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ilan Zapke und Lena Reimann waren vor gut einem Jahr zusammengezogen. Von diesem Zeitpunkt an hatte er seine Freundin komplett kontrollieren können. Das Mietshaus war in die Jahre gekommen und die alten Holzstufen im Treppenhaus knarrten bei jedem Schritt. Offenbar hörte Zapke sie kommen, denn noch bevor sie die Hälfte der Treppe zu seiner Wohnung im zweiten Stock erreicht hatten, öffnete er die Tür und schaute ihnen entgegen.
Laura, die Zapke bisher nur auf dem Passfoto gesehen hatte, erkannte ihn sofort. Die Narbe auf der linken Wange war in der Realität wesentlich tiefer. Dafür wirkte Zapke trotz seiner Blässe und der dunklen Schatten unter den Augen viel freundlicher als auf dem Foto.
»Wollen Sie zu mir?«, fragte er und kam einen Schritt auf sie zu.
Laura nickte und stellte sich vor. »Woher wussten Sie, dass wir zu Ihnen wollen?«
»War nur so ein Bauchgefühl«, entgegnete er und deutete auf einen Bewegungsmelder mit Kamera, der im Treppenhaus hinter ihnen angebracht war.
»Stimmt also nicht ganz. Wenn jemand an der Wohnung vorbeigeht, schlägt mein Handy Alarm, und ich bin ein neugieriger Mensch. Kommen Sie herein.« Er führte sie ins Wohnzimmer.
Laura blickte sich flüchtig um und stellte fest, dass der Raum extrem aufgeräumt schien. Es lag fast nichts herum. Die Bücher waren ordentlich ins Regal sortiert. Der leere Wohnzimmertisch wies keinerlei Staubkörnchen auf. Laura sah weder Geschirr noch herumstehende Schuhe oder Zeitungen. Die Couch und die Sessel zeigten nicht einen einzigen Flecken. Unwillkürlich fragte sie sich, wo Lena Reimanns Sachen waren. Nichts in diesem Zimmer erinnerte an sie. Allerdings fanden sich anscheinend auch keine persönlichen Dinge von Zapke in dem Raum.
»Nehmen Sie Platz, wo Sie möchten«, sagte Milan Zapke und verdrehte die Augen, denn sein Handy fing an zu piepen. Er zog es aus der Hosentasche und entsperrte den Bildschirm.
Laura, die noch neben ihm stand, konnte das Treppenhaus darauf erkennen. Eine ältere Dame schlich die Stufen mit einer Einkaufstüte in den Armen hinauf.
»Das ist Frau Kohlmeier«, murmelte Zapke und seufzte traurig. »Wie Sie sehen, entgeht mir fast nichts, außer dieses eine Mal mit Lena.«
Er wartete, bis Laura und Max sich auf die Couch gesetzt hatten, und nahm in einem Sessel gegenüber Platz.
»Ihre Kollegen haben sich hier ja bereits umgesehen und mich mit Fragen gelöchert. Sie waren anscheinend nicht begeistert darüber, dass ich an dem Abend alleine war.« Er schüttelte den Kopf und rollte mit den Augen. »Lena ist genau an diesem Abend verschwunden. Ich war also zwangsläufig alleine. Dasselbe gilt natürlich auch für den Abend, an dem sie tot aufgefunden wurde. Bin ich jetzt der Hauptverdächtige? Es ist doch meistens der Ehemann oder Freund, richtig?«
»Sie kennen sich ja aus«, stellte Laura ruhig fest und schaute Zapke tief in die Augen. Er wirkte zwar traurig, trotzdem erschien er ihr eine Spur zu aufmüpfig. »Routinemäßig werden bei jedem Verbrechen die Menschen aus dem direkten Umfeld genauer befragt. Sie sind natürlich nicht immer Täter, aber zumeist hilfreiche Zeugen. Sie wissen viel mehr über die Lebensumstände einer nahestehenden Person, als es der Polizei oder dem LKA je möglich wäre zu erfahren. Dieses Wissen bringt uns oft auf die richtige Fährte.«
Milan Zapke zupfte an seinem T-Shirt und scheuchte eine Fliege fort. »Wie gesagt, ich habe am Abend von Lenas Verschwinden leider nichts mitbekommen. Sie ist gestürzt und daraufhin ins Krankenhaus gefahren. Als sie um zweiundzwanzig Uhr immer noch nicht zurück war, habe ich nach ihr gesucht. Die ganze Nacht. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.« Er sprach nicht weiter. Alle wussten, was mit Lena Reimann geschehen war. Auch, dass sie keinesfalls gestürzt, sondern vermutlich von ihm misshandelt worden war. Immerhin verfärbte sich sein Halsansatz rötlich. Trotzdem, von einer tiefen Trauer um den Verlust seiner Lebensgefährtin konnte Laura nicht viel spüren. Es schien fast so, als redeten sie über einen wildfremden Menschen und nicht von der Frau, mit der Zapke eine intime Beziehung unterhalten hatte.
