L
aura hielt die Luft an. Es gab Dinge, an die sie sich im ganzen Leben nicht gewöhnen würde. Der Gestank in der Leichenhalle gehörte dazu. Nur gut, dass sie am Morgen kaum gefrühstückt hatte. Die Neonröhren hoch über ihren Köpfen, der graue Fußbodenbelag und die kahlen, weißen Wände jagten ihr einen leichten Schauer über den Rücken. Laura bewunderte jeden Arzt und Helfer, der hier arbeitete. Sie würde es keine vierundzwanzig Stunden in dieser Atmosphäre aushalten.
»Haben Sie das Foto dabei?«, fragte Dr. Herzberger lächelnd. Ihm schien der Tod, der ihn täglich umgab, nichts auszumachen. Er stieß die Tür zum Autopsiesaal auf, wartete, bis Laura mit Max hindurchgegangen war, und steuerte auf einen Obduktionstisch zu. Darauf lag die tote Frau, die sie am Krankenhaus gefunden hatten. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge hatten jegliche Ausstrahlung verloren. Die Haut glich einer grauen Knetmasse, die Augen waren geschlossen, das lange Haar war ordentlich zurückgekämmt. Unter dem Haaransatz und auch vom Halsansatz abwärts zeichneten sich dicke wulstige Nähte ab. Eine davon verlief über den Oberkörper bis hinab zum Schambein. Es handelte sich um den typischen Y-Schnitt, der beim Öffnen eines Leichnams angewendet wurde. Zu Lauras Erleichterung hatte Dr. Herzberger die Obduktion bereits beendet und den Körper wieder zugenäht. Sie konzentrierte sich auf das Gesicht der Toten und vermied, auf die langen Nähte zu starren.
Max verhielt sich ähnlich. Sein Blick war auf einen imaginären Punkt an der Wand gerichtet.
Laura holte schweigend das Foto von der Vermisstenanzeige aus der Tasche.
»Ich denke, das ist sie«, stellte Dr. Herzberger zufrieden fest und murmelte ihren Namen: »Lena Reimann. Vierundzwanzig Jahre alt. Ich hatte schon befürchtet, ich muss den Zahnstatus für die Identifizierung heranziehen. Sie hat zahlreiche Kronen für ihr Alter. Aber das ist jetzt nicht mehr relevant. Könnten Sie mir DNS-Proben aus ihrer Wohnung beschaffen, damit wir ihre Identität zweifelsfrei nachweisen können?«
»Natürlich. Wir müssen sowieso ihre Angehörigen informieren. Lena Reimanns Mutter hat vor zehn Tagen eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Sie kann uns sicherlich eine Haarprobe von ihrer Tochter besorgen«, entgegnete Laura, während sie unablässig die zierliche Nase des Leichnams fokussierte. »Woran ist sie denn gestorben?«
Dr. Herzberger holte tief Luft. »Aus diesem Grund habe ich Sie hergebeten. Die Tote weist, wie bereits am Fundort festgestellt, etliche alte und neue Verletzungen auf, die vermutlich durch Tritte, Schläge, Festhalten und Ähnliches verursacht wurden. Eine Rippe auf der rechten Seite ist gebrochen, aber daran ist sie nicht gestorben. Lena Reimann war jung und ansonsten kerngesund. Sie hätte wahrscheinlich ein langes Leben vor sich gehabt, wenn wir in ihrem Blut nicht Zyankali gefunden hätten.«
»Gift?«, fragte Laura verwundert. Der große, kräftige Mann auf den Videoaufnahmen hätte sein Opfer auf alle erdenklichen Arten töten können. Offenbar war er mit der Frau nicht sonderlich zimperlich umgegangen. Ein paar wuchtige Schläge mehr und er hätte sie umbringen können. Laura wiegte nachdenklich den Kopf. Warum benutzte er Gift? Giftige Substanzen wurden typischerweise von Frauen oder körperlich unterlegenen Personen eingesetzt. Sadistische Täter genossen es meist, ihr Opfer zu quälen. Hierzu hätte sie Lena Reimanns Mörder aufgrund der vielen Verletzungen auf alle Fälle gezählt. Aber sie wussten nicht, ob die älteren Verletzungen überhaupt vom Täter stammten.
»Zyankali ist ein schnell wirkendes Gift. Bei der verwendeten Dosis ist sie innerhalb weniger Minuten und ohne Schmerzen gestorben«, erklärte Dr. Herzberger am Ende seiner Ausführungen.
