S
imon Fischer kniff konzentriert die Augen zusammen und rückte gedankenverloren die dicke Hornbrille auf seiner Nase zurecht. Schließlich bearbeitete er inbrünstig die Tastatur seines Computers. Auf dem Bildschirm waren die Aufzeichnungen der Überwachungskamera von der getöteten Frau zu sehen.
»Nachtaufnahmen sind immer schwierig und machen viel Arbeit«, murmelte er. »Aber keine Sorge. Wenn dahinten im Dunkeln ein Auto steht, dann finden wir es.«
Laura und Max hockten neben ihm und warteten geduldig ab. Inzwischen wussten sie, dass der Mann, der die beiden Frauen aus dem Krankenhaus entführt hatte, mit großer Sicherheit derselbe war. Simon Fischer hatte die Bilder des Mannes isoliert und übereinandergelegt. Körpergröße, Statur und Gang stimmten überein. Es war nur schade, dass sein Gesicht auf keiner einzigen Aufnahme zu sehen war. So kam im Grunde genommen jeder schlanke Mann mit einer Körpergröße von eins fünfundachtzig, der relativ aufrecht ging, infrage.
Jetzt suchten sie nach weiteren Hinweisen, einem Auto oder besser noch dem Kennzeichen oder Ähnlichem. Das Bild wurde sukzessive heller und schärfer. Die Frau und ihr Begleiter liefen an den Mülltonnen des Krankenhauses vorbei. Kurz bevor sie aus dem Bildausschnitt verschwanden, drehte sich der Mann zur Seite.
»Was macht er da?«, fragte Laura und pochte auf die Scheibe.
Sofort stoppte Simon die Aufnahme und spulte ein Stück zurück. Er vergrößerte den Ausschnitt mit dem Pärchen. Etwas blitzte in der Dunkelheit auf.
»Verdammt. Der hat ein Messer in der Hand«, stellte er fest und isolierte einen weiteren Ausschnitt. »Jetzt kann man es deutlich sehen. Er presst es ihr gegen die Rippen. Er ist nur die ganze Zeit so geschickt schräg hinter ihr gelaufen, dass man es nicht sehen konnte.« Simon Fischer kratzte sich nachdenklich auf dem Kopf. Sein schütteres Haar stand zu allen Seiten ab. »Wenn Sie mich fragen, dann weiß dieser Kerl genau, wo die Kameras hängen. Er dreht sich jedes Mal so gekonnt weg, dass ich sein Gesicht nicht einfangen kann, und auch das Messer hat er perfekt aus dem Sichtbereich gehalten. Bis jetzt.« Simon Fischer holte den Ausschnitt so nah heran, dass Laura die Klinge erkennen konnte. Anschließend fuhr er fort, den Hintergrund aufzuhellen und nach einem Wagen Ausschau zu halten. Der Mann und die Frau gingen weiter, bis sie in der Schwärze der Nacht verschwanden. Der Computerexperte schaffte es, sie immer noch ein paar Augenblicke länger auf dem Monitor sichtbar zu machen. Aber irgendwann liefen sie einfach aus dem Aufnahmebereich der Kamera, ohne in ein Auto gestiegen zu sein.
»Das gibt es doch nicht«, stieß Max aus. »Sie versucht nicht mal, ihm zu entkommen.«
»Was sollte sie auch tun? Er hat sie mit einem Messer bedroht«, erwiderte Laura.
»Sie hätte wenigstens mal um Hilfe rufen können oder versuchen sollen wegzulaufen. Sie geht mit ihm, als wären sie die besten Freunde.« Max schüttelte missmutig den Kopf.
»Sie wurde von ihrem Lebensgefährten krankenhausreif geschlagen.« Laura zuckte mit den Achseln. »Sicherlich befand sie sich emotional in einer Ausnahmesituation. Wer weiß, was der Kerl ihr versprochen hat. Er könnte ihr erzählt haben, als Seelsorger zu arbeiten oder für irgendeinen Verein, der sich um Gewaltopfer kümmert. Vielleicht kam ihr der Kerl ganz recht. Wovor sollte sie nach der Prügelattacke denn noch Angst haben?«
Simon Fischer und Max starrten sie entgeistert an. Ihre Worte schwebten im Raum. Bis auf sie selbst konnte sich offenbar niemand vorstellen, freiwillig mit einem Monster mitzugehen. Keiner ihrer beiden Kollegen hatte jemals in einer ähnlichen Situation gesteckt wie sie als Kind. Sie konnten es nicht nachvollziehen. Ein Monster war nicht pausenlos ein Monster. Es besaß verschiedene Gesichter, und das Böse blitzte erst dann auf, wenn das Opfer in der Falle saß.
»Womöglich hat die Frau geglaubt, dass dieser Fremde ihr helfen will. Außerdem können wir auf den Videos nicht erkennen, wann er das Messer herausgeholt hat«, fügte Laura hinzu und seufzte.
»Wir sollten uns den Fall von gestern Abend anschauen.« Simon Fischer öffnete ein anderes Video auf dem Bildschirm. »Vielleicht hat er dieses Mal in Reichweite der Kamera geparkt.«
Die Szene lief beinahe identisch ab. Der Mann schob die Frau im Rollstuhl vor sich her, wobei er den Kopf gesenkt hielt, sodass sein Gesicht wegen der Baseballkappe nicht zu erkennen war. Simon Fischer vergrößerte hin und wieder Bildausschnitte, aber bis zu der Stelle, an der die beiden aus der Reichweite der Kamera gelangten, war kein Auto zu sehen.