Zapke klatschte sich auf die Oberschenkel. »Also, was wollen Sie denn noch wissen?«
Laura legte ihm das Gruppenfoto des Yogakurses vor. »Können Sie uns sagen, ob Sie außer Lena jemanden erkennen?«
Zapke nahm das Foto in die Hände und betrachtete es eingehend. »Eva und Paula waren schon mal hier. Ich kenne sie flüchtig. Die anderen habe ich hie und da gesehen, wenn ich Lena vom Kurs abgeholt oder hingebracht habe.«
»Besitzen Sie zufällig die Telefonnummern von Eva Hengstenberg und Paula Maaßen?«, fragte Max dazwischen, doch Milan Zapke schüttelte sofort den Kopf.
»Nein, wie gesagt, ich selbst hatte mit denen nichts zu tun. Es waren Bekannte von Lena. Diese Besuche liegen locker ein Jahr zurück.« Er rieb sich das Kinn und fügte hinzu: »Lena ging nicht so gerne raus.«
»Die Obduktion und unsere bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass Lena häuslicher Gewalt ausgesetzt war. Was sagen Sie dazu?« Laura übernahm das Ruder gleich wieder.
Milan Zapke zeigte keine Regung. »Was soll das denn heißen? Ich habe vielleicht ein paarmal zugelangt, aber auch nur, weil Lena sich störrisch wie ein Teenager angestellt hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie hatte ihren Spaß daran.« Er grinste Laura an und zog obszön die Augenbrauen in die Höhe.
»Das ist eine Straftat«, gab Laura unterkühlt zurück. »Sie haben kein Recht, andere zu schlagen. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren! Die Sache wird ein Verfahren wegen Körperverletzung nach sich ziehen.«
»Hätte Lena auf mich gehört, wäre sie nie wegen der drei blauen Flecke ins Krankenhaus gegangen. Dann würde sie jetzt hier auf der Couch sitzen und wäre noch am Leben. Also erzählen Sie mir nicht, dass Sie wüssten, wie der Hase läuft.« Langsam zeigte Milan Zapke sein wahres Gesicht.
Laura verzichtete darauf, ihn weiter zu provozieren. Obwohl klar war, dass erst seine Schläge überhaupt dazu geführt hatten, dass Lena Reimann ärztlicher Behandlung bedurfte. Sie warf Max einen Blick zu, damit er die Befragung übernahm.
»Warum haben Sie Lena nicht ins Krankenhaus begleitet?«, fragte Max ohne Umwege.
»Sie ist aus der Wohnung geflüchtet und außerdem hatte ich zu tun. Ich konnte sie ehrlich gesagt auch nicht länger ertragen. Im Nachhinein war das natürlich Mist.«
»Worüber haben Sie sich denn gestritten? Sie waren offenbar sehr verärgert.«
Max’ ruhige, tiefe Stimme schien Milan Zapke einzulullen. Er lehnte sich im Sessel zurück und fokussierte sich auf ihn.
»Wir wollten heiraten. Aber sie wollte unbedingt auch noch ein Balg dazu. Ich hab die Pille besorgt und genau kontrolliert, dass Lena sie regelmäßig nimmt.« Er ballte die Fäuste. »Sie hat sich nicht daran gehalten und versucht, die Tabletten heimlich zu entsorgen. Soll ich mir so eine Last anhängen lassen? Sie war Kindergärtnerin und sowieso den ganzen Tag von diesen kleinen, rotzenden Biestern umgeben. Wieso musste es unbedingt noch ein eigenes sein?« Wieder rollte er mit den Augen. Er glaubte, in Max einen Befürworter seiner Weltsicht gefunden zu haben.
