24
E va hielt immer noch den Atem an, aber sie presste die Ohren nicht mehr an das Heizungsrohr im Badezimmer. Stattdessen sprang sie auf und blickte angsterfüllt zur Tür.
Es klopfte an der Zimmertür. Jemand hämmerte mit den Fäusten dagegen. Eva stürmte zum Himmelbett und setzte sich kerzengerade darauf. Jeden Moment würde der Mann hereinkommen. Sie ordnete die Haare und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Er durfte auf keinen Fall misstrauisch werden. Hoffentlich hatte ihr Entführer nicht gehört, wie sie nach Paula gerufen hatte. Ihr wurde ganz schwarz vor Augen. Die arme Paula. Vermutlich antwortete sie nicht mehr auf ihre Rufe, weil er sie bestraft hatte. Ihr verletzter Finger schmerzte immer noch heftig. Das Fleisch unter dem Verband fühlte sich heiß an. Es pochte im Rhythmus ihres Herzens. Wahrscheinlich hatte sie Fieber.
»Bist du da?«
Eva wagte kaum zu atmen. Sie spähte Richtung Zimmertür, unfähig, sich zu rühren.
»Hallo?«
Die Türklinke senkte sich ein Stück.
»Verdammt, es ist abgeschlossen.«
Evas Gehirn konnte nicht mehr zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden. War das Paula vor der Tür oder gehörte das zu seinen Tricks? Sie kannte das von Frank.
Wieder hämmerte es gegen die Tür.
»Eva?«
Endlich begriff sie, dass es wirklich Paula sein musste. Es war ihre Stimme. Eva stürzte mit zitternden Knien zur Tür.
»Paula?«
»Ja. Ich hatte schon Sorge, ich hätte das falsche Zimmer erwischt. Warum hat er dich eingeschlossen?«
»Ich … ich habe versucht wegzulaufen«, stotterte Eva. »Ich kann gar nicht glauben, dass du auch hier bist.« Schlagartig wurde ihr klar, warum Paula letzte Woche nicht im Yogakurs erschienen war. Was ging hier nur vor sich?
»Geht es dir gut?«, schluchzte sie und lehnte sich an die Tür.
»Hör zu, wir haben keine Zeit für Erklärungen. Wir müssen uns beeilen. Ich habe einen Weg raus gefunden.« Paula trat gegen die Tür.
Eva zuckte vor der Wucht zurück. Die ganze Wand vibrierte, doch das Schloss hielt.
»Verdammt! Weißt du, wo er die Schlüssel haben könnte?«
»Nein, keine Ahnung.« Eva konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. »Warst du denn nicht im Keller eingesperrt?« Sie kniete sich hin und schaute durchs Schlüsselloch.
Paula machte ein paar Schritte rückwärts und nahm Anlauf.
Eva ging auf Abstand.
Wumm!
Die Tür hing bombenfest in den Angeln.
»Mist!«, fluchte Paula.
»Wie bist du denn nun rausgekommen?«, fragte Eva erneut. Sie hörte, wie Paula sich keuchend setzte.
»Er hat mir ein paar Butterbrote hingestellt. Mein rechtes Handgelenk war mit Handschellen an die Heizung gekettet. Sie saßen ganz locker. Ich habe die Butter genommen, mein Handgelenk eingefettet und so lange gezogen und gezerrt, bis ich mich befreien konnte. Die Kellertür war offen und der Kerl scheint im Moment nicht da zu sein.« Paula schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort: »Hör zu, Eva. Ich werde jetzt die Polizei holen. Ich beeile mich. Versprochen. Es hat keinen Sinn, länger gegen diese verdammte Tür zu treten. Wenn der Kerl zurückkommt, ist die Chance vertan.«
»Aber ist die Haustür denn offen?« Eva sah den Mann vor sich, wie er dastand und sie wütend anfunkelte.
»Keine Ahnung. Ich wollte aus einem Fenster klettern. Drück mir die Daumen und halte durch!«
»Paula?«, schluchzte Eva, die sich plötzlich wieder schrecklich allein fühlte. Sie hatte noch so viele Fragen an sie. Wie lange war sie schon hier? Was hatte dieser Mann ihr alles angetan? Warum hatte er sie in den Keller gesperrt? Doch Paula antwortete nicht mehr. Sie war weg.
Eva ließ sich gegen die kühle Zimmerwand sinken. Ihr Blick fiel auf das Tablett mit dem Essen. Auch sie hatte Butterbrote bekommen. Der Mann hatte bereits seit einer Ewigkeit nicht mehr nach ihr gesehen. Ob er überhaupt wiederkam? Was, wenn sie hier drinnen elendig verhungerte? Aufgeschreckt zählte sie die Brotscheiben. Fünf Stück, ein paar Scheiben Salami und ein bisschen Käse. Eine Wasserflasche, die noch beinahe voll war, und ein grüner Apfel. Drei, vielleicht vier Tage würde sie damit klarkommen. Wasser konnte sie auch aus dem Hahn im Badezimmer trinken. Aber was dann? Würde Paula es schaffen, bis dahin die Polizei zu alarmieren? Vermutlich schon. Die könnten viel eher hier sein. Womöglich bereits innerhalb weniger Stunden.
Und falls Paula es nicht schaffte?
Plötzlich spürte Eva wieder das schmerzhafte Pochen an ihrem zertrümmerten Finger. Was, wenn sie eine Blutvergiftung bekam?