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» D u bist sehr hübsch«, erklärte er und seine Lippen verzogen sich unter der Skimaske zu einem Lächeln.
Eva nickte. Diese Worte kamen ihr nur allzu bekannt vor. Sie hörte sie so oft, dass sie längst ihren Zauber verloren hatten. Aus leidvoller Erfahrung wusste sie, dass Komplimente meist nicht kostenlos waren. Alles hatte seinen Preis, und wer sie schön fand, wollte in der Regel mit ihr anbändeln.
»Gefällt dir nicht, was ich sage?«
Der schneidende Unterton in seiner Stimme ließ Eva aufhorchen.
»Doch. Ich mag es«, murmelte sie hastig und blickte scheu in die blauen Augen des großen Mannes, der sie auf eine unangenehme Weise musterte.
In seinem Blick lag etwas Oberlehrerhaftes. Er sah sie an wie eine Schülerin, die zu spät zum Unterricht erschienen war oder ihre Hausaufgaben vergessen hatte.
»Gut«, erklärte er ein wenig besänftigt und zog sie vom Stuhl hoch. »Du solltest jetzt duschen und dich umziehen.« Er beförderte sie aus dem Raum und schob sie durch den dunklen Flur.
Eva blickte sich vorsichtig um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Das Haus jedenfalls kam ihr riesig vor. Der Flur zog sich mindestens fünfzehn Meter in die Länge. Rechts und links gingen etliche Zimmer ab. Eva entdeckte eine angelehnte Tür. Sie verlangsamte ihr Tempo und wollte durch den schmalen Spalt blicken, aber der Mann trieb sie unsanft weiter. Aus dem Augenwinkel nahm sie ein großes Doppelbett wahr, auf dem eine zerwühlte Decke lag. Ob der Fremde darin schlief? Gleich darauf knarrte der Holzboden. Eva hätte schwören können, dass noch jemand im Haus war, doch sie traute sich nicht, stehen zu bleiben oder danach zu fragen. Sie erreichten das Ende des Ganges.
»Hier rein«, zischte der Mann und schloss die Zimmertür hinter ihr.
Eva atmete auf und sah sich um. Ein Himmelbett mit rosa Schleifen füllte beinahe den gesamten Raum aus. Zu ihrer Rechten stand ein Schminktisch mit Spiegel. Daneben befand sich eine Tür. Neugierig drückte Eva die Türklinke hinunter und bestaunte das große Badezimmer. Es verfügte über eine altmodische Badewanne und eine Toilette, die noch mit einer Schnur bedient wurde. Das Milchglas der Dusche musste aus den Fünfzigerjahren stammen, denn es hatte sich im Laufe der Zeit zu einer Mischung aus Gelb und Braun verfärbt. Die Fliesen schimmerten in einem merkwürdigen Grün. Die Fugen dazwischen waren tiefschwarz. Je länger Eva das Badezimmer betrachtete, desto weniger Lust verspürte sie, sich hier zu waschen. Sie wollte sich gerade abwenden, als ihr das Fenster ins Auge fiel. Sie stürmte darauf zu und ruckelte an dem Griff, der sich allerdings keinen Millimeter bewegte. Der Holzrahmen erschien mindestens so alt wie der Rest des Badezimmers. Sie rüttelte kräftig an dem morschen Holz, ohne jedoch etwas zu erreichen. Hinausblicken konnte sie nicht, weil die Scheibe ebenfalls aus Milchglas bestand. Eva sah sich um und erblickte eine Toilettenbürste. Sie steckte in einem schweren Porzellangefäß. Plötzlich war ihr Drang zu fliehen viel größer als ihre Angst. Sie nahm das Gefäß und hob es hoch über den Kopf. Ihr Herz pochte wie verrückt, als sie dicht vor der Fensterscheibe stand. Sie holte tief Luft und schleuderte das Gefäß mit aller Kraft gegen die Scheibe. Der Lärm war so ohrenbetäubend, dass sie vor Schreck die Hände über den Kopf legte. Das Glas zersplitterte. Dahinter kam ein Stück blauer Himmel zum Vorschein. Und noch etwas, das ihr Herz augenblicklich zum Aussetzen brachte.
Ein Gitter.
Verdammt!
Eva blinzelte entsetzt. Sie wollte nicht wahrhaben, was sie dort sah. Verzweifelt griff sie durch das Loch in der Scheibe und packte das Gitter an. Hoffentlich war es locker. Sie zog aus Leibeskräften. Das verfluchte Ding rührte sich nicht. Stattdessen hörte sie Schritte.
Seine Schritte.
Sie klangen fest, entschlossen. Sie kamen viel zu schnell näher. Noch bevor sie überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde die Zimmertür aufgestoßen.
»Was tust du da?« Seine Stimme vibrierte vor Wut.
Eva sah sich um. Seine massige Gestalt im Türrahmen machte jede Flucht unmöglich. Doch das war es nicht, was ihre Knie schlagartig in Wackelpudding verwandelte. Die Angst krallte sich in ihren Eingeweiden fest. Wieder blinzelte sie. Aber das Bild veränderte sich nicht. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Bitte«, flehte sie. »Bitte tun Sie mir nichts.«
Der Mann grinste. Eva stolperte einen Schritt rückwärts. Sie hatte keine Chance.
Der Mann hatte die Maske abgenommen.