25
H inter Lauras Stirn arbeitete es. Ihre Wangen fühlten sich ganz heiß an. Trotzdem nahm sie einen Schluck Kaffee und schloss genüsslich die Augen.
»Die Nacht war viel zu kurz«, jammerte Max und lehnte den Kopf zurück. Sie standen vor einer roten Ampel und waren auf dem Weg zum Yoga-und-Leben -Studio. Parallel wurden im LKA die Lebensgefährten von Eva Hengstenberg und Lena Reimann befragt. Eine Streife versuchte seit dem frühen Morgen, Sabrina Habich zu kontaktieren. Zudem sollten die Kollegen herausfinden, in welchem Frauenhaus sie sich zuvor aufgehalten hatte. Erik Krüger saß in seiner Zelle. Der Anwalt hatte sich bereits angekündigt. Doch sie würden Krüger ohnehin am Abend entlassen, weil eine Zivilstreife jeden seiner Schritte verfolgen sollte.
»Wir wissen, dass Erik Krüger drei der Opfer kannte. Lena Reimann, die tot vor den Mülltonnen des Krankenhauses gefunden wurde, Eva Hengstenberg, die hoffentlich noch am Leben ist, und Sabrina Habich, das neueste Opfer.« Laura stellte den Thermobecher im Halter ab und malte ein paar dicke Linien zwischen dem Täter und den Frauen auf das Blatt auf ihrem Schoß.
»Richtig«, bestätigte Max und bog links ab. »Und dann wäre da unsere unbekannte Tote, die ungefähr drei Wochen vor Lena Reimann getötet wurde. Das ist definitiv nicht Sabrina Habich.«
Laura nickte und zeichnete ein krakeliges Fragezeichen, das sie anschließend einkreiste.
»Es gibt keine Vermisstenanzeige und auch sonst nichts. Ihre Leiche wurde schon vor drei Wochen gefunden. Das ist echt merkwürdig. Irgendjemand muss sie schließlich vermissen.« Laura malte den Kreis noch ein wenig dicker und blickte zu Max.
»Auch wenn eine Prostituierte verschwindet, müsste das doch auffallen, oder?«
Max zuckte mit den Achseln. »Es gibt tausend Gründe, warum nicht mal ihr Zuhälter etwas tut. Sie könnte illegal im Land sein, vielleicht wollte er sie einfach loswerden.« Max bremste vor der nächsten Ampel. »Es verschwinden jedes Jahr so viele Prostituierte.«
Laura seufzte und legte den Zettel weg. »Was hältst du von Erik Krüger? Glaubst du, er könnte hinter diesen ganzen Morden stecken?«
Max schob nachdenklich die Unterlippe vor und schwieg einen Moment. »Möglicherweise«, erwiderte er schließlich. »Er ist unsere beste Spur bisher. Allerdings scheint er die unbekannte Tote nicht zu kennen, sofern dein Trick heute Nacht erfolgreich war.«
Laura lächelte. »Und ich dachte schon, du hättest es nicht mitbekommen.«
Max stupste sie an der Schulter an. »Ich weiß, dass du gerne diese NLP-Methoden anwendest. Wenn es funktioniert hat, kann Krüger nicht der Täter sein.«
»Da hast du recht«, murmelte Laura. NLP stand für Neuro-Linguistisches Programmieren. Die Augenbewegungsmethode, die dieser Technik zugrunde lag, sollte die Wahrheit von Lügen unterscheiden. Blickten die Menschen nach oben links, griffen sie eher auf Erinnerungen zurück, anderenfalls bemühten sie ihre Fantasie. Die Methode war allerdings alles andere als sicher und Erik Krüger hatte gerade einmal zwei Fragen beantwortet.
