A
uf dem Weg zurück ins Revier klingelte Lauras Handy. Simon rief an.
»Ich habe Lena Reimanns Passwort endlich geknackt.« Die Freude am anderen Ende der Leitung war hörbar. »Und jetzt rate mal, mit wem Lena Reimann am Tag ihres Verschwindens verabredet war.«
Laura schwirrten sofort zwei Namen im Kopf. Erik Krüger und Nils Vehling. Sie tippte auf Letzteren, denn zu Erik Krüger fiel ihr auf Anhieb keine Verbindung ein, jedenfalls keine regelmäßige.
»Vehling«, platzte Simon heraus, noch bevor Laura zu Ende gedacht hatte. »Lena Reimann hatte Streit mit ihrem Freund und wollte Vehling nach ihrem Krankenhausaufenthalt aufsuchen. Er wusste also, dass sie dort ist. Ich habe mir seine Fotos auf der Homepage noch einmal angesehen. Ich kann es nicht hundertprozentig sagen, aber er könnte von Körpergröße und Statur her der Täter sein. Ich weiß, eine definitive Aussage wäre dir lieber, doch das kriegen wir bei den schlechten Nachtaufnahmen, die wir vom Täter haben, leider nicht hin.«
Laura seufzte. »Lass mich raten, die Lebensgefährten von Lena Reimann und Eva Hengstenberg könnten ebenfalls passen.«
»Du kannst wohl Gedanken lesen«, entgegnete Simon. »Das wollte ich gerade anfügen. Sorry, aber der Typ auf der Aufnahme ist, was Größe und Statur angeht, ein absoluter Durchschnittsmann. Davon laufen Millionen in Deutschland rum. Ich habe blöderweise auch gleich die nächste schlechte Nachricht. Ich habe mit meiner Gesichtserkennungssoftware das Netz nach der Toten vom Supermarktparkplatz durchforstet. Leider hat es nichts gebracht. Wir wissen immer noch nicht, um wen es sich handelt.«
Laura war für einen Moment sprachlos. Dann fiel ihr etwas ein.
»Kannst du mir einen Gefallen tun und nach einer Paula Maaßen suchen? Ich schicke dir ein Foto. Es ist die Frau mit langen dunklen Locken ganz rechts. Wir müssen herausfinden, ob sie vermisst wird.«
Dieser Fall war wie verhext. Die Zahl der Vermissten und Toten wurde ständig größer. Und trotz all der Stunden harter Arbeit standen sie ohne konkrete Anhaltspunkte da. Zwei Tote und drei Vermisste. Wo sollte das bloß enden? Der Täter hatte offenbar längere Zeit unentdeckt agiert und besaß dadurch einen wahnsinnigen Vorsprung.
»Klar, ich kümmere mich drum«, erwiderte Simon. »Ich rufe natürlich auch an, weil ich zumindest eine positive Nachricht habe.«
Laura saß sofort senkrecht auf dem Beifahrersitz. Was Simon sagte, konnte sie kaum glauben.
»Eine der vermissten Frauen ist wieder aufgetaucht.«
Laura hielt gespannt den Atem an.
»Welche?«, platzte es aus ihr heraus, als sie es nicht mehr aushielt. Sie stellte das Handy auf laut.
Max trat auf die Bremse und lenkte den Dienstwagen an den Straßenrand in eine Parklücke.
»Sabrina Habich, die Frau, deren Ausweis Erik Krüger dem Journalisten verkaufen wollte«, antwortete Simon. »Ich habe ihr Passfoto durch die Gesichtserkennung laufen lassen und bin dabei auf ihr Facebookprofil gestoßen. Gestern hat sie bei einer Freundin einen Kommentar hinterlassen. Haltet euch fest.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Die Frau hat einen Selbstmordversuch hinter sich und wurde deshalb in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Sie war die letzten zwei Wochen weggesperrt. Kein Internet, keine Posts, kein Handy.«
Niemand sprach für eine Weile. Laura atmete erleichtert durch. Sabrina Habich befand sich also in Sicherheit. Das war eine gute Nachricht. Doch was genau bedeutete das für die Liste der Verdächtigen? Mussten sie Erik Krüger jetzt streichen oder legte dieser Mann seine Finten so geschickt, dass er ihnen absichtlich diesen Ausweis zugespielt hatte?
»Wer hat Sabrina Habich eingewiesen?«, wollte Laura wissen.