»Und wo bekommt man dieses Zeug her?«, wollte Max wissen. »Das liegt ja nicht in der Drogerie aus.«
Dr. Herzberger schüttelte den Kopf. »Nein. Aber jede Apotheke verkauft es, sofern Sie einen entsprechenden Nachweis Ihrer Qualifikation vorweisen. Für Ärzte beispielsweise ist es kein Problem, es zu beziehen. Manche Juweliere nutzen es zum Reinigen von Schmuckstücken. Offen gestanden ist es nicht sonderlich schwierig, an dieses Gift zu kommen.«
Max stöhnte. »Schade. Trotzdem überprüfen wir die umliegenden Apotheken und lassen uns die Listen mit den Verkäufen der letzten paar Wochen aushändigen.«
»Können Sie den Todeszeitpunkt einschätzen?«, fragte Laura und betrachtete Lena Reimann erneut.
Dr. Herzberger bedeckte den Körper der Toten mit einem weißen Tuch und zog sich die Gummihandschuhe aus.
»Ich schätze, dass sie maximal drei Tage tot ist. Ihr Körper wurde nach dem Tod umgelagert, das kann man deutlich an den Totenflecken erkennen. Sie hat lange Zeit auf dem Bauch gelegen, bis sie hinter dem Krankenhaus auf dem Rücken abgelegt wurde.«
»Er hat sie also vergiftet, noch eine Weile liegen lassen und ist dann mit ihr zum Krankenhaus gefahren, um sie loszuwerden«, fasste Laura zusammen und schluckte. »Und weil er vermutlich ein neues Opfer brauchte, hat er gleich die nächste Frau mitgenommen.«
Dr. Herzberger zog die Augenbrauen hoch. »Es gibt ein weiteres Opfer?«, fragte er und blätterte sofort in einer Liste. »Bei uns ist kein Neuzugang verzeichnet.«
»Ja, es wurde eine weitere Frau entführt. Sie lebt aber möglicherweise noch«, erklärte Laura. »Wir vermuten, dass der Täter seine Opfer eine Zeit lang am Leben lässt, bevor er sie tötet. Bei Lena Reimann waren es zehn Tage von ihrem Verschwinden bis zum Auffinden ihrer Leiche.«
»Ich habe übrigens bei der Toten keine Spuren von sexuellem Missbrauch festgestellt. Weder Spermaspuren noch Haare oder Fasern. Auch unter den Fingernägeln fanden sich keine fremden Hautzellen. Die Vagina und der Bereich ringsum weisen keine Verletzungen auf. Wir haben den Abstrich auch auf Rückstände von Kondomen überprüft. Nichts. Aber das gilt bloß für die letzten drei Tage. Sollte sie davor Geschlechtsverkehr gehabt haben, können wir es nicht mehr herausfinden. Zumindest nicht, wenn es nicht mit grober Gewalt zuging. Doch danach sieht es in diesem Fall nicht aus.«
»Wann hat sie sich die Rippe gebrochen?«, fragte Laura.
»Das ist schon länger her, schätzungsweise drei Wochen, vielleicht auch nur zwei. Die Verletzungen der Zeigefinger sind allerdings jüngeren Datums. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie von einem Hammer stammen.« Dr. Herzberger zog rasch einen Handschuh über und ergriff die rechte Hand des Opfers. »Sehen Sie hier, das ist ganz eindeutig der Abdruck eines Hammers.«
»Kann sie sich selbst verletzt haben?«, fragte Laura und spürte, wie sich ihr bei dieser Vorstellung die Nackenhärchen aufstellten.
Dr. Herzberger schüttelte den Kopf. »Davon gehe ich nicht aus. Die Schläge sind meines Erachtens gezielt gesetzt und passen auch vom Winkel her nicht zu einer Selbstverletzung.« Dr. Herzberger hob zur Demonstration den rechten Arm und ließ ihn wieder hinuntersausen. »Es fehlen die typischen Probeschläge. Wer sich selbst verletzt, geht in der Regel zunächst mal zaghaft an die Sache heran. Bei Menschen, die sich beispielsweise ritzen, kann man das sehr gut beobachten. Die ersten Schnitte sind kurz und oberflächlich, mit der Zeit werden sie immer länger und tiefer. Diese Hammerschläge sind alle mit ähnlicher Kraft erfolgt. Die Aufschläge liegen genau auf dem Knochen, sodass keine Fingergelenke getroffen wurden. Ehrlich gesagt sieht es so aus, als wäre Lena Reimann gezielt verletzt worden. Das war keine impulsive Aktion. Wer immer ihr diese Wunden zugefügt hat, kennt sich mit der menschlichen Anatomie und der Wirkung von Schlägen gut aus.«
»Sie meinen, er hat Erfahrungen im Foltern?«, fragte Max ungläubig.
