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D ie Schultern des Mannes bebten so fürchterlich, dass Laura sie am liebsten festgehalten hätte. Sie bedauerte Eva Hengstenbergs Vater zutiefst. Er saß zusammengesunken auf einem Stuhl in der Küche seiner Tochter und klammerte sich an einem Glas Wasser fest. Guido Hengstenberg war vom Leben gezeichnet. Durch sein Gesicht gruben sich tiefe Falten. Die zerzausten grauen Haare auf seinem Kopf standen stumpf in alle Richtungen ab. Guido Hengstenberg hatte bereits vor zwanzig Jahren seine Frau, den Sohn und das Haus bei einem Brand verloren. Nur er und Eva waren übrig geblieben, hatten jahrelang mit Depressionen gekämpft und nie mehr richtig ins Leben zurückgefunden. Guido Hengstenberg hatte nicht der Vater sein können, den die kleine Eva nach dem Feuer gebraucht hätte. Das Mädchen lebte zeitweise bei einer Pflegefamilie, weil der Vater in der Psychiatrie behandelt wurde. Er wusste, dass er eine Teilschuld an Evas Selbstmordversuch trug. Guido Hengstenberg weinte hemmungslos wie ein kleines Kind. Immer wieder las er Evas Abschiedsbrief und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Ich hatte keine Ahnung«, murmelte er und schniefte in sein Taschentuch. »Ich dachte, sie wäre mit Frank glücklich. Wenn ich gewusst hätte, dass er sie schlägt …« Seine Stimme brach. Er vergrub das Gesicht in den Händen und tupfte sich die Tränen von den Wangen. »Frank wohnt nur ein paar Straßen weiter. In der letzten Woche waren wir drei zusammen essen. Ich hätte sie erst übermorgen wieder getroffen. Telefoniert haben wir nicht oft, aber wir sehen uns jede Woche, immer sonntags. Frank hat mir überhaupt nicht gesagt, dass Eva verschwunden ist.«
Während Laura sich die Adresse von Frank Kahlau aufschrieb, holte Max Fotos der beiden toten Frauen aus der Tasche und legte sie vor Guido Hengstenberg hin.
»Kennen Sie diese Frauen?«, fragte er und wartete geduldig, bis Evas Vater sich so weit beruhigt hatte, dass er wieder sprechen konnte.
»Die da kommt mir irgendwie bekannt vor«, murmelte der Mann und deutete auf Lena Reimann. »Aber ich kenne ihren Namen nicht.« Guido Hengstenberg schloss die Augen. »Warten Sie.« Er sprang auf und lief aus dem Zimmer. Nach einer Weile kam er mit einem Fotoalbum in der Hand zurück.
»Eva hat jedes Jahr so eine Yogareise nach Indien gemacht.« Er schlug das Album auf und blätterte darin. »Hier ist es.« Er drehte das Album herum, sodass Laura und Max ein Gruppenfoto sehen konnten. Elf junge Frauen lächelten vor einem uralten Baum in die Kamera. Eva Hengstenberg stand in der Mitte der Gruppe, während sich Lena Reimann ganz links außen befand.
Laura blickte erstaunt auf. »Und Sie können sich an diese Frau nur aufgrund dieses Fotos erinnern?«
Guido Hengstenberg nickte eifrig. »Das ist gar kein Problem. Dieses Foto steht bei mir zu Hause auf dem Schreibtisch. Eva hat es mir geschenkt und extra für mich vergrößern lassen. Sie hat mir zu jeder ihrer Freundinnen etwas erzählt. Yoga ist ihre große Leidenschaft. Es bringt ihr Frieden.«
Laura betrachtete die anderen Teilnehmerinnen. Die unbekannte Tote war nicht unter ihnen. Aber immerhin hatten sie jetzt eine Verbindung zwischen Lena Reimann und Eva Hengstenberg. Sie fragte sich, warum Lena Reimanns Mutter Eva auf den Fotos nicht erkannt hatte. Vermutlich hatte sie noch weniger Einblick in das Leben ihrer Tochter gehabt, als sie zugeben wollte. Laura machte mit ihrem Smartphone ein Foto von dem Gruppenbild.
»Geht Eva regelmäßig zum Yoga?« Laura gab Herrn Hengstenberg das Fotoalbum zurück.
»Soweit ich weiß, jeden Mittwoch und in letzter Zeit manchmal auch freitags.« Er klappte das Album zu und legte es auf den Schoß.
»Max, was meinst du, hätten die Prellungen nicht den anderen beim Yoga auffallen müssen?«
Max schob die Unterlippe vor. »Das habe ich mich auch gerade gefragt. Ich kann gar nicht glauben, dass Lena Reimann einen Yogakurs besucht hat. Das passt nicht zu den Aussagen ihrer Mutter.«
Laura stimmte Max zu. Streng genommen hatte Lena Reimanns Mutter Milan Zapke als eifersüchtigen Kontrollfreak dargestellt. Dass Lena Reimann unter diesen Umständen einen Kurs besuchen und dazu noch eine ganze Woche allein mit der Gruppe wegfahren durfte, erschien auf den ersten Blick merkwürdig.