Max lächelte verkrampft, schließlich war er ein absoluter Familienmensch.
»Ich habe ihr jedenfalls klargemacht, dass ich mich nicht hintergehen lasse.«
»Okay«, sagte Max und blätterte in seinem Notizbuch. »Was war in der Nacht, in der Lena tot aufgefunden wurde? Sie haben den Kollegen erzählt, dass Sie hier in Ihrer Wohnung waren. Ist das korrekt?«
Zapke nickte. Laura merkte Max die Anstrengung an. Er hatte vermutlich ebenso große Mühe, sich zu beherrschen, wie sie. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen solchen Menschen getroffen zu haben. Einen, dessen Weltbild offenbar aus dem Mittelalter stammte und der glaubte, über dem anderen Geschlecht zu stehen. Sie betrachtete Milan Zapke und fragte sich, ob der Streit um ein Kind ein Mordmotiv sein könnte. Doch laut Obduktion war Lena Reimann nicht schwanger gewesen. Er hätte also keinen Grund gehabt, seine Freundin deswegen umzubringen. Und was für ein Motiv könnte jemand wie Zapke haben, um Eva Hengstenberg zu entführen? Auf Anhieb kamen ihr Stichworte wie Macht, Dominanz und Sadismus in den Sinn. Zapke hatte eben zugegeben, dass er Lena immer dann schlug, wenn sie ihm nicht gehorchte. Ob er diesen Gehorsam auch mit einem Hammer erzwingen würde? Sie blickte in Zapkes blaue Augen und fühlte sich unangenehm an ihren eigenen Entführer erinnert. Sie sah dort nichts. Keine Wut, aber auch keine Wärme. Milan Zapke konnte seine Gefühle anscheinend gut verstecken. Eine Eigenschaft, die viele organisierte Serientäter aufwiesen.
»Seit Lena weg ist, bin ich immer alleine. Das ist doch klar«, erklärte Zapke ohne eine Spur von Trauer.
»Ich wünschte, es wäre anders«, fügte er seufzend hinzu, aber Laura kaufte ihm diesen Gefühlsausbruch nicht ab.
Max pochte mit dem Kugelschreiber auf seinen Notizen herum und erhob sich. »Ich denke, im Augenblick haben wir keine weiteren Fragen. Vielen Dank, dass Sie sich noch einmal Zeit für uns genommen haben.«
Laura stand ebenfalls auf und ging voraus, durch den schmalen Flur, und wartete an der Wohnungstür, bis Max zu ihr aufgeschlossen hatte. Sie schüttelten Zapke die Hand und stiegen die Treppen hinab. Vor der Haustür bemerkte Laura zwei Einkaufstüten, die an der Seite abgestellt waren.
»Die gehören doch bestimmt zu dieser älteren Dame. Wie hieß sie gleich noch mal?«
»Kohlmann oder Kohlmeier, glaube ich«, sagte Max und ging weiter.
Laura blieb stehen. »Ich bringe die Tüten nach oben, warte kurz auf mich.«
Sie griff nach den Einkäufen und stieg die Treppen wieder hinauf. Sicher bekam Milan Zapke jetzt über den Bewegungsmelder mit, dass sie noch nicht gegangen waren. Warum bloß beschwerte sich keiner der anderen Mieter wegen dieser Kamera? Sie hätte so etwas nicht toleriert.
Frau Kohlmeier wohnte eine Etage oberhalb von Milan Zapke und Lena Reimann. Ihr Name war auf ein kleines goldenes Schild neben der Klingel eingraviert. Laura streckte die Hand aus. Im selben Moment öffnete sich die Tür. Die alte Dame wich erschrocken zurück.
»Ich habe Ihre Einkaufstüten nach oben gebracht«, sagte Laura freundlich.
Es dauerte zwei, drei Sekunden, dann entspannten sich Frau Kohlmeiers Gesichtszüge.