»So weit würde ich nicht gehen«, erwiderte Dr. Herzberger. »Aber er wollte seinem Opfer keinen dauerhaften Schaden zufügen. Er hat ihr beide Zeigefinger gebrochen und dabei nicht ein einziges Gelenk zerfetzt. Mehr hat die Obduktion leider nicht ergeben.«
Laura kräuselte nachdenklich die Stirn. »Lena Reimann wurde also regelmäßig misshandelt. Sowohl vor als auch nach ihrer Entführung. Doktor Gebauer hat vermutet, dass ihr Lebensgefährte dahintersteckt. Es ist schon komisch, dass nicht er sie als vermisst gemeldet hat, sondern ihre Mutter.«
»Da gebe ich Ihnen recht.« Dr. Herzberger schaute auf die Uhr. »Tut mir leid. Ich muss los. Ich schicke Ihnen den Bericht so schnell wie möglich zu. Gestern Nacht gab es viele Neuzugänge und einige davon sind priorisiert.«
Er sprach nicht aus, was priorisiert bedeutete.
Das musste er auch nicht. Laura wusste, dass man in diesen Fällen den Verdacht eines Tötungsdelikts hatte.
Dr. Herzberger hastete aus dem Saal und ließ sie und Max mit der Toten allein.
»Lass uns die Mutter von Lena Reimann hierherbitten. Sie kann ihre Tochter identifizieren, eine DNS-Probe übergeben und uns vielleicht etwas zu ihrem Lebensgefährten erzählen«, schlug Laura vor.
Max war einverstanden und entfernte sich ein paar Schritte, um mit den zuständigen Kollegen zu telefonieren und eine Streife zu Lena Reimanns Mutter zu schicken. Laura warf einen letzten Blick auf die Frau, die in ihrem Leben so viel Gewalt erlebt hatte. Sie tat ihr schrecklich leid. Laura wandte sich ab und öffnete die Tür zum Flur. Sie hielt es keine Sekunde länger im Autopsiesaal aus.
Max hatte zu Ende telefoniert und folgte ihr.
Als sie wieder im Auto saßen, sagte er: »In der Zwischenzeit sollten wir mit den Krankenhausmitarbeitern sprechen, die mit den beiden Opfern Kontakt hatten.« Er wedelte mit einer Liste. »Ich habe einen Kollegen aus der Recherche gebeten, die Apotheken im Umfeld des Krankenhauses nach dem Verkauf von Zyankali abzufragen. Den Kreis können wir jederzeit erweitern.«
Laura nickte in Gedanken versunken. »Das mit dem Krankenhaus ist eine gute Idee. Ich wollte sowieso in die Akte von Lena Reimann schauen. Wir haben bisher noch gar nicht überprüft, wie sie ins Krankenhaus gekommen ist. Das gilt übrigens auch für die neue Entführte. Ich habe vorhin mit Doktor Gebauer gesprochen und um die Akten gebeten. Vielleicht kann sie uns nähere Auskunft geben. Der richterliche Beschluss ist gerade eingegangen.«
Die Fahrt bis zum Krankenhaus dauerte keine fünfzehn Minuten. In der restlichen Zeit schwiegen sie beide. Laura war froh, dass sie noch ein wenig Zeit gewonnen hatten, bevor sie mit Lena Reimanns Mutter sprechen mussten. Die Information der Angehörigen gehörte zu den schwierigsten in ihrem Job. Sie beneidete die zuständigen Polizisten nicht darum. Laura kannte niemanden, der das gerne tat. Sie selbst kam sich jedes Mal wie eine Verbrecherin vor, denn in dem Augenblick, in dem sie die unwiderrufliche Botschaft überbrachte, zerstörte sie das Leben eines Angehörigen oder mehrerer Angehöriger. Es würde nie mehr sein wie vorher. Der tiefe Graben, den der Tod hinterließ, konnte nicht zugeschüttet werden. Er fraß sich durch die Gedanken und Gefühle der Überlebenden und hinderte sie daran, je wieder vollkommene und unbelastete Freude zu empfinden.
