13
K eine zwei Minuten später saßen sie im Auto auf dem Weg zu der angegebenen Adresse. Max stoppte vor einem Wohnblock, der sich ungefähr einen Kilometer vom Krankenhaus entfernt befand. Das Gebäude wirkte gepflegt, wenn auch nicht sonderlich einladend. In jedem Aufgang wohnten zehn Parteien. Die Wohnung von Erik Krüger lag im dritten Stock. Die Haustür stand offen. Erik Krüger schien allein zu wohnen, zumindest war nur sein Name auf dem Türschild angebracht. Aus der Wohnung drang laute Heavy-Metal-Musik.
Laura klingelte, doch niemand machte auf. Sie probierte es noch einmal und hämmerte dann gegen die Tür.
Endlich wurde die Musik leiser gedreht.
»Ich komme ja schon«, dröhnte eine tiefe Männerstimme.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und ein Mann mit dunklen Haaren in Jeans und T-Shirt sah sie überrascht an.
»Wir sind Laura Kern und Max Hartung vom LKA. Dürfen wir hereinkommen?« Laura zeigte ihren Dienstausweis.
Erik Krüger nickte und trat zur Seite. »Immer der Nase nach«, murmelte er und folgte ihnen in das völlig verqualmte Wohnzimmer.
»Das Krankenhaus hat uns mitgeteilt, dass Sie sich für heute krankgemeldet haben«, sagte Max und deutete auf den übergequollenen Aschenbecher. »Rauchen Sie immer so viel?«
Erik Krüger verzog das Gesicht und knurrte: »Ich brauchte mal eine Auszeit. Ansonsten bekomme ich in dem Laden noch einen Burn-out.« Er ließ sich in einen fleckigen Sessel fallen. »Setzen Sie sich. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir sind auf der Suche nach einer Handtasche, die Sie und Ihr Kollege Karsten Böhmer bei einem Einsatz vor zwei Tagen von einer Patientin mitgenommen haben. Die Tasche wurde noch nicht im Fundbüro abgegeben, und wir müssen dringend herausfinden, wie die Patientin heißt.«
Krüger kratzte sich am Kopf. »Sie meinen die mit den aufgeschnittenen Pulsadern?«
»Genau die«, bestätigte Max und legte ihm ein Foto der Entführten vor die Nase. »Wo ist die Tasche?«
Erik Krüger lehnte sich lässig zurück und richtete den Blick an die gelblich verfärbte Decke seines Wohnzimmers.
»Hat Karsten sie denn nicht?« In seiner Stimme lag etwas Listiges.
Laura mochte den Kerl nicht.
»Mit Ihrem Kollegen haben wir bereits gesprochen«, entgegnete sie, wobei sie versuchte, so wenig wie möglich zu atmen. Die Luft im Zimmer stank erbärmlich. »Er hat die Tasche zuletzt auf dem Tisch vor Ihrem Spind gesehen, und jetzt ist sie weg.«
»Weg?« Erik Krüger schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Jeder könnte sie genommen haben. Der Personalraum ist nie abgeschlossen. Also warum fragen Sie mich? Ich bin nur Aushilfsfahrer, vielleicht war es einer der Rettungssanitäter.«
»Hören Sie, wir brauchen diese Tasche«, sagte Max betont und beugte sich vor. »Sie haben ja sicherlich schon von der toten Frau auf dem Müllplatz gehört, oder?« Er zeigte ihm ein Foto von Lena Reimann.
Erik Krüger nickte. »Ich kenne sie, habe sie mal zum Röntgen gefahren.«
»Dann verstehen Sie, dass wir im Rahmen unserer Ermittlungen dringend auf Ihre Mithilfe angewiesen sind. Also machen Sie die Sache bitte nicht schlimmer, und sagen Sie uns, wo die Tasche ist.«
Erik Krüger schwieg noch immer. Er griff zu einer glühenden Zigarette, die auf einem Aschenbecher lag, und sog gierig an ihr.
Laura sah Krüger an der Nasenspitze an, dass er nicht reden wollte. Vermutlich hatte er die Tasche geklaut und wollte seinen Job nicht verlieren.
»Darf ich mal auf die Toilette?«, fragte sie und lächelte Krüger freundlich an.
»Na klar. Im Flur links«, antwortete er mit einer Kopfbewegung.
Im Flur blickte Laura sich um. Wo würde jemand wie Erik Krüger seine Beute verstecken? Sie öffnete die Tür zum Bad, ging jedoch nicht hinein. Stattdessen huschte sie zum nächsten Zimmer. Das Schlafzimmer war nicht besonders groß. An der rechten Wand befand sich ein Doppelbett, daneben ein Kleiderschrank und gegenüber ein Fernseher. Über einem Stuhl hingen ein paar Klamotten. Auf dem Boden davor entdeckte Laura eine Handtasche. Die rote Farbe lockte sie sofort an. Vielleicht war es die Tasche der entführten Frau. Sie versicherte sich kurz, dass Krüger ihr nicht gefolgt war, griff die Tasche und verschwand damit im Badezimmer.
