Schock umso schwerer.
Dr. Gebauer blickte Laura plötzlich an, als hätte sie eine Erleuchtung.
»Der Mann hat sie durch das Treppenhaus hinausgeführt und nicht mit dem Fahrstuhl.«
Laura konnte der Ärztin nicht ganz folgen.
Dr. Gebauer schien es zu bemerken. Sie hob die Hand und griff sich an die Stirn, während sie hinzufügte: »Das Treppenhaus ist videoüberwacht.«