Max bog auf den Parkplatz an der Hinterseite des Krankenhauses ein, der an die Stellfläche für die Müllcontainer grenzte. Im Gegensatz zum gestrigen Tag wirkte der Platz jetzt friedlich. Die Spurensicherung hatte ihre Zelte abgebrochen. Nur ein einzelnes Absperrband zeugte noch von der Toten, die hier vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden gefunden worden war. Laura stieg aus und wartete, bis Max den Wagen abgeschlossen hatte. Sie folgten dem gepflasterten Weg um das Krankenhaus herum und betraten das Gebäude durch die gläserne Eingangstür, die sich automatisch öffnete.
Schon nach wenigen Augenblicken wurde die Eingangstür der Notaufnahme aufgestoßen. Dr. Gebauer kam im Laufschritt herausgestürzt und nahm sie in Empfang.
»Da sind Sie ja. Ich habe leider wenig Zeit«, sagte sie mit zwei Akten in den Händen. »Haben Sie den richterlichen Beschluss dabei?«
Laura überreichte ihr das Dokument. »Selbstverständlich.«
»Das geht gleich zur Klinikleitung«, erwiderte Dr. Christine Gebauer. »Die machen mich sonst einen Kopf kürzer. Datenschutz und ärztliche Schweigepflicht werden bei uns ganz großgeschrieben.«
Laura nickte. »Ich weiß. Zum Glück hat der Richter schnell agiert. Danke, dass Sie unsere Ermittlungen so tatkräftig unterstützen. Das verschafft uns wertvolle Zeit.«
Dr. Gebauer winkte sie mit sich. »Kommen Sie, wir gehen ins Ärztezimmer.«
Laura und Max folgten der Oberärztin durch die kahlen Krankenhausflure. Sie bogen ein paarmal ab und gelangten schließlich in einen ruhigeren Trakt, in dem sich offenbar das Personal aufhielt. Dr. Gebauer öffnete eine Tür und bat ein paar Kollegen in dem Raum, sie allein zu lassen. Die jungen Ärzte erhoben sich augenblicklich. Laura und Max setzten sich mit Dr. Gebauer an den Tisch in der Mitte.
»Die inzwischen verstorbene Patientin hatte sich von selbst ins Krankenhaus begeben«, begann Dr. Gebauer ohne Umschweife zu erklären. »Christian Heller, ein Pfleger, der an dem Abend Dienst in der Notaufnahme hatte, nahm sie in Empfang und brachte sie in Untersuchungsraum Nummer vier. Ich habe die Patientin untersucht. Sie wies zahlreiche Verletzungen auf, die aus meiner Sicht durch Misshandlung entstanden, möglicherweise von ihrem Partner. Ich habe ihr geraten, Schutz in einem Frauenhaus zu suchen und Anzeige zu erstatten, doch davon wollte sie nichts wissen. Den Rest kennen Sie. Als ich dreißig Minuten später mit weiteren Untersuchungen fortfahren wollte, war sie weg. Offenbar ist sie mit diesem Mann verschwunden, mit dem ich sie in der Zwischenzeit kurz am Treppenhaus gesehen hatte.« Dr. Gebauer warf erst Max und dann Laura einen resignierten Blick zu. »Das hilft Ihnen jetzt auch nicht weiter, richtig? Leider habe ich keine Idee, wie man sie identifizieren könnte.«
»Wir kennen ihren Namen inzwischen«, entgegnete Laura. »Sie wurde von ihrer Mutter vor mehr als zehn Tagen als vermisst gemeldet. Ihr Name ist Lena Reimann.« Laura schob der Ärztin einen Zettel über den Tisch. »Die Daten brauchen Sie sicherlich für die Abrechnung. Da steht auch ihre Krankenversicherungsnummer drauf.«
»Danke«, sagte Dr. Gebauer überrascht. »Kennen Sie auch den Namen der anderen Frau?«
Dieses Mal antwortete Max: »Leider nein. In der Vermisstendatei ist sie noch nicht erfasst.«
Dr. Gebauer setzte sich kerzengerade auf. »Dann kann ich Ihnen vielleicht ein wenig helfen. Diese Frau wurde mit einem Rettungswagen eingeliefert. Sie hatte sich die Pulsadern auf der Toilette eines Fastfood-Restaurants aufgeschnitten. Ich habe den Sanitäter herausgefunden, der sie im Rettungswagen begleitet hat. Sein Name ist Karsten Böhmer. Bei dieser Tour war kein Arzt dabei. Sie wurde sofort in die Notaufnahme gebracht. Herr Böhmer hat heute Dienst. Sie können also gleich mit ihm sprechen.«
»Danke«, sagte Laura und notierte sich den Namen. »Wissen Sie, wer der Fahrer war und ob es einen zweiten Rettungshelfer gab?«
»Ja, ich habe das Dokument in die Akte gelegt. Dort stehen die Beteiligten. Der Fahrer ist übrigens Erik Krüger, der hat auch Lena Reimann über das Krankenhausgelände zum Röntgenzentrum gefahren. Wenn Sie mögen, schicke ich Karsten Böhmer jetzt zu Ihnen. Sie können gerne das Arztzimmer weiter nutzen.« Dr. Gebauer sprang auf. »Ich muss leider los. Die Visite wartet.« Sie verabschiedete sich und hastete hinaus.
