16
» D u siehst absolut fantastisch aus«, schwärmte der Mann und musterte sie bewundernd. »Viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe.«
Er umfasste Evas Hand und führte sie zur Tür. Dieses Mal drängelte er sie nicht, sondern achtete darauf, dass sie in ihren High Heels nicht stolperte. Er lächelte sie zufrieden an. In seinen Augen lag so etwas wie Stolz. Für einen Moment spürte Eva nicht mal Angst, stattdessen genoss sie sogar seine Bewunderung. Doch dann vernahm sie erneut ein Geräusch. Ein Scharren oder Kratzen, so, als ob außer ihr noch jemand in einem dieser Zimmer gefangen wäre. Sie hielt kurz inne und lauschte.
»Ist alles okay?«, fragte ihr Begleiter. Seine Hand glitt hoch zu ihrer Schulter, um sie zu stützen.
»Ja … ja, alles bestens«, erklärte Eva und ging weiter. Sie hörte nichts mehr. Vielleicht irrte sie sich auch. Sie befanden sich in einem alten Haus. An jeder Ecke knarzten und knirschten die in die Jahre gekommenen Dielenböden. Sie ließ sich weiterführen in das Zimmer, in dem sie ihre erste Mahlzeit mit dem Fremden eingenommen hatte. Sie nahm Platz und roch den Duft von gebratenem Fleisch.
»Ich serviere heute ein leckeres Rinderfilet«, sagte der Mann weltmännisch und hob den Deckel von einer Warmhalteplatte. »Bitte schön. Rosa gebraten und absolut zart, dazu eine Rotweinsoße, Kroketten und Brokkoli mit gerösteten Mandeln.«
Eva staunte. »Ist das selbst gekocht?«
Er hob die Augenbrauen und betrachtete sie einen Moment lang kritisch. Dann zeigten sich zwei Grübchen auf seinen Wangen. »Selbstverständlich, liebe Eva. Verstehst du immer noch nicht, dass ich alles – und damit meine ich wirklich alles – für dich tun würde? Du bist hier, um ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben mit mir. Ich hoffe, es sagt dir zu.«
Seine Worte hinterließen Fragezeichen in ihrem Kopf. Was faselte er da bloß? Was für ein neues Leben und wieso ausgerechnet mit ihm? Sie dachte an Frank und auf einmal überkam sie die Sehnsucht nach ihm. Wie gerne hätte sie ein so romantisches Dinner mit ihm gehabt. Mit gedimmtem Licht, leuchtenden Kerzen, dunkelroten Servietten auf einer schneeweißen Tischdecke und silberglänzendem Besteck. Der Blick ihres Entführers ruhte immer noch auf ihr. Sie nahm eine winzige Falte auf seiner Stirn wahr und schob den Gedanken an Frank sofort beiseite. Als ob er sie wie ein offenes Buch lesen könnte, verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln.
»Also, Eva, wie fühlst du dich in deinem neuen Zimmer? Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gleich gegeben habe. Ich hätte natürlich wissen müssen, dass du eine Frau mit gewissen Ansprüchen bist.«
Seine geschwollene Ausdrucksweise hinterließ eine Gänsehaut auf ihrem Körper.
»Vielen Dank. Mir gefällt das Zimmer wirklich sehr gut.« Sie senkte den Blick, damit er ihre Lüge nicht bemerkte. Er ging zu einer Kommode hinüber und stellte Musik an. Eine Ballade von Beyoncé, ihrer Lieblingssängerin. Eva liebte dieses Lied. Ob er davon wusste?
In seiner Miene spiegelte sich eine Mischung aus Überheblichkeit und Erleichterung.
»Darf ich bitten? Nur ein kleiner Tanz vor dem Essen.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
Eva erstarrte. Sie wollte nicht mit ihm tanzen, aber sie traute sich auch nicht, abzulehnen. Sie überließ ihm ihre Hand und machte ein paar ungelenke Schritte. Er roch eigenartig, nach einer Mischung aus altmodischem Aftershave und Mottenpulver. So, als hätte er seinen Anzug gerade aus dem Schrank seines Urgroßvaters gefischt. Sie wandte das Gesicht zur Seite und betrachtete das Zimmer, während er sie mit seinen kräftigen Armen herumschwang. Im Vergleich zum letzten Mal hatte sich im Zimmer nichts verändert. In der Mitte befand sich der Tisch, darüber hing ein riesiger Kronleuchter, an der Wand stand eine Kommode, ansonsten war der Raum leer. Irgendetwas kam ihr trotzdem merkwürdig vor, genau wie beim ersten Mal. Und plötzlich fiel es ihr auf. Es gab überhaupt keine Fenster.
»Wo bin ich?«, fragte sie ängstlich, doch ihr Tanzpartner antwortete nicht. Er schwang sie herum wie im Rausch. Langsam wurde ihr schwindlig. Ihre Füße schmerzten wegen der hohen Absätze. Der Geruch des Mottenpulvers setzte sich in ihrer Nase fest. Alles drehte sich. Ihr wurde übel.
»Ich will hier raus«, schluchzte sie abrupt und brach in Tränen aus. »Ich möchte nach Hause, jetzt gleich.«
Der Mann ließ sie überrascht los.
Eva taumelte. Sie knickte mit dem Knöchel um und fiel auf den muffigen Teppich. Ihr war schrecklich übel. Der Fremde schwankte. Nein, er drehte sich. Erst ein paar Sekunden später begriff sie, dass er sich überhaupt nicht bewegte, sondern dass einfach alles um sie herumkreiste. Der Mann, der Tisch, das Zimmer. Sie schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder.
Der Mann war weg.
Schlagartig hörte der Schwindel auf. Sie sah sich hektisch um. Die Tür stand sperrangelweit offen. Eva wusste, dass es linker Hand zu ihrem Zimmer ging und in der anderen Richtung zur Treppe. Ohne nachzudenken, stürmte sie auf den Stöckelschuhen hinaus, rannte nach rechts und jagte die Stufen hinunter. Ein Absatz verhakte sich im Teppich. Sie stürzte und fuchtelte mit den Händen in der Luft. Irgendwie bekam sie das Geländer zu fassen und krallte sich im letzten Moment fest. Der Schuh flog vorwärts und polterte die vielen Stufen hinab. Eva schüttelte den anderen Schuh ab und rannte weiter. Sie musste zur Haustür. Es war vielleicht ihre einzige Chance. Liebe Güte! Vor zwei Tagen wollte sie sich noch umbringen und jetzt lief sie um ihr Leben. »Papa. Hilf mir!«, flüsterte sie und nahm die letzten Stufen.
Sie wusste, dass ihr im Moment niemand helfen würde. Sie war auf sich selbst gestellt. Auf einmal wollte sie leben. Im unteren Geschoss erblickte sie eine riesige Eichentür. Schwere Riegel lagen über dem massiven Holz.
Daneben stand der Mann. Er lächelte nicht. Er blickte ihr grimmig entgegen und in der Hand hielt er einen Hammer.