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» S ie haben Glück. Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden wären die alten Aufnahmen gelöscht worden«, erklärte der Mitarbeiter der Sicherheitsfirma, die für die Kameraüberwachung des Krankenhauses zuständig war. Sein Vollbart bedeckte fast das ganze Gesicht. Das schüttere Haupthaar hatte er zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er roch nach Zigarettenqualm. Laura bemerkte die stumpfen, gelblichen Fingernägel. Der Mann war offenkundig Kettenraucher.
Wie zur Bestätigung hustete er, wobei seine Lungen bedrohlich rasselten.
Dr. Gebauer verzog die Miene und rang sichtlich mit sich.
»Sie sollten dringend mit dem Rauchen aufhören, Herr Winkler«, belehrte sie ihn schließlich und erntete einen verständnislosen Blick.
»Wir sterben alle irgendwann an irgendetwas«, murmelte er unbeeindruckt und klickte sich durch ein paar Ordner auf seinem Computer. »Wann, sagten Sie, ist diese Patientin aus dem Behandlungszimmer verschwunden?«
»Vor knapp zwei Wochen. Ich kann mich leider nicht genau an den Tag erinnern. Wir brauchen jedenfalls die Aufnahmen vom Treppenhaus. Sie hat mit ihrem Mann die Treppe genommen. Es war am frühen Morgen, so zwischen fünf und sieben Uhr.«
Herr Winkler kratzte sich den üppigen Bart und öffnete das erste Video auf dem Bildschirm. Laura rückte mit ihrem Stuhl näher an den Monitor heran. Max lehnte noch im Türrahmen, löste sich jedoch und gesellte sich zu ihnen.
»Also, vor genau zwei Wochen sehe ich hier nichts. Probieren wir mal den Tag danach.« Winkler startete das nächste Video und stellte es auf Schnelldurchlauf. Da der Zugang zum Treppenhaus hinter einer Nische versteckt lag, wurde es so gut wie nicht benutzt. Er stoppte kurz, als ein Pfleger die Tür zum Treppenhaus öffnete, spulte dann aber schnell weiter. Auch am nächsten Tag hatten sie keinen Treffer.
»Ist sie das?«, fragte Herr Winkler beim darauffolgenden Video und zeigte auf eine Frau mit langen braunen Haaren, die von einem Mann mit Baseballkappe begleitet wurde.
Laura erkannte die Frau auf Anhieb.
»Das ist die Tote, die heute Nacht gefunden wurde.«
»Ja, das ist sie«, stieß Dr. Gebauer aus. »Das daneben könnte ihr Mann oder Freund sein. Verflucht, man kann ihn gar nicht vernünftig erkennen.«
Max kroch ganz dicht an den Bildschirm heran. »Ich sehe dunkle Haare, die unter der Mütze hervorquellen. Gibt es vielleicht noch eine andere Kamera, die ihn von vorne zeigt?«
Herr Winkler schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Im Treppenhaus selbst sind keine Kameras installiert. Erst wieder draußen, aber auf den Aufnahmen wird er auch nur von hinten zu sehen sein. Es sei denn, er hätte sich umgedreht.«
»Wir schauen uns die Aufnahmen trotzdem einmal an«, erwiderte Laura und wandte sich zu Dr. Gebauer um. »Kann sich vielleicht irgendein Mitarbeiter an den Mann erinnern?«
»Nein. Ich habe sämtliche Schwestern und Pfleger sowohl nach der Patientin als auch nach diesem Mann befragt. Niemandem ist aufgefallen, dass er sie abgeholt hat. Das, was Sie auf dem Video sehen, ist im Grunde auch schon alles, was ich gesehen habe. Und bei der Patientin, die heute Nacht vor Abschluss der Behandlung verschwand, hat ebenfalls keiner etwas mitbekommen.«
Herr Winkler startete die Aufnahme von der Außenkamera, die über dem Ausgang hing, zu dem das Treppenhaus führte. Die Kamera hatte die Dunkelheit in verschiedenen Grautönen eingefangen. Es war fast nichts zu erkennen. Für ein paar Sekunden tauchten das spätere Opfer und sein Begleiter am unteren Bildrand auf. Sie gingen gemächlich und schienen es nicht sonderlich eilig zu haben.