»Das ist aber nett von Ihnen.« Sie lächelte und winkte Laura herein. »Wenn Sie die Tüten in der Küche abstellen könnten. Sie sind so schwer und mein Herz macht in letzter Zeit nicht mehr richtig mit. Ich trage sie mittlerweile einzeln herauf. Wir haben leider keinen Aufzug, sonst könnte ich den Rollator bis zur Wohnung benutzen.«
»Gerne«, erwiderte Laura und schlängelte sich an der Alten vorbei bis zur Küche.
Frau Kohlmeier watschelte aufgeregt hinter ihr her und fragte: »Sind Sie denn neu hier im Haus? Ich habe Sie noch nie gesehen. Entschuldigen Sie, dass ich so misstrauisch bin, aber man hört ja immer wieder von diesen Betrügern, die es auf alte Leute abgesehen haben.«
»Keine Sorge«, erwiderte Laura. »Ich bin von der Polizei. Sie sind also vollkommen sicher.«
»Von der Polizei?« Frau Kohlmeier schlug die Hände vor den Mund. »Dann sind Sie wegen der armen Lena hier?«
Laura nickte und stellte die Einkaufstüten auf einem Tisch neben dem Kühlschrank ab. Dabei fiel ihr Blick auf einen Notizblock, dessen oberstes Blatt fein säuberlich beschrieben war.
»Ich hab es immer gewusst«, sprach Frau Kohlmeier weiter. »Wissen Sie, das arme Ding hatte es nicht leicht. Sie war eine so nette Frau. Hat ab und an mit mir Kaffee getrunken und mir von ihrer Arbeit im Kindergarten erzählt. Hätte ich bloß mehr auf sie eingeredet. Jeder konnte doch die blauen Flecke auf ihren Armen sehen. Leider hat sie vehement abgestritten, dass der Zapke sie schlägt. Einmal hab ich ihr sogar angeboten, zur Polizei zu gehen. Aber sie wollte das nicht. Sie hat ihm immer wieder geglaubt, dass er sich bessern würde. Und nun? Nun ist sie tot.« Frau Kohlmeier schniefte und schüttelte traurig den Kopf. »Werfen Sie ihn jetzt endlich ins Gefängnis?«
»Wir ermitteln momentan in alle Richtungen. Haben Sie denn mal mitbekommen, dass er Lena Reimann gedroht hat, sie umzubringen?« Laura starrte unauffällig auf den Notizblock.
Die Alte winkte ab. »Dieser Zapke hat ihr alles Mögliche an den Kopf geworfen. Ständig hat er ihr unterstellt, sie würde ihn hintergehen. Anfangs hatte er einen ihrer Kollegen aus dem Kindergarten in Verdacht. Er hat Lena besucht, weil sie ein Kindergartenfest planen wollten. Danach gab es einen furchtbar lauten Streit. In letzter Zeit ging es eigentlich fast nur um den Nachwuchs. Lena hat sich so sehr ein Kind gewünscht. Aber Zapke wollte nicht. Wie alle Männer seiner Sorte. Ich kann Ihnen sagen …«
Laura hörte nur noch mit halbem Ohr hin, denn plötzlich begriff sie, was Frau Kohlmeier auf ihrem Notizblock notiert hatte.
»Schreiben Sie immer auf, wann wer das Haus verlässt?« Laura zeigte auf den Notizblock.
Die Alte runzelte die Stirn und beugte sich über ihre Notizen.
»Ich habe viel Zeit und schaue viel aus dem Fenster, wenn ich nicht gerade einkaufe oder einen Spaziergang mache. Ist das nicht erlaubt?« Frau Kohlmeier sah sie ängstlich an.
»Doch, doch. Dürfte ich einmal nachschauen, ob Sie auch am Abend von Lenas Verschwinden etwas notiert haben?«
Frau Kohlmeier fand ihr Lächeln wieder. »Ich habe mir genau aufgeschrieben, wann die beiden das Haus verlassen haben. Warten Sie.« Die alte Frau blätterte eifrig zurück. »Sie haben sich erst lauthals gestritten, und dann hat Lena die Tür zugeknallt und ist auf die Straße gerannt. Eine Minute später rannte dieser Zapke ihr hinterher. Er hat sie ins Auto gezerrt. Schauen Sie, er parkt immer dort vorne unter der Linde.«
Frau Kohlmeier fuhr zittrig über die Zeile. »Eine Stunde später kam er zurück. Ohne Lena.«