»Routinemäßig stehen ja auch die Lebensgefährten von Lena Reimann, Eva Hengstenberg und Sabrina Habich auf der Liste der Verdächtigen. Und dieser Yoga-Guru kommt mir ebenfalls merkwürdig vor. Er kannte mindestens zwei der Opfer. Wir werden gleich schlauer sein.« Max parkte den Wagen am Straßenrand. Sie sprangen gleichzeitig aus dem Auto und steuerten auf ein quadratisches, weiß verputztes Gebäude mit großen Fenstern zu. Das Yoga-und-Leben -Studio machte seinem Namen alle Ehre. Zahlreiche lachende Sonnensymbole zierten die Ränder der Glasscheiben. Laura öffnete die Tür und trat zuerst ein. Sie gelangten in einen hellen, freundlichen Flur, an dessen Ende eine junge Frau hinter einem gelben Tresen saß. Sie lächelte Laura und Max entgegen, als sie näher kamen, und ihr Pferdeschwanz wippte ein wenig, als sie zum Gruß nickte.
»Willkommen bei Yoga und Leben . Wie kann ich euch helfen?«
Laura legte ihren Dienstausweis auf den Tresen. »Wir sind vom LKA Berlin. Ich hatte vorhin angerufen. Wir müssen dringend mit Nils Vehling sprechen.«
»Da sind ja die Herrschaften!« Eine tiefe Stimme unterbrach sie. Ein drahtiger Mann erschien in der Tür hinter dem Tresen. Nils Vehling trug ein weißes Shirt samt Jogginghose und einen grünen Seidenmantel mit bunten asiatischen Mustern.
»Danke, Sarah. Wir sind verabredet.«
Er neigte den Kopf und winkte Laura und Max mit sich. Nils Vehling führte sie in einen Raum, in dem nur drei Yogamatten auf dem Boden lagen. Als er Lauras Blick bemerkte, sagte er: »Wir halten jegliche Ablenkung von uns fern. Bei der Meditation kommt es darauf an, ganz im Hier und Jetzt zu sein.« Er lächelte, wobei seine Augen wachsam blieben.
Laura stellte sich und Max noch einmal kurz vor. Dann holte sie das Gruppenfoto, das Eva Hengstenbergs Vater ihnen gegeben hatte, hervor.
»Im Rahmen unserer Ermittlungen sind wir auf diese Gruppe von Frauen gestoßen. Können Sie uns mehr zu diesen Personen erzählen?«
Nils Vehling studierte das Bild und nickte schließlich. »Das ist meine Fortgeschrittenenklasse. Wir unternehmen jedes Jahr eine Fahrt nach Indien, um dort Yoga und Meditation zu praktizieren.« Er musterte Laura durchdringend. »Worum genau geht es denn?«
»Zuerst benötigen wir die Namen und Adressen aller Frauen auf dem Foto.« Laura wich seiner Frage aus.
Nils Vehlings Blick wurde bohrender. Mehrere Sekunden lang breitete sich ein bedrückendes Schweigen aus. Laura konnte damit umgehen.
Nils Vehling offensichtlich auch. Er zeigte keinerlei Stressreaktionen. In aller Ruhe fing er an, die Namen der abgebildeten Frauen aufzuzählen.
»Die Adressen gibt Ihnen Sarah von der Anmeldung.« Erneut richtete er seine leuchtend blauen Augen auf Laura.
Es kam ihr vor, als könnte er direkt in ihre Seele schauen. Unwillkürlich fuhr sie mit der rechten Hand hoch zum Schlüsselbein. Sie verkniff es sich gerade noch rechtzeitig, über die darunterliegenden Narben zu streichen. Sie trug wie jeden Tag eine hochgeschlossene Bluse, und das, obwohl draußen die Sonne strahlte und beinahe Hochsommer herrschte. Laura konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Nils Vehling zu wissen schien, was sie unter ihrer Kleidung verbarg. Unangenehm berührt wandte sie sich ab und betrachtete die kahlen Wände des Raumes. Ihr Puls beschleunigte sich, weil sie spürte, dass Vehling sie immer noch ansah.