»Sie steuern nicht auf den großen Parkplatz zu«, stellte Laura fest. »Sie bewegen sich in Richtung Mülltonnen.«
Max sah sie alarmiert an. »Dort sind doch auch Kameras installiert. Können Sie die Aufnahmen bitte raussuchen, Herr Winkler?«
Herr Winkler nickte und klickte wild auf der Tastatur herum. Er schien sichtlich Spaß an der Sache zu finden.
»Hier sind sie. Die beiden haben genau eine Minute gebraucht, um das Gebäude zu umrunden.«
»Mist. Ich sehe kein Auto«, sagte Laura enttäuscht und beobachtete, wie die Frau mit dem Mann zu Fuß über die Zufahrt verschwand.
»Irgendwo muss er doch geparkt haben oder wohnen sie etwa in der Nachbarschaft des Krankenhauses?«
Die Aufnahme lief weiter. Aber sie war nicht mehr als ein Standbild, denn keine Menschenseele nutzte diesen Weg mitten in der Nacht. Herr Winkler drückte eine Taste und der Bildschirm wurde schwarz. Niemand antwortete auf Lauras Frage. Alle schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen.
»Okay«, murmelte Laura schließlich. »Gehen wir die Aufzeichnungen von heute Nacht durch. Vielleicht können wir die suizidgefährdete Patientin ausfindig machen.«
Herr Winkler suchte das Video in Sekundenschnelle heraus. Er begann um zwei Uhr nachts. Die Bilder rasten über den Bildschirm. Wieder wurde das Treppenhaus kaum genutzt. Laura blinzelte müde. Die Luft im Raum war verbraucht. Sie benötigte dringend Sauerstoff.
»Tut mir leid. Da ist keine Frau. Vielleicht hat sie den Fahrstuhl genommen. Ich schaue mal nach.« Herr Winkler machte sich erneut an die Arbeit.
»Himmel. Das ist doch derselbe Kerl«, stieß Max nach einer Weile aus, als sich auf einmal etwas tat, und kroch so dicht an den Bildschirm heran, dass seine Nasenspitze ihn fast berührte.
»Da, sieh genau hin«, sagte er und wies auf einen Mann mit Baseballkappe, die tief ins Gesicht gezogen war. Er schob eine Frau im Rollstuhl vor sich her. Die Frau schien zu schlafen.
»Der Kerl fährt meine verschwundene Patientin in einem Krankenhausrollstuhl aus dem Gebäude. Das gibt es doch nicht«, stieß Dr. Gebauer empört aus. »Als ich sie untersucht habe, war sie bei vollem Bewusstsein. Dieser Mann muss sie irgendwie ruhiggestellt haben.«
Laura sah sich die Frau an. »Können Sie ein Foto von ihr machen?«
Herr Winkler nickte. Laura musterte die Statur des Mannes. Tatsächlich war die Ähnlichkeit nicht von der Hand zu weisen.
»Das würde ja bedeuten, dass dieser Mann überhaupt nicht der Ehemann oder Lebensgefährte der Toten ist«, flüsterte Dr. Gebauer überrascht. »Aber wer ist es denn dann?«
Niemand im Raum kannte die Antwort. Doch allein die Tatsache, dass dieser Mann zweimal in den Überwachungsvideos auftauchte, sprach Bände. Weder Max noch Laura wollten vor den Anwesenden etwas dazu sagen. Sie tauschten nur einen stummen Blick aus. Wenn sie sich nicht irrten, dann lief da draußen ein Mörder herum. Ein Mörder, der heute Nacht das zweite Opfer in seine Gewalt gebracht hatte.
Laura studierte jede Bewegung des Mannes. »Wir lassen die Videos durch unseren eigenen Experten im Detail auswerten«, verkündete sie. Simon Fischer, ein echter Computerfreak, konnte aus fast jedem noch so unscharfen Bild etwas herausholen.