Als Erstes untersuchte Laura das Portemonnaie. Es enthielt kein Bargeld. Sie zog eine Kreditkarte heraus und las den Namen: Eva Hengstenberg. Sie prägte sich den Namen ein und fand auch den Ausweis. Die Frau war fünfundzwanzig Jahre alt. Laura studierte das Foto. Es war definitiv die entführte Frau aus dem Krankenhaus. Wütend griff sie die Tasche und stürmte zurück ins Wohnzimmer.
»Hatte Eva Hengstenberg kein Bargeld dabei?«, fragte sie empört und hielt die Handtasche hoch.
Erik Krüger wurde bleich wie die Wand, vor der er hockte. »Woher … woher haben Sie die Tasche?« Er sprang auf. »Sie haben doch keinen Durchsuchungsbefehl. Sie dürfen nicht einfach hier herumschnüffeln.«
»Die Tasche lag im Bad«, log Laura, ohne rot zu werden. »Sie haben mir erlaubt, die Toilette zu benutzen. Aber Sie hätten uns bestimmt auch gleich sowieso von der Tasche erzählt, oder? Sie wollen sicher unsere Ermittlungen nicht blockieren.«
Erik Krüger nickte und presste wütend die Lippen zusammen.
»Ich wollte die Tasche heute früh ins Fundbüro bringen, aber es ging mir nicht gut. Ich hätte das morgen erledigt.«
»Aber eben haben Sie doch behauptet, dass Sie die Tasche nicht haben«, fuhr Max dazwischen.
Krüger antwortete nicht. Er sprang auf, riss die Balkontür auf und rannte hinaus. Der Mann schwang sich über die Brüstung des Balkons.
Laura konnte sich zwei, drei Sekunden lang nicht rühren, ebenso wenig Max.
»Mist, wir sind im dritten Stock«, stieß sie aus und stürmte auf den Balkon. Erst jetzt sah sie das Gerüst. Erik Krüger hangelte sich daran hinunter in den zweiten Stock. Er bewegte sich so geschickt und schnell, als hätte er das schon öfter gemacht. Laura kletterte über die Balkonbrüstung und betrat das Gerüst. Es wankte unter ihr.
»Kommen Sie zurück!«, rief sie und blickte in die Tiefe. Krüger hatte fast den Boden erreicht.
»Bleib hier«, befahl Max, der auf einmal hinter ihr stand und sie festhielt. »Das ist zu gefährlich. Lass uns durch die Wohnung gehen.«
Laura funkelte Max wütend an. »Lass mich los. Der Kerl entwischt uns!«
Doch Max hörte nicht auf sie. Er zog sie zurück zur Brüstung und hievte sie auf den Balkon. Laura wollte sich zuerst losreißen, sah dann aber, dass Krüger bereits über die Wiese lief.
»Wir schneiden ihm den Weg ab. Du nimmst die linke Seite und ich die rechte.«
Sie rannten durchs Wohnzimmer, das Treppenhaus hinunter und trennten sich auf der Straße. Laura sprintete um den Wohnblock herum, um zur Wiese auf der Rückseite des Gebäudes zu gelangen.
Max kam ihr dort entgegen.
»Hast du ihn?«, keuchte sie und blieb stehen. Max schüttelte den Kopf.
»Verdammt. Ich hätte hinterherklettern sollen«, fluchte Laura.
»Er war schon fast unten. Du hättest ihn nicht mehr gekriegt.«
»Mist«, fluchte Laura abermals und blickte sich um. »Wir müssen sofort eine Fahndung rausgeben. Er könnte der Mann auf den Videoaufnahmen sein. Vielleicht hat er die Frauen entführt und ermordet.« Sie informierte rasch einen Kollegen und studierte ratlos die Umgebung. Hinter dem Haus lag ein Parkplatz, an den sich ein weiterer Wohnblock anschloss.
»Lass uns die Straße absuchen, möglicherweise hat er sich hinter einem der Autos versteckt.«
Wieder teilten sie sich auf und liefen an den geparkten Autos entlang. Laura schaute in jede Lücke, allerdings ohne Krüger zu entdecken. Anschließend drehte sie eine Runde um den zweiten Wohnblock. Der Mann schien wie vom Erdboden verschluckt. Frustriert kehrte sie um.
Max überprüfte gerade ein paar Büsche, die im Kreis um drei große Müllcontainer wuchsen.
»Nichts«, stieß er aus, als Laura neben ihm stand. »Hast du die Fahndung rausgegeben?«
Laura nickte. »Glaubst du, Krüger ist unser Mann?«
Max wiegte den Kopf hin und her. »Ist gut möglich. Wir sollten uns auf jeden Fall in seiner Wohnung umschauen.«