Simon Fischer fluchte leise: »Der Kerl muss doch ein Auto haben. Ich suche jetzt nach dem Ablagezeitpunkt der Toten. Vielleicht sehen wir dort noch etwas Nützliches. Er hat die Leiche sicherlich nicht auf der Schulter zum Müllplatz geschleppt.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Stelle gefunden hatte. Laura hielt den Atem an. Was hatte den potenziellen Täter dazu veranlasst, die Leiche in Sichtweite einer Kamera an einem gut besuchten Krankenhaus abzulegen?
»Wenn der Kerl jetzt mit dem Auto vorfährt, fresse ich einen Besen«, murmelte Max, der immer noch neben ihr hockte.
Sie starrten alle drei gebannt auf den Bildschirm. Ein dunkler Schatten näherte sich am Rande des Sichtfeldes. Sofort hellte Simon Fischer das Bild auf.
Kein Auto, fuhr es Laura durch den Kopf. Sie kniff angespannt die Augen zusammen. Die Aufnahme war nicht sonderlich scharf und die verwaschenen Graustufen erschwerten die Sicht. Aber es gab keinen Zweifel daran, dass sich eine Person der Rückseite des Krankenhauses näherte. Sie steuerte direkt auf die Mülltonnen zu. Der Statur nach zu urteilen, handelte es sich um einen Mann. Er trug keine Leiche auf den Schultern. Doch er schob etwas vor sich her.
»Was ist das? Ein Koffer?«, murmelte Laura und wartete, bis Simon Fischer das Bild näher heranzoomte und den Kontrast erhöhte.
»Schwer zu sagen«, brummte der Computerspezialist. »Vor dem dunklen Hintergrund ist kaum etwas zu erkennen. Aber wie ein Koffer sieht es nicht aus.«
»Ist es vielleicht ein Rollstuhl?«, brachte Max hervor. »Es rollt doch, oder?«
Laura starrte auf das Bild. Der Mann näherte sich zusehends. Noch immer hatte sie keine Ahnung, was er da vor sich herschob. Sie fixierte den Monitor so sehr, dass ihr die Augen tränten. Endlich war der Mann bei den Müllcontainern angekommen. Er ruckelte an dem Gegenstand. Simon Fischer vergrößerte das Bild auf das Doppelte.
»Das ist eine Schubkarre«, stellte Laura fest. »Himmel. Er transportiert die Tote in einer Schubkarre und lädt sie vor den Mülltonnen ab.«
»Der wird das Ding ja nicht offen durch die Stadt geschoben haben. Das bedeutet, sein Wagen parkt irgendwo in der Nähe. Gleich außerhalb der Reichweite der Kameras. Das hat er vorher bestimmt ausgekundschaftet«, spekulierte Max.
Laura kam eine Idee. »Wir sollten die Spurensicherung noch einmal darauf ansetzen. Irgendwo muss er ja auch diesen Rollstuhl gelassen haben. Vielleicht gibt es in der Umgebung weitere Überwachungskameras, auf denen wir den Täter womöglich finden.«
Simon Fischer schüttelte den Kopf. »Leider nein. Ich habe das bereits überprüft.« Er öffnete einen Stadtplan und deutete auf die Zufahrtsstraße zur Rückseite des Krankenhauses. »Hier befindet sich eine unüberwachte Parkfläche. Das ist mehr oder weniger ein einfacher Schotterplatz und dahinter liegt ein Park. Dort gibt es keine Kameras. Erst der Supermarkt an der nächsten großen Kreuzung hat wieder eine Überwachung.«
Laura seufzte. »Es wäre ja auch zu leicht gewesen. Aber schauen Sie trotzdem mal, ob wir die Aufnahmen des Supermarktes bekommen. Vielleicht haben wir Glück.«
»In Ordnung«, erwiderte Simon Fischer. »Ich überprüfe, ob sich was finden lässt. Er hat erst eine Frau geholt. Als sie tot war, hat er sie hinter dem Krankenhaus abgelegt und eine neue mitgenommen. Sollte an den entsprechenden Tagen derselbe Wagen auftauchen, haben wir ihn.« Fischer grinste und fuchtelte mit dem Arm in der Luft, als wollte er zum Angriff blasen.
Laura schmunzelte. »Wir gehen jetzt die Vermisstenanzeigen durch.« Sie stand auf und winkte Max mit sich.
Zurück im Büro mühte Laura sich mit der Datenbank ab, während Max eine Liste von allen Krankenhausmitarbeitern überprüfte, die mit den beiden Frauen in Berührung gekommen waren. In Berlin und Umgebung verschwanden jeden Tag zahlreiche Menschen. Viele von ihnen tauchten einfach so wieder auf. In den allermeisten Fällen gab es eine plausible Erklärung. Doch sobald ein Verbrechen zugrunde lag, fing die Uhr an zu ticken. Je länger sich ein Opfer in der Gewalt eines Täters befand, desto geringer war seine Überlebenschance. Bei Kindern zählten die ersten vierundzwanzig Stunden für eine mögliche Rettung, bei Erwachsenen blieb etwas mehr Zeit. Nichtsdestotrotz bedeutete jede Minute für das Opfer unendliche Qualen.
Laura konzentrierte sich zunächst auf die Frau, die vermutlich noch am Leben war. Die eins siebzig große Brünette war schlank und nicht älter als dreißig. In den letzten vierundzwanzig Stunden fand Laura wie befürchtet keinen Eintrag, der auf die Beschreibung passte. Sie blickte verzweifelt auf das Foto der Entführten, das sie aus Simon Fischers Büro mitgenommen hatte. Sie legte es neben das Bild der Toten. Die Frauen sahen sich verdammt ähnlich. Laura durchsuchte die Datenbank nach denselben Kriterien, verlängerte allerdings den Zeitraum auf zwei Wochen. Sofort erschienen etliche Anzeigen auf dem Bildschirm. Eine Frau fiel ihr gleich ins Auge. Mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen glich sie beinahe einem Model.