»Eine alte Bekannte«, erwiderte Simon. »Doktor Christine Gebauer.«
»Was?« Plötzlich erinnerte Laura sich an Krügers Worte. Er hatte dem Journalisten berichtet, dass der Rettungsdienst Sabrina Habich aus einem Frauenhaus abgeholt hatte. Natürlich wurde sie von dort aus ins Krankenhaus transportiert, und vermutlich hatte Dr. Gebauer mal wieder Dienst in der Notaufnahme gehabt.
»Das heißt, sie ist danach vom Krankenhaus direkt in die Psychiatrie gekommen?«
»Genauso sieht es aus«, bestätigte Simon.
Laura bedankte sich und legte auf. Max steuerte den Wagen in die Tiefgarage. Als sie an ihrem Büro ankamen, wartete Peter Meyer vom Rechercheteam bereits auf sie.
»Wir haben die Überprüfung des Zyankaliverkaufs der Apotheken wie besprochen auf sechs Monate erweitert«, verkündete er aufgeregt.
»Es gibt Unregelmäßigkeiten. Laut unseren Berechnungen wurde einem Juwelier so viel von der Substanz verkauft, dass er damit die nächsten Jahre Schmuckstücke reinigen könnte. Ich habe mit dem Apotheker telefoniert, doch er will den Namen des Juweliers am Telefon nicht nennen. Er ist schon etwas älter und hält mich für einen Betrüger. Ohne persönliches Treffen mit Vorzeigen des Dienstausweises geht da gar nichts.« Peter Meyer stöhnte entnervt. »Und da ist noch etwas Wichtiges. Ausgerechnet für diese Apotheke arbeitet Milan Zapke als Servicefahrer. Soll ich vorbeifahren?«
»Danke, brauchen Sie nicht«, entgegnete Laura, bei der sofort sämtliche Alarmglocken angesprungen waren: Milan Zapke, der Lebensgefährte der ermordeten Lena Reimann! »Wir übernehmen das. Hat eigentlich die Befragung von Zapke irgendwelche Erkenntnisse geliefert?«
»Er hat für den Abend, an dem Lena Reimann verschwand, kein Alibi«, erklärte Peter Meyer.
»Das ist ja interessant.« Laura ließ sich die Adresse der Apotheke geben und bedankte sich bei Peter Meyer.
Als sie wieder im Dienstwagen saßen, pfiff Max durch die Zähne. »Immer im Umfeld der Opfer suchen«, sagte er und sah Laura an. »Ich glaube, jetzt verfolgen wir langsam eine richtig heiße Spur.« Er startete den Motor und navigierte aus der Tiefgarage.
Die Apotheke lag in einer ruhigen Seitenstraße am Fuße eines größeren Wohnblocks. Ein paar Fahrräder standen davor. Eine Mutter mit Kinderwagen ging vorbei, ohne ihren Wagen zu beachten. Sie hielt ein Handy ans Ohr gepresst und redete ununterbrochen. Max wartete, bis sie endlich den Kinderwagen vorbeigeschoben hatte, und öffnete die Tür.
Als sie die Apotheke betraten, klingelte die Glocke über der Tür. Ein untersetzter Mann mit schütterem grauen Haar blickte auf. Er schob die ränderlose Brille den Nasenrücken hinauf und lächelte.
»Wie kann ich den Herrschaften helfen?«
»Wir sind vom Landeskriminalamt Berlin und haben ein paar Fragen an Sie«, erklärte Laura, wurde jedoch barsch von dem Apotheker unterbrochen.
»Ich falle nicht auf Sie herein.« Mit beiden Händen wedelte er vor ihrer Nase herum. »Eben noch hat mich ein Mann angerufen. Denken Sie, ich bin senil?« Er nahm den Hörer eines Telefons in die Hand. »Ich rufe die Polizei, wenn Sie nicht bei drei aus meiner Apotheke verschwunden sind.«
Laura fehlten die Worte. Verdattert sah sie zu Max, der neben sie trat und seinen Dienstausweis auf den Tresen legte.
»Ich war es, der vorhin mit Ihnen telefoniert hat«, behauptete er, ohne rot zu werden, und nickte kurz in Lauras Richtung. »Das ist meine Kollegin Laura Kern. Keine Sorge, wir sind echt. Schauen Sie sich in Ruhe den Ausweis an, und notfalls können Sie sich unsere Identität bestätigen lassen, indem Sie die Nummer auf der Rückseite wählen. Die steht auch ganz offiziell im Telefonbuch.«
Der Alte ließ den Hörer sinken und beäugte misstrauisch den Dienstausweis.