»Einer meiner Lieblingssätze lautet: Der Schmerz kann den Geist nicht besiegen«, sagte Vehling aus heiterem Himmel.
Lauras Blick schnellte zurück zu ihm.
Er starrte sie nach wie vor an. Aber es lag so etwas wie Anerkennung in seinen Augen.
Endlich sah er zu Max hinüber.
»Meine Fortgeschrittenengruppe ist keine reine Yogagruppe, eher eine Art Therapie- oder Selbsthilfekurs. Es handelt sich um Frauen, die diverse Schwierigkeiten in ihrem Leben zu bewältigen haben und bei mir Rat und Hilfe suchen.«
»Wann haben Sie Eva Hengstenberg zuletzt gesehen?« Laura zückte ihren Notizblock und sah Vehling fragend an.
»Das müsste inzwischen fast eine Woche her sein.«
»Welche Probleme hat sie denn genau und kennen Sie Eva gut?«
Vehling nickte. »Sie hat permanent Streit mit ihrem Freund. Wir pflegen ein sehr vertrauliches Verhältnis. Ich stehe ihr immer mit Rat und Tat zur Seite.«
»Können Sie sich vorstellen, dass sie selbstmordgefährdet ist?«
Vehling winkte ab. »Nicht mehr oder weniger als jeder andere. Ab und an hat sie eine schlechte Phase. Nichts Ernstes.«
»Sie wissen, dass Eva Hengstenberg versucht hat, sich das Leben zu nehmen?« Max unterbrach ihn unwirsch. »Haben Sie sich nicht gewundert, dass Frau Hengstenberg nicht zu Ihnen kam, so wie vorgeschlagen?«
Nils Vehling hob erstaunt die Augenbrauen. »Haben Sie mit Eva gesprochen?«
»Beantworten Sie doch bitte die Frage«, forderte Laura ihn auf. Irgendetwas stimmte mit diesem Mann nicht. Er versuchte offensichtlich, sie auszuhorchen.
»Nun, sie hat Probleme angedeutet, aber ich fand es nicht außergewöhnlich. Sie reagiert oft sehr impulsiv, insbesondere nach einem Streit mit ihrem Lebensgefährten«, erklärte Vehling. »Und dass sie meine Einladung nicht angenommen hat, ist doch ihre Sache. Ich dachte, sie hätte sich wieder mit ihrem Freund vertragen. Sie hat Rat bei mir gesucht und ich habe geholfen.«
Laura hätte Vehling am liebsten gefragt, wie sein Rat denn aussähe, aber sie verkniff sich die Frage. Es war irrelevant, und außerdem wussten sie aus dem Chatverlauf, was Vehling Eva Hengstenberg empfohlen hatte.
»Wo waren Sie am Abend vor fünf Tagen?«, fragte sie stattdessen.
»War das der Tag, an dem ich Eva gebeten hatte, zu mir zu kommen?«
Laura nickte knapp.
Nils Vehling rieb sich das Kinn. »Da war ich zu Hause.«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Ich lebe allein. Vielleicht hat mich einer der Nachbarn gesehen. Ich bin gegen acht Uhr abends vom Studio losgefahren.«
»Hat jemand aus dem Studio mitbekommen, wann Sie abgefahren sind?«
»Nein, wie gesagt, es war bereits acht. Wir schließen um sechs.«
»Sie haben also keine Zeugen«, stellte Laura fest und tippte auf das Foto. »Können Sie uns etwas zu Lena Reimann erzählen?«
Vehlings rechte Augenbraue zuckte in die Höhe. »Lena war seit ungefähr zwei Wochen nicht mehr hier. Ich kann sie nicht erreichen und sie ruft mich auch nicht zurück.« Er leckte sich kurz über die Lippen. »Ich dachte, sie hätte keine Lust mehr auf die Gruppe. Es kommt häufiger vor, dass Teilnehmer abbrechen oder für längere Zeit aussetzen.«
Laura überlegte, ob sie Vehling über Lena Reimanns Tod informieren sollte. Sie warf Max einen Blick zu.