Laura blieb mit Max sitzen.
»Merkwürdig«, murmelte Max. »Wer bringt sich denn in einem Fastfood-Restaurant auf der Toilette um?«
»Stimmt. Sie musste eigentlich von Anfang an davon ausgehen, dass sie schnell gefunden und vermutlich gerettet wird.« Laura blätterte in der Akte der Frau, die möglicherweise noch am Leben war. »Der Suizidversuch wäre sowieso schiefgegangen. Auch wenn sie stundenlang unentdeckt geblieben wäre, hätten die viel zu kleinen Schnitte an den Handgelenken nicht zum Tod geführt.«
Die Tür schnellte auf. Ein hochgeschossener, schlaksiger junger Mann stand unsicher auf der Schwelle.
»Sie wollten mich sprechen? Ich bin Karsten Böhmer«, sagte er, ohne sich zu rühren.
»Treten Sie ein und nehmen Sie Platz.« Laura winkte den Rettungsassistenten herein und lächelte ihm aufmunternd zu. Sie wartete, bis er sich gesetzt hatte.
»Ich bin Laura Kern vom Landeskriminalamt und das ist mein Partner Max Hartung. Wir haben erfahren, dass Sie vor zwei Tagen eine Frau nach einem Selbstmordversuch in einem Restaurant medizinisch versorgt und mit dem Rettungswagen in die Notaufnahme gebracht haben. Können Sie uns ein wenig mehr darüber erzählen? Uns interessiert zum Beispiel, ob Angehörige vor Ort waren oder ob Ihnen irgendetwas Wichtiges aufgefallen ist.«
Karsten Böhmer sah sie an. Sein Kehlkopf hob und senkte sich. »Ein Mitarbeiter des Restaurants hatte den Notruf gewählt. Wir sind sofort los. Das heißt, der Fahrer, ein Kollege vom Rettungsdienst, und ich. Die Frau hatte sich in der Toilettenkabine eingeschlossen, aber als wir ankamen, lag sie bereits auf dem Boden vor der Kabine. Das Personal hatte die Tür aufgehebelt und die Verletzte herausgeholt. Sie war ein wenig benommen, aber ansprechbar. An beiden Handgelenken blutete sie. Sie hatte versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Wir haben Druckverbände angelegt und sie auf einer Liege abtransportiert. Soweit ich mich entsinne, war da nur das Personal. Keiner von denen schien die Frau näher zu kennen. Es wollte sie auch niemand begleiten.«
»Hatte Sie eine Handtasche dabei? Oder Einkaufstüten? Können Sie sich erinnern?«
Die Augen des jungen Mannes huschten unruhig zwischen Laura und Max hin und her. Laura registrierte jede noch so kleine Zuckung in seinem Gesicht.
»Nein«, erwiderte er. »Oder doch … also … ja.«
»Was ja?«, fragte Laura betont freundlich.
Karsten Böhmer kratzte sich nervös hinterm Ohr. »Es war ein Versehen. Eigentlich war es mein Kollege. Ich hatte bloß vergessen, ihn zu erinnern.« Böhmer blickte unsicher zu Boden und holte tief Luft. »Sie hatte eine Handtasche dabei. Die liegt in unserem Aufenthaltsraum.«