»Max Hartung?«, murmelte er und musterte Max kritisch. Er hielt den Ausweis gegen das Licht, als wenn er dadurch die Echtheit feststellen könnte. Schließlich schaute er wieder zu Laura.
»Und Sie? Können Sie sich ausweisen?«, fragte er und hielt Max’ Ausweis weiter fest.
Laura nickte knapp und legte ihren Dienstausweis vor ihn hin. Der Apotheker warf einen prüfenden Blick darauf und drehte ihn zur Sicherheit um.
»Sieht echt aus«, bemerkte er nach einer Weile und schob ihnen die Ausweise über den Tresen hin. »Nun gut, meine Herrschaften, wie kann ich Ihnen denn behilflich sein?«
»Wir haben da ein paar Fragen zum Verkauf von Zyankali in den letzten sechs Monaten. Sie haben vor zehn Wochen eine besonders große Menge an einen Juwelier abgegeben. Ist das richtig?«
Der Apotheker wandte den Blick für einen Moment nach hinten. »Ich denke, das stimmt, aber lassen Sie mich zur Sicherheit nachschauen. Mein Neffe sammelt die Bestellungen. Warten Sie bitte einen Augenblick.« Der Apotheker verschwand in dem Hinterzimmer, aus dem er bei ihrer Ankunft gekommen war. Es dauerte eine ganze Weile, bis er endlich wieder erschien. Er hielt ein dickes Buch in der Hand.
»So, ich habe eine Lieferung an den Juwelier Göpke gefunden. Sie haben recht, die Menge ist hoch, aber wir beliefern natürlich jeden Kunden, der zum Bezug von Zyankali berechtigt ist. Wir arbeiten mit Juwelier Göpke schon seit über zehn Jahren zusammen. Vielleicht musste er einen großen Auftrag bearbeiten. Ich glaube jedenfalls nicht, dass da etwas nicht stimmt.« Der Apotheker zeigte Max den Eintrag.
»Welche Kunden kaufen denn sonst noch Zyankali bei Ihnen?« Laura versuchte, einen Blick auf den Eintrag zu werfen.
Der Apotheker nahm das Buch wieder an sich und blätterte. »Im letzten Jahr war es ausschließlich Juwelier Göpke. Wir beziehen es vom Großhandel und geben es im Grunde genommen nur weiter.«
»Und die Bestellungen bearbeitet Ihr Neffe?«, fragte Max. »Hat der sich denn nicht über die große Menge gewundert? Es ist dreimal so viel wie noch vor sechs Monaten.«
Die Glocke über der Tür läutete. Laura fuhr herum. Ein Mann trat ein und brummte einen knappen Gruß.
»Oh, gut, dass du da bist, Samuel. Die Herrschaften sind vom LKA und erkundigen sich nach Göpke. Der hat vor zehn Wochen eine große Menge Zyankali bestellt. Erinnerst du dich?«
»LKA?«, sagte der Mann und runzelte die Stirn. »Ich habe Ihnen schon vor ein paar Tagen die Information über die Zyankaliverkäufe geschickt.«
»Das ist richtig«, erwiderte Laura und stellte sich und Max vor, bevor sie erklärte: »Wir überprüfen derzeit sämtliche Apotheken im Umfeld und da sind wir auf besagte Bestellung dieses Juweliers gestoßen.«
»Samuel Maschke, mein Name«, sagte der Neffe des Apothekers und lächelte freundlich. »Ich erinnere mich an die Bestellung. Ernst Göpke musste einen Großauftrag bearbeiten. Er war sehr erpicht darauf, dass wir ihm das Mittel pünktlich beschaffen, damit er mit der Reinigung des Schmuckes beginnen kann. Ich kann Ihnen seine Kontaktdaten geben, wenn Sie möchten.«
»Gerne«, sagte Laura. »Prüfen Sie die Mengen eigentlich nicht?«
Samuel Maschke zuckte mit der Schulter und schrieb die Adresse auf einen Zettel. »Solange sich die Mengen im handelsüblichen Rahmen bewegen, normalerweise nicht. Wir beliefern Ernst Göpke recht regelmäßig. Bisher gab es nie Schwierigkeiten und Herr Göpke ist seit Jahren Kunde bei uns.«
»Haben Sie noch andere Mitarbeiter?«, fragte Laura weiter.