Der schüttelte unmerklich den Kopf.
»Wurde Lena Reimann vielleicht von ihrem Lebenspartner misshandelt?«, fragte Laura.
Nils Vehling tippte auf ein paar Gesichter auf dem Foto. »Diese sieben Frauen hatten mit Gewaltproblemen in der Partnerschaft zu kämpfen. Ich habe versucht, ihnen klarzumachen, dass Gewalt auch ein ungeeigneter Ausdruck von Liebe sein kann. Jemand, der uns nicht kümmert, wird ignoriert. Wut ist ein starkes Gefühl, und man richtet es auf Menschen, die einem wichtig sind. Wie gesagt, Schmerz kann den Geist nicht besiegen. Schon im Mittelalter haben die Mönche sich selbst gegeißelt, um Gott näher zu sein. Sie fühlten sich erhöht, weil sie über dem Schmerz standen. Der Geist kann jede körperliche Empfindung ausschalten, wenn wir nur hart genug daran arbeiten. Denken Sie an Menschen, die über glühende Kohlen oder messerscharfe Spitzen gehen. Sie haben ein Level erreicht, auf dem der körperliche Schmerz keine Rolle mehr spielt.« In Vehlings Augen glitzerte es.
Laura konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Vordergründig schien er tatsächlich seinen Schülerinnen helfen zu wollen. Aber sie hatte erhebliche Zweifel, ob seine Ideen nicht mehr Schaden als Nutzen anrichteten.
»Was ist mit den anderen Reiseteilnehmerinnen? Waren sie alle beim letzten Kurstermin da?«, fragte sie und räusperte sich, weil ihre Stimme plötzlich ganz heiser war. »Und wann hat er stattgefunden?«
»Wir haben uns vor zwei Tagen gesehen. Lena und Eva waren nicht da und Paula auch nicht.« Er tippte auf eine zierliche Frau mit langen dunklen Locken, die traurig in die Kamera sah. »Paula Maaßen hat ebenfalls Probleme mit ihrem Freund. Sie ist schon die letzten drei oder vier Male nicht mehr gekommen.«
»Also kurz nach Lenas Verschwinden«, stellte Laura stirnrunzelnd fest. Ihr Magen fühlte sich auf einmal an, als hätte sie einen ganzen Felsbrocken verschluckt. »Haben Sie versucht, sie zu erreichen?«
Vehling nickte. »Ja, wie die anderen beiden. Aber Paula geht auch nicht ans Telefon und ruft nicht zurück. Ich habe mir bisher offen gestanden nicht sonderlich viel dabei gedacht. Doch wenn das LKA Berlin in meinem Yogastudio steht, macht es mich ehrlicherweise nervös. Dürfte ich erfahren, was passiert ist?«
»Wir dürfen leider keine weiteren Auskünfte geben. Ich brauche dringend die Adressen aller Frauen dieser Gruppe. Wir melden uns sicherlich bald wieder bei Ihnen.« Laura wich Nils Vehlings bohrenden Blicken aus. Er schien sich nicht für lokale Nachrichten zu interessieren, sonst hätte er aus dem Artikel von Jonas Winkelmann seine Schlüsse ziehen können. Vielleicht wusste Vehling aber auch ganz genau Bescheid. Es war schon merkwürdig, dass zwei der Opfer ein und denselben Kurs besucht hatten. Falls diese Paula ebenfalls zu den Opfern gehörte, wären es bereits drei. Außerdem schien er ein merkwürdiges Verhältnis zu Schmerzen und Gewalt zu haben. Sein Äußeres könnte durchaus zu dem Täter passen, den sie auf den Videos gesehen hatten.
Sie verabschiedeten sich und Laura musterte Vehling ein letztes Mal.