»Kennen Sie den Namen des Yogastudios?«, erkundigte sich Max und ergriff einen Stift und sein Notizbuch.
Doch Guido Hengstenberg schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid. Es ist aber in der Nähe. Sie braucht nur fünf Minuten mit dem Fahrrad dorthin.«
»Ist nicht schlimm. Wir finden es heraus«, erwiderte Max. »Soweit wir wissen, arbeitet Ihre Tochter seit knapp einem Jahr als Aushilfskraft in einer Drogerie. Gab es dort irgendwelche Spannungen? Hatte sie Schwierigkeiten mit Kollegen oder Kunden?«
»Nein. Davon hat sie nichts erzählt. Ich hatte den Eindruck, der Job gefällt ihr. Sie überlegte sogar, ihre abgebrochene Ausbildung dort abzuschließen.«
Dennis Struck von der Spurensicherung steckte den Kopf zur Wohnzimmertür herein. »Wir haben da was auf dem Computer gefunden.« Er winkte Laura und Max mit sich.
»Wenn Sie uns kurz entschuldigen«, sagte Laura zu Herrn Hengstenberg und erhob sich.
Der Laptop lag im Schlafzimmer auf dem Bett. Der Raum maß höchstens acht Quadratmeter. Auf dem Bildschirm war ein Internetbrowser geöffnet.
»Das Gerät ist nicht passwortgeschützt, sodass wir die gesamte Kommunikation überprüfen konnten«, erklärte Dennis Struck. »Eva Hengstenberg gehört einer Selbsthilfegruppe an und hat jemandem vor ein paar Tagen von ihren Selbstmordgedanken berichtet. Lesen Sie selbst.«
Laura studierte die Zeilen, die Eva mit dem Leiter der Gruppe geschrieben hatte. Laura musste den Satz von Nils Vehling zweimal lesen, um ihn zu glauben.
Nils Vehling: Körperlicher Schmerz kann einem starken Geist nichts anhaben. Lass dich nicht vom Schmerz leiten.
Eva Hengstenberg: Vielleicht ist es besser, diese Welt einfach hinter mir zu lassen . Auf der anderen Seite könnte ich wieder frei sein.
Nils Vehling: Ich kann dir helfen, den Schmerz als Teil deiner selbst anzunehmen. Komm doch gleich bei mir vorbei.
Eva Hengstenberg: Ich überlege es mir.
Laura schaute aufs Datum und auf die Uhrzeit. Knapp eine Stunde nach dieser Konversation hatte Eva Hengstenberg sich die Pulsadern in dem Fastfood-Restaurant aufgeschnitten. Sie war an diesem Tag also nicht zu ihrem Gruppenleiter gefahren.
»Was ist das denn für ein komischer Typ«, stieß Max aus, der ihr über die Schulter schaute.
»Warte mal«, sagte Laura und rief das Gruppenfoto der Yoga-Gruppe auf ihrem Smartphone auf.
»Habe ich es mir doch gedacht. Das ist derselbe Mann.« Sie tippte auf das Profilbild im Internet. »Nils Vehling leitet nicht nur diese Selbsthilfegruppe. Er ist offenbar eine Art Yoga-Guru. Wir müssen mit ihm sprechen.«
An Dennis Struck gewandt fragte sie: »Gibt es auch eine Konversation zwischen Nils Vehling und Lena Reimann?«
Struck verneinte. »Keine öffentliche. Aber vielleicht gelingt es Simon Fischer noch, Lena Reimanns Passwort für ihren Computer zu knacken. Dann könnten wir nachsehen.«
»Haben sich Lena Reimann und Eva Hengstenberg untereinander ausgetauscht?«, wollte Max wissen.
»Dazu habe ich noch nichts entdeckt. Sieht so aus, als wäre die Beziehung der beiden eher oberflächlicher Natur gewesen«, erklärte Struck. »In ihrem Kalender steht eine Verabredung zum Kaffee, die ist allerdings schon acht Wochen her.« Er klickte auf das Icon und zeigte ihnen den Termineintrag, der jedoch nicht mehr hergab als die Uhrzeit und den Namen.
»Haben Sie Evas Handy gefunden? Es war nicht in ihrer Handtasche.«
Struck zuckte mit den Schultern. »Bisher ist es nicht aufgetaucht.«
Laura fluchte leise. In diesem Moment klingelte ihr Telefon. Es war Joachim Beckstein. Beunruhigt ging sie ran.
»Kommen Sie beide sofort ins Revier. Wir haben hier eine neue Entwicklung.«