»Natürlich. Zwei Kolleginnen unterstützen uns im Verkauf, wobei Frau Koch heute krank ist. Und dann haben wir noch ein paar Fahrer, die auf Wunsch nach Hause ausliefern und auch ab und zu das Krankenhaus mit Medikamenten versorgen. Wir teilen uns die Fahrer je nach Aufwand mit der Krankenhausapotheke.«
»Gehört Milan Zapke dazu?«, fragte Laura, und Samuel Maschke zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe.
»Richtig. Sie kennen ihn?«
Laura ging nicht direkt auf seine Frage ein. »Hat er das Zyankali an den Juwelier ausgeliefert?«
Samuel Maschke nickte.
Sein Onkel lehnte sich über den Tresen. »Das ist ein äußerst zuverlässiger Mitarbeiter. Und freundlich noch obendrauf. Er hat doch nichts ausgeheckt?«
»Seine Lebensgefährtin wurde ermordet. Hat er Ihnen das nicht erzählt?«, Max mischte sich in das Gespräch ein.
Samuel Maschke wurde eine Spur blasser.
Sein Onkel riss entsetzt den Mund auf.
»Ermordet?«, nuschelte der alte Apotheker aufgelöst und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Nun verstehe ich auch, warum der Zapke in den letzten Tagen so durcheinander war. Er hat plötzlich alles verwechselt, die Lieferungen zu den falschen Leuten gebracht. Wir hatten eine Menge Beschwerden. Das hätte er mir doch erzählen können.« Der Apotheker schüttelte den Kopf. »Der Arme. Vor ein paar Minuten habe ich ihm noch eine Standpauke gehalten, weil er Frau Krauses Bluthochdruckmedikamente vergessen hatte. Sie braucht die Tabletten dringend. Jetzt tut mir das außerordentlich leid.«
»Jeder reagiert anders auf einen extremen Schicksalsschlag«, sagte Laura. »Vielleicht kann er einfach noch nicht darüber sprechen.« Sie machte eine Pause und wartete, bis sich die beiden Apotheker wieder ein wenig gefasst hatten. »Können Sie uns die Lieferdokumente bitte aushändigen? Wir wollen nur prüfen, ob die gesamte Menge Zyankali bei dem Juwelier eingegangen ist.«
»Natürlich«, entgegnete Samuel Maschke und verschwand im Hinterzimmer. Kurz darauf erschien er mit ein paar Kopien in der Hand. »Hier, bitte schön. Das ist der Lieferschein und hier finden Sie die Unterschrift des Juweliers. Ich kann sie leider nicht entziffern. Vielleicht hat das ein Angestellter unterschrieben.«
Laura nahm die Blätter entgegen. Die Unterschrift war nicht mehr als ein Kringel. Jeder konnte das unterzeichnet haben.
»Ich danke Ihnen. Es ist gut möglich, dass wir uns in Kürze noch einmal wegen weiterer Fragen bei Ihnen melden.«
Sie ließen die beiden schockierten Männer zurück und machten sich auf den Weg zum Juwelier Ernst Göpke, dessen Laden nur knappe zwei Kilometer entfernt lag.
»Ich finde es sehr merkwürdig, dass Milan Zapke seinen Arbeitgeber nicht informiert hat«, murmelte Max und startete den Motor.
Laura stimmte ihm zu. »Vor allem hätte dem Apotheker sein Fehlen auffallen müssen. Er war ja auch mindestens eine Stunde bei unseren Kollegen im LKA zum Verhör.«
Max lachte auf. »Hast du dir diesen verrückten Alten angesehen? Ich glaube, der hat keinen Plan. Außerdem scheint Zapke nur in Teilzeit für diese Apotheke zu arbeiten. Am besten hören wir uns mal in dieser Krankenhausapotheke um. Soweit ich mich erinnere, gab es dort zwar in letzter Zeit keine Bestellungen von Zyankali, aber vielleicht stoßen wir auf andere Ungereimtheiten.«
»Das machen wir«, erwiderte Laura grübelnd und blickte auf die Uhr. »Wir sollten Zapke gleich nach dem Juwelier einen Besuch abstatten.«