»Doktor Gebauer, Sie haben uns wirklich sehr geholfen. Sie sollten aber darauf achten, dass Sie niemals Patienten behandeln, die nicht ordnungsgemäß registriert wurden. Wissen Sie eigentlich, ob das auch bei Ihren Kollegen vorkommen könnte?«
Dr. Gebauer riss die Augen auf. »Wie meinen Sie das?«
»Sind das Ausnahmefälle oder kommt es häufiger vor, dass Patienten behandelt werden, bevor sie namentlich aufgenommen worden sind?« Laura machte eine Pause. »Ich frage mich nur, ob dieser Mann bewusst während Ihrer Dienste gehandelt hat.«
Dr. Gebauer schluckte und schüttelte dann heftig den Kopf. »Es kommt darauf an, wie viel los ist. Es ist eher ein Ausnahmefall, wenn wir erst behandeln und anschließend die Patientendaten aufnehmen. Jedoch steht die Gesundheit des Patienten immer an erster Stelle. Also ja, auch meine Kollegen helfen in Notfällen zuerst und erledigen später die Formalitäten.«
»Okay«, erwiderte Laura. »Es spielt demnach keine Rolle, wer Dienst hat. Dieser Mann braucht also nur darauf zu warten, dass es voll ist, damit er im Chaos unbemerkt agieren kann.«
»Es ist sicherlich ein Zufall, dass ausgerechnet diese beiden Patientinnen noch nicht aufgenommen wurden. Es ist Aufgabe der Pflegekräfte. Aber die sind natürlich ständig beschäftigt, wenn viel zu tun ist. In neunundneunzig Prozent funktioniert es ja.«
»Demnach hätte er also nur Glück gehabt«, stellte Max fest.
Dr. Gebauer nickte zögerlich. »Himmel, jetzt bin ich ganz verunsichert.« Ihre Stimme bebte ein wenig. »Vielleicht hat er mich und die zuständige Schwester auch beobachtet. Wer weiß, wie viele Frauen er bereits aus dem Krankenhaus geschafft hat. Ohne die Tote hätte ich überhaupt keinen Zusammenhang hergestellt.« Sie fuhr sich fahrig durchs Haar. »O Gott. Der Typ ist ein Serienkiller. Hab ich recht? Er holt sich Frauen aus dem Krankenhaus und bringt sie um. Ich fasse es nicht.«
»Wir stehen erst ganz am Anfang der Ermittlungen, aber es scheint so, als wären Sie da auf eine schlimme Sache aufmerksam geworden«, bestätigte Laura und reichte ihr eine Visitenkarte. »Scheuen Sie sich nicht davor, mich auch mitten in der Nacht anzurufen, falls Ihnen noch eine weitere Begebenheit oder andere Einzelheiten einfallen.« Laura bedankte sich bei Herrn Winkler und ließ sich von ihm die Aufnahmen aushändigen. Max hielt ihr die Tür auf. Sie steuerten wieder auf die Rückseite des Gebäudes zu.
Die Arbeit der Spurensicherung war in vollem Gange. Ein ganzes Team hatte sich um die Mülltonnen herum ausgebreitet. Es blitzte aus Kameras. Boxen wurden mit Beweismaterial gefüllt. Zwei Mitarbeiter nahmen am Rand der Straße einen Gipsabdruck. Eine junge Frau durchsuchte ein paar dürre Sträucher an der Häuserwand. Die Leiche war bereits abtransportiert worden. Dr. Herzberger würde sie noch heute obduzieren. Laura war auf die Todesursache gespannt. Der Fall kam ihr jedenfalls sehr merkwürdig vor.
»Auf dem Video sah es so aus, als wäre die später getötete Frau freiwillig mitgegangen«, bemerkte sie und sah Max an.
Der schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Das stimmt. Trotzdem waren die Aufnahmen nicht sonderlich deutlich. Vielleicht hatte er eine Pistole oder etwas Ähnliches in der Tasche. Er ging ein wenig hinter ihr. Und die andere Frau hat sich bestimmt nicht freiwillig in den Rollstuhl gesetzt. Die hat er entführt.«
»Das wäre eine Erklärung.« Laura öffnete die Wagentür auf der Beifahrerseite und stieg ein. »Simon Fischer soll sofort mit der Auswertung der Überwachungsaufnahmen beginnen, damit wir wissen, ob es sich tatsächlich zweimal um denselben Mann handelt«, erklärte sie, während Max den Wagen startete. »Und wir sollten die Vermisstendatei nach den beiden Frauen durchsuchen. Wenn die Tote wirklich elf Tage lang in der Gewalt des Täters war, sollte sie ihre Familie zwischenzeitlich als vermisst gemeldet haben.« Und hoffentlich lebt die zweite Frau noch und wir finden sie rechtzeitig, fügte sie in Gedanken hinzu.